Was für die Amerikaner einst der Flug zum Mond war, soll für Europa der „Green Deal“ werden, das ehrgeizige Umweltpaket der Europäischen Union zum Schutz des Weltklimas. Ursula von der Leyen, die frischgebackene Präsidentin der EU-Kommission, will mit einer Reihe von Maßnahmen Europa bis zum Jahr 2050 klimaneutral machen und damit gleichzeitig ein gigantisches Wirtschaftsförderungsprogramm initiieren.

Bei Harald Neidhardt kam die Rede sehr gut an. Der Kurator des Futur/io Instituts in Hamburg fordert selbst „Moonshots for Europe“ – um den technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Und um die Welt zu verbessern. Er sagt: „Disruptive Technologien, hyperglobalisierte Märkte und der Klimawandel – die Herausforderungen unserer Zeit – fordern eine Mentalitätsänderung in den Führungsriegen europäischer Unternehmen“. Und nicht nur dort. Im Gespräch mit EDISON plädiert er dafür, wieder groß zu denken und den Pioniergeist früherer Zeiten wieder zu erwecken.

Herr Neidhardt, Deutschland war früher ein Land der Erfinder. Heute scheint es eher ein Land der Bedenkenträger zu sein. Wir bremsen Innovationen aus Angst vor Veränderungen und stehen neuen Technologien zunächst einmal skeptisch bis ablehnend gegenüber – siehe Gentechnik, KI, auch Elektromobilität. Wie erklären Sie sich diesen mentalen Wandel?

Das ist wirklich schwer zu sagen. Sind wir zu satt geworden? Mutlos? Sind die Unternehmer einem apolitischen “Weiter-so” erlegen? Es gibt ja nach wie vor Innovationen und Veränderung, aber man hat wirklich das Gefühl, dass Deutschland Angst vor der eigenen Courage hat. Es gibt meines Erachtens einen großen Investitionsstau, insbesondere bei der Infrastruktur der digitalen Vernetzung und der Bildung. Auch die digitale Transformation ist für mich eher Innovationsstau, ein Versäumnis der letzten zehn Jahre. Politiker glauben nicht, dass man an der letzten Milchkanne eine vernünftige Netzabdeckung braucht, und das Dilemma scheint sich bis in den Mittelstand hineinzuziehen. Insbesondere ist es ja nicht nur die Technologiefeindlichkeit. Eine Vielzahl von neuen Geschäftsmodellen geht gleichzeitig mit Veränderung im Konsumverhalten einher. Auch da verpassen wir einiges.  Viele Teile in der deutschen Wirtschaft haben den „Sense of Urgency“ noch nicht wahrgenommen.

Man hat das Gefühl, dass Deutschland Angst vor der eigenen Courage hat.“

Harald Neidhardt

Woher rührt die aktuelle Technologiefeindlichkeit? Ist es die Angst vor dem Kontrollverlust? 

Es scheint eher so, dass Deutschland als Land der Ingenieure eher in Hardware und handfester Mechanik gut ist, als die Bedeutung von Software, Apps, Internet 4.0 oder der Vernetzung erkannt zu haben. Ein Tesla ist ein Computer auf Rädern. Viele der deutschen Autos sind aber immer noch das „Heilig’s Blechle“ mit ein bisschen Sensorik. Vielleicht dominiert auch eine Angst vor dem Verlust des Datenschutzes, aber ich denke eher, dass eine Generation zu lange gewartet hat, um die digitale Wirtschaft auch als Chance zu begreifen und die Hidden Champions auch in die nächste Dekade zu führen. Die Chancen wurden schlicht nicht erkannt, nicht genug gefeiert und in Bedenken aufgelöst.

Ursula von der Leyen, die neue Präsidentin der EU-Kommission hat in Ihrer Antrittsrede neue mutige Projekte gefordert, ähnlich dem Flug zum Mond, den US-Präsident J.F. Kennedy initiiert hatte.  Auch Sie fordern große ehrgeizige „Moonshot“-Projekte. Worauf zielen Sie: Auf den Mars oder ebenfalls auf den Klimaschutz?

Wir fordern vor allem erst einmal, den Kompass zu justieren auf die Zukunft der nächsten Dekaden. Wie wollen wir leben? Wird unser Unternehmen auch in zehn oder 20 Jahren noch relevant sein? Sind unsere Produkte und Services nachhaltig und gesellschaftlich wertschätzend entwickelt oder schlachten sie nur Ressourcen aus, verbreiten weiter Plastikmüll und verbrauchen zu viel endliche Rohstoffe ohne faire Bedingungen?

