Verrückte Welt: Wer als deutscher Automobilhersteller in der digitalen Zukunft noch irgendwie vorne mitspielen will, muss mittlerweile Wolfsburg, Stuttgart und München schnellstens verlassen und nach Israel pilgern. Genau, in dieses kleine krisengeschüttelte Land im Nahen Osten, das mit 22.000 Quadratkilometern Fläche gerade mal die Größe Hessens besitzt. Dieser Zwerg hat aktuell 93 Firmen im Technologie-Index NASDAQ gelistet – Deutschland kommt gerade mal auf acht. Selbst IT-Größen wie Apple, Cisco, Google und Intel haben hier Entwicklungszentren.

Ein Land, das einen Weltrekord hält – Israel hat die meisten Start-ups pro Einwohner, aktuell sind hier 6000 aktiv, fast alle im High-Tech-Bereich. Und über 600 von ihnen beschäftigen sich im gelobten Land mit IT-Themen, die direkt die Automobilindustrie betreffen. Die smarten Stichworte heißen Simulation, Sensoren, Connectivity, Smart Navigation, Cyber-Sicherheit, Elektro-Mobilität, Big Data und so weiter.

„Ich bin beeindruckt von den großartigen Technologie-Innovationen auf dem israelischen Markt“, sagt Peter Harris, Chief Customer Officer des Volkswagen-Konzerns, der hier im Mai mit dem Campus „Konnect“ ebenfalls einen Horch- und Verbindungsposten installiert hat. Porsche ist schon seit Januar letzten Jahres hier und auch die VW-Tochter Skoda war schneller. Sie ist über eine Kooperation mit ihrem in Israel außergewöhnlich gut vernetzten Autoimporteur Champion Motors, der wiederum zur Allied Group gehört, seit Januar mit einem DigiLab vor Ort aktiv. Das hat sogar einen wirtschaftlichen Hintergrund: Die Tschechen sind nämlich mit einem Marktanteil von 8,5 Prozent die stärkste europäische Automarke in Israel, das selbst keine Autos baut. „Wir wollen uns unter den digitalen Top-Playern hier zu Hause fühlen und nach Ideen für neue Mobilitätsmodelle suchen“, sagt Jarmila Placha, die Skodas führendes DigiLab in Prag leitet und nun schon zum zehnten Mal „zum Networken“ in Israel herumstöbert.

Viel Unterstützung für Start-ups in Tel Aviv

Logischerweise kam für Skodas israelisches DigiLab nur Tel Aviv infrage: Die Stadt, die niemals schläft, in der Bars für eiserne Nachtschwärmer erst um drei Uhr morgens aufmachen. Eine Start-up-Hochburg par excellence, auch weil der Staat die Gründer großzügig unterstützt, über 80 Prozent ihres Budgets gibt es als günstiges Darlehen, das nur im Erfolgsfall zurückgezahlt werden muss. Und weil im „Silicon Wadi“ entlang der Mittelmeerküste selbst die verrücktesten Ideen zum ernsthaften Brainstorming zugelassen werden – zwischenzeitliches Scheitern gehört zum Geschäft. „Wenn du es hier schaffst, schaffst du es überall in der Welt“, sagen uns die jungen Israelis, die wir in einem ziemlich schräg eingerichteten Tel Aviver Mindspace treffen, das gegen eine Monatsmiete von 250 Euro diverse Team-Arbeitsplätze mit High-Speed-Internet und Kaffeebar offeriert.

Dort haben sich auch Skodas erste engere Start-up-Partner (ja, die Tschechen waren in der kurzen Zeit schon ziemlich aktiv) eingerichtet. Und die vier Start-ups, die sich hier im klimatisierten Keller-Showroom (Holzempore mit bunten Sitzkissen, Luftschutzbunker-Türen) präsentieren, sind mit ziemlich spannenden Themen beschäftigt, wie wir gleich erfahren werden.

Von Bewegungsdaten-Auswertung bis Cybersecurity ist alles vor Ort

Die Big Data-Truppe Anagog („The Mobility Status Company“) etwa, die über den Zugriff auf sämtliche Smartphone-Infos ihrer Kunden, egal ob Apple oder Android, mit Hilfe von Algorithmen und künstlicher Intelligenz komplette Bewegungsmuster erstellt. Live natürlich. „Wir wissen immer genau, wo sich die Leute aufhalten – im Bett, im Büro, im Fahrstuhl oder an einer bestimmenden Position im Verkehr“, sagt Ofer Tziperman, israelischer Hightech-Pionier der ersten Stunde.

