Er fährt jeden Tag mit dem Fahrrad am Genfer See entlang nach Lausanne. „Bei Wind und Wetter“, sagt Michael Grätzel, Chemieprofessor an der renommierten Schweizer École Polytechnique Fédérale de Lausanne. „Fahrradfahren entspannt und hält fit. Zudem wird man unglaubwürdig, wenn man das ökologische Bewusstsein predigt und dann mit einem Porsche vorfährt“, sagt der 66-Jährige. Der gebürtige Sachse ist in der Fotovoltaik-Szene eine Berühmtheit. Die Erfindung und Entwicklung der sogenannten organischen Farbstoffzelle haben ihn so bekannt gemacht, dass die neuen Solarzellen sogar nach ihm benannt wurden. Die „Grätzelzelle“ oder Farbstoff-Solarzelle, ahmt die Fotosynthese nach, also die pflanzliche Umwandlung von Sonneneinstrahlung in Zucker und damit in Energie. Dieser Prozess ist existenziell für alles Leben jenseits der Einzeller auf diesem Planeten.

Was die Natur bereits vor rund 3,5 Milliarden Jahren erfunden hat, könnte helfen, die weltweit drohende Energiekrise zu lindern. Gerne demonstriert der Chemieprofessor Studenten, wie seine Solarzellen funktionieren. Dazu benötigen sie lediglich den Saft einer Himbeere, einen Spritzer Jodlösung und eine Löffelspitze Zahnpasta. Diese Mischung wird zwischen zwei mit Zinnoxid beschichteten Glasplatten aufgebracht – und schon dreht sich der kleine Ventilator, der an die Versuchsanordnung angeschlossen ist.

Herr Grätzel, 1992, also vor mehr als 25 Jahren, haben Sie die Grätzelzelle zum Patent angemeldet, die im Unterschied zu Siliziumsolarzellen transparent ist. Gibt es inzwischen industrielle Anwendungen?

Wir forschen immer noch an der Weiterentwicklung der Farbstoffsolarzelle, die mittlerweile aber auch schon kommerziell produziert wird. Zum Beispiel bietet die Schweizer Firma H.Glass diese Energieglasmodule seit kurzem in den Farben Blau, Grün und Rot an – die Grünen verkaufen sich besonders gut. H.Glass hat einen neuen chinesischen Investor mit tiefen Taschen gefunden, was mich sehr freut.

Wo werden die bunten Energieglasmodule eingesetzt?

Diese Glasmodule können wunderbar in die Fassade von Hochhäusern integriert werden. Das wäre ja der Traum, dass man alle großen Glasflächen zukünftig mit den Energieglasmodulen ausstattet, wie es jetzt im Science Tower in Graz auf einer Fläche von 1000 Quadratmetern gezeigt wurde. Aber auch eine Nutzung als Lärmschutzwand ist möglich. Gerade wurde an der Autobahn Bern-Zürich eine grüne Schallschutzwand basierend auf Farbstoffsolarzellen fertiggestellt. Die Produktion bei H.Glass wird gerade auf 200.000 Quadradmeter pro Jahr aufgestockt.

Neben diesen großflächigen Glasmodulen – welche Anwendungen gibt es noch?

Auch das schwedische Unternehmen Exeger stellt Solarzellen auf Basis unserer Grätzelzelle her, die auch im diffusen Tageslicht effektiv Strom produzieren können. In diesem Bereich sind die Farbstoffzellen besser als Solarzellen auf Siliziumbasis. Sie erreichen auch unter widrigen Lichtbedingungen einen Wirkungsgrad von bis zu 30 Prozent. Vor allem im IoT-Sektor – also alles was mit dem Internet der Dinge zusammenhängt – sehen die Firmenlenker von Exeger einen großen Absatzmarkt. Sensoren und Elektronik funktionieren dann auch ohne direkten Anschluss ans Stromnetz. Das sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass sich die Farbstoffzellen am Markt durchsetzen. Und nur nebenbei: Die Firma H.Glass fertigt jetzt Farbstoffzellen mit einer Größe von bis zu einem Quadratmeter. Das ist die größte Einzelsolarzelle der Welt.

Vor Jahren gab es noch Probleme mit der Lebensdauer von Farbstoff-Solarzellen. Welche Garantie können die Hersteller heute geben?

Die Probleme haben wir schon vor zehn Jahren in den Griff bekommen. Für die Energie-Glasmodule gewährt H. Glass 20 Jahre Garantie. Wenn die Zellen das nicht schaffen, müssen sie für die Kunden ausgewechselt werden. Aber ich mache mir da wenig Sorgen: Die H.Glass-Module haben viele und jahrelange Tests durchlaufen – die Effizienz ist auch nach Jahren noch stabil.

Können sich auch Privatleute diese stromproduzierenden Energieglasmodule in den Garten setzen?

Ja, es gibt jetzt auch private Käufer. Meine Schwester zum Beispiel hat sich für ihren Wintergarten Farbstoffzellenmodule angeschafft. Das Problem bei ihr war bislang, dass es im Winter dort zu kalt und im Sommer zu heiß war. Energieglasmodule wirken Temperatur ausgleichend, weil das Infrarotlicht der Sonne reflektiert wird. Der produzierte Strom kann im Sommer für elektrische Kühlelemente genutzt werden oder man speist ihn ins Netz ein.

Großflächige Anwendungen finden sich in Fensterfronten beim Pharmahersteller Merck in Darmstadt, beim SwissTech Convention Center in Lausanne oder beim Science Tower in Graz. Diese Fensterfronten, mit „Energieglas“ realisiert, entwickeln einen Wirkungsgrad von vier Prozent. Reicht dieser Wirkungsgrad aus, um sich nachhaltig auf dem Markt durchzusetzen?