„Unglaubliches Ziel“
Apollo11-Astronaut Buzz Aldrin kurz nach der Landung auf dem Mond im Juni 1969. Foto: Nasa

Der Moonshot von JFK war dem Wettlauf im All gegen die Sowjetunion und dem kalten Krieg geschuldet. Es sollte ein unglaubliches Ziel erreicht werden und die Technologie war dem Ziel untergeordnet – und viele Innovationen mussten ja auch erst erfunden werden. Jetzt müssen wir den globalen Moonshot der UN-Nachhaltigkeitsziele als Herausforderung und Chance annehmen.

Das heißt konkret?

Die Technologiefelder sollten dem Erhalt der Lebensqualität auf unserem Planeten dienen, der des Menschen und der Tierwelt. Die Nachfrage nach nachhaltigen Lösungen für neue Materialien, neue Verfahrenstechniken, neue Abgasfilter und alle Innovationen zur Reduzierung von CO2 Ausstoß wird ein Billionenmarkt. Und die Kosten für Nichtstun werden noch höher, wie Ursula von der Leyen gerade bei der Ankündigung der „Green New Deals für Europa” aufgezeigt hat. Die neuen Fördertöpfe der EU und in Deutschland und anderen Ländern zeigen eine große Chance, dass Deutschland als Motor von Europa eine Riesenchance hat, diesen Moonshot auch ernst zu nehmen und in neue Zukunftsmärkte und Arbeitsplätze umwandeln kann. Aber es ist Eile und eine Vernetzung der Akteure mit der Politik geboten – sonst schaffen die politischen Rahmenbedingungen es nicht, eine Wiederholung des Verlustes von Schlüsselindustrien (Solar, Wind, Batterien, KI, Robotik) an China und andere zu verhindern.

Der Klimawandel wird hierzulande in erster Linie als große Bedrohung angesehen statt als Chance für eine Neuorientierung auch für die Wirtschaftft und die Erprobung neuer Technologien. Braucht es da nicht auch eine neue, positivere Denke?

Da bin ich ganz bei Ihnen – der Klimawandel ist ein Konjunkturmotor par excellence. In den nächsten zwei Jahren werden schärfere Gesetze, Auflagen, Strafen und die Kraft der Straße mit „Fridays for Future” und wissenschaftlichen Daten dazu führen, dass Betriebe weltweit sich ihre eigenen Nachhaltigkeitsziele auf die Agenda setzen. Dies schafft eine enorme Nachfrage an neuen Ideen, Innovationen und Verfahren, um die Klimaneutralität eine Realität werden zu lassen. Ich denke, dies wird ein Billionen-Euro-Markt und eines der wichtigsten, globalen Projekte bis 2030.

Große Umbrüche zeichnen sich dabei auch in der Mobilität ab – die Zukunft ist elektrisch, so heißt es. Die Ausgabe des Ziels, bis 2020 eine Million Elektroautos auf die Straße zu bringen, hat bislang wenig bewirkt. Braucht es stärkere Impulse?

E-Mobilität und später wohl Wasserstoff-Autos müssen cool werden. Wie kann es sein, dass keines der Fahrzeuge im Fuhrpark der Ministerien in Berlin den Klimazielen genügt? Wo sind die Vorbilder aus der Gesellschaft, die Intellektuellen und Prominenten?

„E-Mobilität und Wasserstoff-Autos müssen cool werden.“

Harald Neidhardt

Wir müssen uns als Gesellschaft offener auf die neuen Mobilitätsangebote einlassen und gemeinsam an den Zielen der klimaneutralen Städten arbeiten. Hierbei darf man sicher auch nicht die Problematik um die Bestandteile der Batterien, die faire Gewinnung und nachhaltige Entsorgung außer Acht lassen – und muss dazu den Wandel im Konsumverhalten und das Potential von ÖPNV und der Bahn als Verkehrsträger berücksichtigen. Wenn wir mit der vernetzten Denke eines Ökosystems und der Kreislaufwirtschaft an diese Transformation herangehen, dann könnte Deutschland ein Gewinner sein in der globalen Mobilitätswende: Zukunft wird aus Mut gemacht.

Auf welchen anderen Technologiefeldern sollte, müsste sich Deutschland positionieren – als Pionier, nicht als Mit- oder Nachläufer?