Rund 20 Milliarden Bewegungspunkte werden da weltweit täglich gesammelt. Etwas gespenstisch, aber auch praktisch. Bei der Parkplatzsuche zum Beispiel meldet die App, wo in den nächsten drei Minuten für uns ein Plätzchen frei wird – der dazugehörige Autobesitzer kommt ja schon fast um die Ecke. Anagog weiß, an welchem McDonalds gerade wenig los ist, welche Routen potenzielle Carsharing-Nutzer lieben und welche Verkehrsunfälle harmlos sind („Da muss dann kein Krankenwagen hin“), weil sich die Crash-Kontrahenten gerade gegenseitig fotografieren. „Bis zu hundert Anwendungen sind schon möglich“, sagt Tziperman. Und beruhigt uns: Selbstverständlich seien die privaten Daten, die mit der Crowd geteilt werden, anonymisiert.

Interessantes offeriert auch das Start-up von Guardian, das sich mit optischen Technologien um die Menschen im Auto kümmert. Mit einem einzigen Supersensor (inklusive Kameras und Wärmedetektor) wird so bis zur winzigsten Bewegung ziemlich alles registriert: Die Belegung der Sitze, alle Reaktionen der Passagiere, die Nutzung der Sicherheitsgurte und das Wohlbefinden des Babys auf dem Rücksitz. „Wir sind mit etlichen Autoherstellern im Gespräch“, deutet Guardian-Chef Gil Dotan an.

Tankwagen auf Bestellung

Bei Otonomo, das die vielen Fahrzeugdaten, die permanent gesammelt werden, für Fahrer, Passagiere und das gesamte Transport-Ökosystem so wertvoll wie möglich machen will, ist man schon weiter. Mit Skoda sei man gut im Gespräch, hören wir. „Und wir haben schon ein Büro in Stuttgart“, erzählt Marketingleiterin Lisa Joy Rosner, die es aus dem kalifornischen Silicon Valley nach Tel Aviv verschlagen hat. Stuttgart? Genau, Otonomo kooperiert auch mit Daimler. Die Idee eines Marktplatzes für Fahrzeugdaten, unabhängig von Google und Apple, ist natürlich auch für Verkehrsplaner reizvoll. „Da sind Hunderte von Anwendungen möglich“, erklärt Rosner. Sogar ein privater Tank-Service. Wie bitte? Ja, da tuckere dann ein kompakter Tankwagen zum Büro-Parkplatz, unser Auto müsse nur entriegelt werden. Die Rechnung gibt es extra.

Und dann die kurze Show von XM Cyber, einer verschärften Sicherheits-Einheit, die Tamir Pardo, der ehemalige Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad, im vergangenen Jahr gegründet hat. Spezialisiert auf Cyber-Angriffe jeder Art – ein heißes Thema angesichts der elektronischen Aufrüstung der Autobranche. „Wir beschäftigen 30 Hacker, darunter einige der Besten der Welt“, verrät uns Geschäftsführer Noam Erez. „Rund um die Uhr bewachen wir die Kronjuwelen der Unternehmen.“

Angriffe werden praktisch im Voraus geblockt, automatisiert, von den Algorithmen künstlicher Intelligenz gesteuert. Und permanent suchen seine Stars nach möglichen Schlupflöchern, die potenzielle Feinde nutzen könnten. Das Motto der Truppe: „Verteidigung durch Angriff“ („Defense by Offense“). Wobei das Team auch Militärisches im Blick hat. Wir sind schließlich in Israel, wo jeder eine Warn-App für Raketenangriffe der Hisbollah auf dem Smartphone hat. Und natürlich zucken wir zusammen, als nachmittags plötzlich Sirenen zu hören sind. „Keine Angst, das sind harmlose“, beruhigt uns unsere einheimische Betreuerin nach einem Blick aufs Handy.

Netzwerken beim Militärdienst

Deutlich wird: Die Tschechen baggern in Israel mit Topspeed. „Mit Anagog reden wir sogar schon über ein Business-Konzept“, verrät uns Skodas Digitalchef André Wehner. Generell setze man auf sehr schnelle Entscheidungen bei der Nutzwertanalyse der Start-ups, maximal drei Monate dürfe das dauern und Skodas Entwicklungsabteilung sei da sofort involviert. „Bei uns gibt es dann fix ein Feedback.“ Also auch mal ein klares Nein. Der Nächste bitte.