Unsere Farbstoffzellen erreichen auch einen höheren Wirkungsgrad von 13 bis 14 Prozent, aber dann lässt die Transparenz, ihre Durchsichtigkeit nach. Das wollen die Architekten aus verständlichen Gründen nicht. Die niedrigeren Wirkungsgrade an Fensterfronten kommen auch dadurch zustande, dass die Zellen nicht im optimalen Winkel zur Sonne stehen. Aber vergessen Sie nicht: Unsere Farbstoffsolarzellen fangen auch Energie von der Rückseite ein – das sind dann immer noch einmal 50 Prozent mehr Energie. Und: Das Infrarotlicht wird reflektiert, das heißt, die Farbstoffzellenmodule wirken auch wärmedämmend. Das zeigt sich auch bei meiner Schwester im Wintergarten – Jalousien reichen dort im Sommer nicht aus. Seit dem Einsatz der Farbstoffzellenmodule kann man sich auch wieder im Sommer in ihrem Wintergarten aufhalten.

Aktuell sorgt die metall-organische Perowskit-Solarzelle für neue Aufbruchstimmung in der Photovoltaik-Szene. Diese neue Solarzelle steigerte ihren Wirkungsgrad in den vergangenen zehn Jahren von gut zwei Prozent auf inzwischen über 20 Prozent. Eine solche Erhöhung hat bei den Silizium-Solarzellen mehr als 50 Jahre gedauert. Wo sehen Sie das Potenzial der Perowskit-Solarzelle?

Hier ist wirklich ein erstaunlicher Durchbruch gelungen. Ich sage immer: Die Farbstoffzelle hat ein Kind bekommen – die Perowskitzelle. Das ist ein neues Segment, das wir auch am EPFL seit Jahren intensiv erforschen. Grundlage der Perowskit-Forschungen war die Farbstoffzelle, die erst gezeigt hat, dass dieser Werkstoff photovoltaische Eigenschaft besitzt. Im Jahr 2012 sind insgesamt vier Forschungsarbeiten zum Thema veröffentlicht worden, im Jahr 2017 waren es bereits 3020 Arbeiten. Das illustriert ein wenig den Forscherboom. Die Perowskitzelle arbeitet heute schon effizienter als die den Markt dominierenden polykristallinen Siliziumzellen, sie entwickelt aktuell einen zertifizierten Wirkungsgrad von 22,7 Prozent. Auch lässt sie sich einfacher und kostengünstiger herstellen. Sie lässt sich sogar wie eine Farbe anstreichen. Ich sehe die Perowskitzelle zukünftig als Tandem mit der Siliziumzelle oder auch als direkte Konkurrenz.

Sie forschen nunmehr seit über 40 Jahren im Bereich Photovoltaik. Was fasziniert Sie so sehr daran?

Die Photosynthese ist neben der Respiration ein Natur-Prozess, ohne die kein Leben vorstellbar wäre. Damals in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war die Photosynthese noch nicht umfassend erforscht. Das hat mich als Chemiestudent fasziniert. Warum nicht die Prozesse der Natur als Vorbild nehmen, um Energie zu produzieren?

Gab es einen Auslöser, der sie bestärkt hat, ihren Weg zu gehen?

Den gab es. Das war die Ölkrise 1973. Bei einem Weihnachtsbesuch bei meinen Eltern musste das Auto in der Garage bleiben – es durften nur Autos mit ungeraden Nummern auf dem Nummernschild auf die Straße. Da wurde mir direkt vor Augen geführt, dass die fossilen Energieträger endlich sind. Das war mein Antrieb, aber ich musste auch kämpfen.

Wofür mussten Sie kämpfen?

In den 80er Jahren sank der Ölpreis auf vier Dollar pro Barrel. Die Situation war furchtbar! Es gab damals einfach kein Geld zu verdienen in der Photovoltaik, darum hatte niemand Interesse. Da saß ich dann als der letzte Mohikaner da, der trotz der niedrigen Energiekosten immer noch Forschung betreiben wollte.

Aber die Siliziumzelle ist doch auch in dieser Zeit weiterentwickelt worden…

…weil sie in der boomenden Raumfahrt der 60er und 70er Jahre benötigt wurde. Das war eine staatliche geförderte Nische, die nichts mit den wirtschaftlichen Bedingungen zu tun hatte, mit denen unsere Forschung zu kämpfen hatte. Die Silizium-Technik war seit den 50er Jahren bekannt, was auch zeigt, wie lange geforscht werden muss, damit am Ende brauchbare Produkte entstehen.

Sie gelten in der Szene als ein Vorreiter für energetische Nachhaltigkeit und leben es vor. Wie sehen Sie – mit dem Blick aus der Schweiz – die deutsche Energiewende?

Wir müssen uns nach neuen erneuerbaren Energiequellen umschauen – daran führt kein Weg vorbei. Auch die Schweizer haben eine Energiewende beschlossen, wenn auch vielleicht eine etwas mildere Form. Das Problem ist die Speicherfähigkeit des Stromnetzes. Dezentralisierung ist in diesem Zusammenhang die wichtige Forderung – jeder sollte, nach seinen Möglichkeiten, auch sein eigener Energieproduzent sein dürfen. Ein einfaches Beispiel dazu: Ich fahre selber ein Hybridauto. Demnächst setze ich mir die Energieglaspanelen in den Garten mit denen ich dann mein Auto aufladen werde.

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