Wasserstoff war lange ein Nischenthema, mit dem sich allenfalls Visionäre beschäftigt haben. Doch seit die Preisefür Erdgas alle Grenzen sprengen, hat das Thema neue Dringlichkeit bekommen. Wasserstoff ist ins Zentrum der Debatte gerückt – als wichtiger Baustein für die Energiewende, für die Industrie und für nachhaltige Verkehrsentwicklung. „Wir sehen weltweit große Investitionen, sowohl in die Erzeugung von Wasserstoff als auch inAbnehmermärkte. Deshalb ist jetzt Eile geboten, eine Wasserstoffwirtschaft auch hierzulande aufzubauen“, sagt Katherina Reiche. Sie ist unter anderem Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats der Bundesregierung, und ist überzeugt, dass die Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft nun Fahrt aufnehmen wird.

Frau Reiche, viel wird derzeit über Wasserstoff und die Bedeutung des Energieträgers zum Erreichen der Klimaschutzziele gesprochen. Dabei sind die Verfahren, um Wasserstoff als Energieträger nutzbar zu machen, schon lange bekannt. Neu sind die Dimensionen, in denen Wasserstoff nun angewandt werden soll. Warum hat das so lange gedauert? 

Dass Wasserstoff erst jetzt großflächig eingesetzt wird, liegt erstens am Pariser Klimaschutzabkommen. Es verpflichtet die Weltgemeinschaft, bis 2050 die Emissionen auf Netto­-Null zu reduzieren. Die Bundesregierung hat sich sogar verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu wirtschaften. Zweitens funktioniert der europäische Emissionshandel: Unternehmen, die viel CO2 ausstoßen, müssen für Emissionszertifikate auch viel Geld bezahlen. Somit haben Unternehmen, die CO2­arm produzieren, einen Wettbewerbsvorteil. Und drittens steht seit dem verbrecherischen Krieg Russlands gegen die Ukraine die Energiesicherheit in Deutschland völlig neu auf der Tagesordnung. Unternehmen müssen sich nun fragen, wie sie ihre wirtschaftlichen Prozesse defossilisieren können und mit welchen Alternativen zu Gas sich die industriellen Prozesse aufrechterhalten lassen. Wir sehen weltweit große Investitionen, sowohl in die Erzeugung von Wasserstoff als auch in Abnehmer­ märkte. Deshalb ist jetzt Eile geboten, eine Wasserstoffwirtschaft auch hierzulande aufzubauen.

Wofür brauchen wir Wasserstoff? Beziehungsweise, wo ist der Einsatz tatsächlich sinnvoll? Für die Mobilität? In der Industrie? 

Im Verkehrssektor in Autos und definitiv in Lkw. Wenn ich schwere Frachten über weite Strecken transportiere, dann geht das schlecht mit einer Batterie, die ständig geladen werden muss. Ich brauche also einen Stoff, der energiereich ist und sich gut verbrennen lässt. Und im Falle von Wasserstoff entsteht bei der Verbrennung nur Wasser. Aber auch für den Bahnverkehr oder die Schifffahrt kann Wasserstoff sinnvoll genutzt werden. Im Industriesektor ist wiederum die Produktion von Stahl interessant. ThyssenKrupp beispielsweise stellt seine Stahlproduktion sukzessive auf Wasserstoff um. Auch für die Glas­, Papier­ oder Lebensmittelproduktion kann Wasserstoff in Zukunft eine nachhaltige Alternative sein. Die gute Nachricht: Viele deutsche Unternehmen sind führend in der Ent­wicklung solcher Technologien und haben auch schon Produkte am Markt. Die schlechte Nachricht: Erst diesen August hat der amerikanische Kongress mit dem Inflation ReductionAct eine weitreichende Regelung verabschiedet, grünen Wasserstoff und erneuerbare Energien zu fördern. Europa muss nun aufpassen, nicht nur zum Importland zu werden und wie bei der Digitalisierung erneut den Anschluss zu verlieren.

„Unser Potenzial an Erneuerbaren Energien ist klar begrenzt.“

Welche Hürde auf dem Weg zur Klimaneutralität ist die höchste?

Es gibt bislang keine funktionierende weltweit organisierte Wasserstoffwirtschaft. Wir sehen zwar erste große Projekte, aber es gibt noch einige offene Fragen: Wie transportieren wir per Schiff Wasserstoff über die Meere? Oder wie produzieren wir Wasserstoff lokal? Denn Wasserstoff lässt sich zum Beispiel auch nutzen, um Kraftwerke zu betreiben. Aufgabe der Politik muss es jetzt sein, eine Vielzahl flexiblerer Regulierungen einzuführen, um erfolgreich den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft zu managen.

Wasserstoff-Elektrolyseur
Auch Siemens schraubt an der Wasserstoffproduktion, gefördert von der EU. Foto: Siemens

Könnten wir überhaupt so viel Wasserstoff produzieren, um mittelfristig ganz auf fossile Energieträger verzichten zu können?

Nein, das kann man nicht. Deutschland importierte in den letzten Jahrzehnten 70 Prozent seiner Primärenergie. Für Wasserstoff wird der Importbedarf im Jahr 2050 bei bis zu 80 Prozent liegen, bei Wasserstoff­-Derivaten sogar auf über 80 Prozent ansteigen. Im Nationalen Wasserstoffrat haben wir errechnet, dass zwischen 600 und 800 Terawattstunden im Jahr 2050 an Wasserstoff benötigt werden. Zum Vergleich: Zurzeit produziert Deutschland bis zu 60 Tera­wattstunden Wasserstoff. Unser Potenzial an Erneuerbaren Energien ist durch natürliche Flächenressourcen, Technologie und auch geografische Begebenheiten klar begrenzt. Wir werden also importieren müssen.