Was uns generell auffällt: Während das Durchschnittsalter der amerikanischen Silicon-Valley-Start-ups irgendwo zwischen 25 und 35 Jahren liegt, sind unter den israelischen Kollegen auch einige Ü40-er dabei. Sie haben in jedem Fall schon ihren fast dreijährigen Militärdienst (Frauen mindestens zwei Jahre) absolviert – und in dieser Zeit eine hohe technische Ausbildung bekommen. Speziell die für elektronische Kriegsführung zuständige „Einheit 8200“ hat da einen legendären Ruf. Viele ihrer Ex-Mitglieder sind heute die Stars der Start-up-Szene. In diesem Hightech-Ländle kennt jeder jeden aus der Militärzeit, alle sind irgendwie vernetzt. Und die Themen, die diese israelischen Nerds offerieren, sind im Vergleich zur US-Szene bodenständiger und voll auf potenzielle Nutzer ausgerichtet.

Mobilitäts-Konferenz im Hangar

Diesen Spirit spüren wir auch auf der vom Wirtschaftsministerium und vielen Industriepartnern geförderten jährlichen „EcoMotion-Konferenz“ in Tel Aviv, auf der sich über 2000 Interessenten aus 32 Ländern zum Thema Smarte Mobilität treffen. „Unsere Enkel werden sagen, wie verrückt es war, uns so ein teures Statussymbol wie das Auto zu kaufen, das die meiste Zeit nutzlos herumsteht“, witzelt Jonathan Menuhin, Chef des israelischen Innovations-Instituts zur Eröffnung. Seine Botschaft: Carsharing und autonome Ecosysteme sind schwer im Anmarsch. „Nichts ist unmöglich“, ruft er, in ein paar Jahren werde der Wertschöpfungsanteil der Elektronik im Auto von zehn auf 90 Prozent gestiegen sein.

Und nein, die EcoMotion-Show steigt nicht im Ballsaal eines Fünf-Sterne-Hotels, sondern im schmucklosen Hangar 11 am alten Hafen Tel Avivs. Beinahe wären wir an dem grauen Kasten vorbeigelaufen. Keine Werbeflut wie auf unseren feinen Automessen, nur ein Vorzelt zur Einlass- und Sicherheitskontrolle. Hier parken auch keine schweren Luxuslimousinen, sondern elektrische Klappfahrräder und Dutzende E-Roller – in Tel Aviv fährt niemand mehr mit Muskelkraft.

Start-ups treffen Großkonzerne

Drinnen an den vielen kleinen Start-up-Ständen geht es zu wie in einer überfüllten Markthalle. Heiß ist es und laut. Nur dass hier keine Datteln, Gewürze oder Langusten verkauft werden, nein, an den engen Ständen (ein Tisch, ein Video-Screen, einige Gimmicks) preisen die Nerds ihre Software-Waren an. Fast alle in Jeans und T-Shirt, die wenigen schwitzenden Anzugträger sind die Ausnahme. „Die sind garantiert zum ersten Mal hier“, grinst Ofer David, Chef von Bright Way Vision, die mit super fokussierten Nachtsicht-Kameras fürs autonome Fahren ins Geschäft kommen wollen – und zur Werbung weiße Strohhüte verschenken.

Bei Bier, Cola und Fingerfood, diversen Foren und hektischem Speed-Pitching im Fünf-Minuten-Rhythmus geht es hier für die Gründer überall um Erstkontakte – und natürlich um Investoren. Denn alle großen internationalen Geldgeber und Player der Automobil- und Software-Branche sind vor Ort, auch Automobilhersteller wie Daimler, Ford, Nissan oder Honda oder Zulieferer wie Bosch. Alle auf der Jagd nach neuen Partnern und ultimativen Geschäftsideen.

Auch der VW-Konzern ist mit seinem neuen Campus dabei. „Mit Konnect laden wir zum unkomplizierten Austausch mit innovativen Mobilitäts-Start-ups ein“, erklärt Stephanie Reimann, die Chefin vor Ort. Man wolle hier die „zentrale Anlaufstelle“ für den ganzen Konzern sein. Fürs erste Kennenlernen gibt es draußen in der 38-Grad-Mittagshitze einen VW-Biergarten mit bayrischem Bier. Bei Skoda, so unser Eindruck, ist man schon etwas cooler und direkter in der israelischen Szene vernetzt.

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