Deutschland muss sich zu allererst noch besser in Europa vernetzen. Wir haben hier in unmittelbarer Nachbarschaft einen großen Markt, eine Vielzahl der besten Forschungslabore und Universitäten mit den angesehensten Wissenschaftlern. Wir müssen als ein starker Antrieb in einem Europäischen Ökosystem denken. Wir brauchen „Moonshots für Europa”, also die gemeinsame Anstrengung in großen, mutigen Entwicklungen zu denken, die für unsere offene Gesellschaft und die Sicherung der sozialen Marktwirtschaft wichtig sind. Deshalb haben wir für das Institut „Futur/io“ den Claim „Moonshots for Europe“ gesetzt.

Damit kommen wir zurück zur Frage: An welche Moonshots denken Sie konkret?

Zu den Technologiefeldern mit Pionieranspruch gehört die ethische Entwicklung künstlicher Intelligenz, nachhaltige Agrarwirtschaft, digitale Weiterbildung und aufgeklärter Umgang mit sozialen Netzen, sowie Nano- und Biotechnologie und digitale Gesundheitstechnologie. Dazu gehört vor allem aber auch der geschützte Umgang mit privaten Daten, die mit den richtigen Rahmenbedingungen auch offen, anonym zugänglich sein sollten für Forschung und zur holistischen ärztlichen Betreuung. Der Mensch muss bei allem im Mittelpunkt stehen, und nicht die Jagd nach der schnelleren Pizzalieferung oder die Margen-Eliminierung durch Unicorn-Investoren, die keine nachhaltige Arbeitsmarktentwicklung sondern eher Tagelöhner als Zukunftsbild der Arbeit vor Augen haben.

„Elektromobilität muss cool werden.“
Vollelektrisches Visionsfahrzeug „AI-Trail“ von Audi. Foto: Audi

Angenommen, Sie hätten einen Moonshot frei, dafür unbegrenzte Mittel zur Verfügung, auch die Unterstützung der Weltgemeinschaft. Was würden Sie sofort angehen?  

Den sofortigen Stopp aus den fossilen Brennstoffen und die Entwicklung von Alternativen aus nachhaltiger Energiegewinnung. Wenn wir den Wissenschaftlern zuhören und uns für neue Innovationen jenseits der Lobby entscheiden, dann hätten wir einen sehr wichtigen Schritt zur Zukunftssicherung und Enkelfähigkeit erreicht.

„Wir brauchen Optimisten, Zukunftsbauer und Vordenker, die auch die wünschenswerte Zukunft ermöglichen oder erträumen.“

Harald Neidhardt

Wir müssen die Klimakrise als unseren „Independence Day” angehen – unabhängig werden von Öl, Gas und vor allem Kohle – hin zu erneuerbaren Energien als erste Wahl. Die Politik muss die Bremse ziehen und durch Innovationsförderung ganz neue Forschung und Entwicklung als Chance ermöglichen. Wenn wir in eine wünschenswerte Zukunft für uns und unsere Nachfolgegenerationen investieren wollen, dann ist dies für mich der wichtigste Schritt.

Letzte Frage: Hat ein Futurologe eigentlich Angst vor der Zukunft oder ist er prinzipiell optimistisch? 

Also ein zukunftszugewandter Mensch sollte die Risiken und Chancen abwägen und sich nicht zu schnell von den negativen Schlagzeilen ins Bockshorn jagen lassen. Wir leben am Beginn einer Dekade, die wahrscheinlich eine der wichtigsten für die Menschheit sein kann. Wir brauchen Optimisten, Zukunftsbauer und Vordenker, die auch die wünschenswerte Zukunft ermöglichen oder erträumen. In meinem Institut „Futur/io“ fördern wir diese Denkweisen. Die Vorstellungskraft der Menschen ist unglaublich – inspiriert durch Beispiele in Science Fiction oder im echten Leben und den Laboren, können wir uns eine Welt ermöglichen, die ein besseres Morgen für alle sein kann. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam uns dieses Zielbild nehmen und unsere Träume in Moonshots verwandeln und den ein oder anderen dieser Moonshot-Ideen auch sicher landen und so uns für das menschenmögliche und Schöne im Jetzt und dem Morgen Begeistern.

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1 Kommentar

  1. Franz Neubauer

    Hej, ein gutes Interview mit den richtigen Fragen und den -für mich- Antworten mit Zukunftsperspektiven. „Der Mensch -im Plural- muss im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung sein“. Diese Kernbotschaft bei jedweder Informationsveranstaltung das Intro, der rote Faden und das Outro sein.
    Und alle „Träger“ unserer Gesellschaft -Politik, Gewerkschaften, Verbände, Vereine, NGO‘s….- sollten dieses gemeinsame Ziel (an-)erkennen und transportieren.

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