Als Valentin Thurn mal wieder an einem Müllcontainer voller weggeschmissenem Essen aus dem Supermarkt vorbei kam, hatte er genug. „In dem Moment habe ich mich wirklich ernsthaft gefragt, was in unserem System falsch läuft“, sagt der Filmemacher und Journalist. „Das war einfach eine Wut über diese Verschwendung.“ Er kam zu dem Schluss, dass die Interessen der Unternehmen über den volkswirtschaftlichen Interessen stehen. Warum sonst, dachte er sich, schmeißt man Essen im Millionenwert einfach weg?

Thurn hat das Thema Essensverschwendung seitdem nicht losgelassen. Zwei Kinofilme hat er ihm gewidmet: „Taste the Waste“ aus dem Jahr 2011 und „10 Milliarden“ von 2015. Im von ihm gegründeten Verein Foodsharing kann man Essen, das sonst weggeschmissen würde, anbieten und abholen. Und sein zweiter, ebenfalls von ihm gegründeter Verein, „Taste of Heimat“ dient als Informationsportal über regionale und nachhaltige Lebensmittel.

Taste of Heimat wiederum steht auch hinter Thurns aktuellem Projekt, den „Ernährungsräten“: Das sind städtische Gremien mit Mitgliedern aus der Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die nachhaltige Ernährungsstrategien für ihre Stadt konzipieren sollen. „Wir wollen die Ernährungspolitik wieder auf die kommunale Ebene holen“, sagt Thurn.

Letztlich esse der Verbraucher das, was im Supermarkt liegt

Ziel ist es, die Städte wieder regionaler zu versorgen. Lokale Landwirte vernetzen sich mit Bäckern und Metzgern, Politiker beraten zusammen mit Produzenten, Verbrauchern und Entsorgungsunternehmen, wie eine regionale Versorgungsinfrastruktur am besten aussehen kann. „Mitspracherecht“ ist dabei das Zauberwort. „Bei der Ernährung ist der Verbraucher durch die Industrie entmündigt“, meint Thurn. Letztendlich esse er, was im Supermarkt liegt. „Die internationalen Player haben unsere Ernährung zentraler und anonymer gemacht. Die Wertschätzung für Essen ist verloren gegangen.“ Gerade deshalb lande so viel im Müll.

Der erste Ernährungsrat in Deutschland hat 2015 in Köln seine Arbeit aufgenommen. Ursprünglich stammt die Idee aus den USA. Dort ist 1982 der erste Food Policy Council in Knoxville im Staat Tennessee gegründet worden, mittlerweile sind es mehr als 250. In Deutschland und Österreich gibt es aktuell in rund 30 Städten Ernährungsräte, die entweder schon arbeiten oder gerade dabei sind, sich zu gründen. Berlin, Hamburg und Frankfurt, zum Beispiel.

Insgesamt sitzen in jedem Ernährungsrat um die 100 Personen in verschiedenen Ausschüssen, deren Vorsitzende sich viermal im Jahr treffen, um die Konzepte zu koordinieren. Die Räte haben rechtlich allerdings keine Beschlussmacht. Alle ausgearbeiteten Papiere müssen dem Stadtrat zur Abstimmung vorgelegt werden. In Köln funktioniere diese Zusammenarbeit zwischen Ernährungsrat und Stadtverwaltung gut, sagt Thurn. Das sei aber nicht überall so. „In einigen Städten ist der Wille zu mehr Bürgerbeteiligung bei der Verwaltung auch sehr gering.“ Das erschwert die Arbeit.

Und auch innerhalb der Räte herrscht nicht immer nur Einigkeit. „In den Räten sitzen konventionelle Landwirte zusammen in einem Gremium mit den Biobauern“, erklärt Thurn. „Beim Thema Glyphosat werden die sich beispielsweise nie einig werden.“ Aber der Wille, lokale Bauernhöfe und die Artenvielfalt zu erhalten, schweiße auch diese beiden Parteien zusammen.

Erstes Projekt: Essbare Grünflächen

In Köln hat der Ernährungsrat schon einige Projekte angestoßen. „Essbare Stadt“ heißt eines, bei dem die Grünflächen mit Pflanzen und Bäumen bestückt werden sollen, von denen man auch mal naschen kann. Apfelbäume statt Blumenbeete ist die Devise. In einem anderen Projekt hat der Rat lokale Landwirte und Kindertagesstätten zusammengebracht, so dass die Kinder zum Mittagessen überwiegend regionale und nachhaltige Kost bekommen.

Bei solchen Projekten wird deutlich, wie kompliziert das Thema eigentlich ist. „Wir hatten das Problem, dass wir erst mal definieren mussten, was eigentlich nachhaltig bedeutet und was noch regional ist“, sagt Thurn. Nicht mal das Umweltbundesamt hätte ihnen da eine klare Antwort geben können. „Deshalb haben sich dann die Bauern und Kantinenbetreiber zusammen gesetzt und selbst Kriterien ausgearbeitet.“

Diese Projekte werden die städtische Versorgung nicht revolutionieren, sind aber ein Anfang. „In Köln haben wir in den vergangenen zwei Jahren erste Schritte gemacht auf dem Weg zu einer größeren Ernährungsstrategie“, so Thurn. Diese auszuarbeiten ist das langfristige Ziel. Erstmal sollen die Projekte des Ernährungsrates aber dazu dienen, die Mentalität der Menschen wieder zu ändern. „Wir wollen, dass Leute wieder eine Beziehung zu den Lebensmitteln aufbauen und verstehen, wo sie herkommen.“ Einen Apfel, den man selbst im Park gepflückt hat schmeißt man vielleicht nicht so schnell weg, wie einen aus dem Supermarktregal.

Supermärkte werden allerdings auch mit der Entstehung der Ernährungsräte nicht verschwinden. „Man kann nicht alles lokal lösen“, sagt auch Thurn. Und so radikal wolle man auch gar nicht sein. „Ich liebe beispielsweise Oliven. Das geht eben nicht regional und das ist auch in Ordnung.“ Ihm geht es erst mal darum, eine Grundversorgung lokal sicherzustellen, auch um für Krisensicherheit zu sorgen. Für Genuss sollte aber trotzdem noch Platz sein, auch wenn dieser nicht aus der Region kommt. „Denn selbst, wenn am Ende nicht 100 Prozent der Nahrung aus der Region kommen: Die Menschen werden mit einem anderen Bewusstsein konsumieren, und das ist schon ein sehr wichtiger Schritt.“

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