Wie sieht es international aus: Kann Deutschland im weltweiten Wettrennen um Wasserstoff mithalten?

Durchaus. Einige technologische Lösungen kommen aus Deutschland, und viele erfolgreiche deutsche Unternehmen bauen hocheffiziente Elektrolyse­-Anlagen. Auch die Automobilindustrie weiß, wie man eine gute Brennstoffzelle baut. Wir sollten also in zwei Richtungen denken: Zum einen als Industrienation unsere Güter exportieren und zum anderen die Möglichkeiten ausschöpfen, die wir haben. Es gibt zum Beispiel Phasen, in denen im Norden Deutschlands mehr Windenergie produziert als verbraucht wird. Momentan werden jährlich Milliarden dafür ausgegeben, diese Windkraftanlagen in einem solchen Fall abzuregeln – das nennt sich Redispatch. Da wäre es eine schlaue Idee, daraus per Elektrolyse Wasserstoff zu produzieren und den Strom speicherfähig zu machen. Deutschland könnte dabei die vorhandene Infrastruktur nutzen. Denn 550.000 Kilometer Gasnetz sind ein riesiger Speicher, in dem tausendmal mehr Energie gespeichert werden kann als im Stromnetz. Langfristig müssen wir also mit einer Mischstrategie fahren, die sich aus dem Export von Technologien ins Ausland, einheimischer Produktion und dem Import von Wasserstoff zusammensetzt.

Wie steht der Nationale Wasserstoffrat zum Einsatz von Wasserstoff in Fahrzeugen?

Wasserstoff spielt eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur Klimaneutralität – auch in der Mobilität. Wir werden im Verkehr langfristig unterschiedliche Antriebsformen und Energieträger haben – E­-Mobilität, Wasserstoff­ und Brennstoffzellen­-Technik sowie synthetische Kraftstoffe. Die europäische Gesetzgebung hat den Automobilkonzernen sehr harte Emissionsminderungsziele ins Stammbuch geschrieben. Um diese zu erfüllen, ist die effektivste Antwort aktuell die Batterie. Die Technik ist verfügbar und bietet aus Unternehmenssicht eine effiziente Form, CO2 einzusparen und dabei trotzdem Modelle auf den Markt zu bekommen. Anders ist es im Langstreckenverkehr. Hier ist Wasserstoff die effizientere Lösung. Denken Sie zum Beispiel an Fahrzeuge zur Müllentsorgung. Müssten diese mit Batterien betrieben werden, hieße das, die Hälfte des Platzes für Müll mit Batterien zu belegen. Die Faun­-Gruppe im Sauerland zum Beispiel baut heute schon Müllentsorgungsfahrzeuge mit Wasserstoffantrieb.

„Auch deutsche Autohersteller wissen Brennstoffzellen zu bauen“
Der GLC F-Cell kombiniert die Brennstoffzelle mit der Technologie eines Plug-in-Hybridautos, um unter allen Bedingungen effizient und dynamisch unterwegs sein zu können. Produziert wurde er allerdings nur in Kleinserie. Foto: Mercedes-Benz

Ist der Nationale Wasserstoffrat im Gespräch mit den Automobilherstellern, um diese Technologie auch für die breite Masse zugänglich zu machen?

Natürlich. Der Nationale Wasserstoffrat hat sich beispielsweise in einer Stellungnahme erfolgreich dafür ausgesprochen, die Quote für nachhaltige Treibstoffe zugunsten von Wasserstoff deutlich zu erhöhen. Das heißt, wer batterie­ oder wasserstoffbetriebene Fahrzeuge fährt, bekommt dafür eine Gutschrift. Das ist wichtig, um den Anteil von wasserstoffbetriebenen Fahrzeugen zu steigern. Am Ende wird der Markt entscheiden, ob sich die Batterie oder die Brennstoffzelle durchsetzt – wobei ich nicht glaube, dass es nur eine Lösung geben wird.

Im Langstrecken-Verkehr ist Wasserstoff die effizientere Lösung.

Wie sieht es mit Tankstellen für Wasserstoff aus?

Die Infrastruktur ist aktuell noch eine Herausforderung. Die Bundesregierung hat jetzt aber mit großem Druck innerhalb Europas eine Richtlinie durchbekommen, die Wasserstofftankstellen stärker fördert. Für dieses wichtige Programm hat das Verkehrsministerium auch eigene Mittel bereitgestellt. Hier waren wir nicht nur in guten Gesprächen, sondern konnten auch durch Zahlen und Studien die Politik bei ihrer Entscheidungsfindung unterstützen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Bei all den verschiedenen Energieträgern – warum Wasserstoff?

Wasserstoff ist die industriepolitische Antwort auf die Klimawende. Nicht erst dieser Sommer hat gezeigt, in welchen schwierigen Lagen wir in Zukunft sein werden, wenn es um Extremwetter-Ereignisse geht. Dürre, Trockenheit, Überschwemmungen: Die Schäden des Klimawandels sind schon deutlich spürbar. Und da muss ein Industrieland wie Deutschland seinen Beitrag leisten. Wasserstoff bietet die Möglichkeit, Industrienation zu bleiben und dennoch die Klimaziele zu erreichen. Mich fasziniert, dass man damit einen Transformationsprozess gestalten kann, den es vorher so noch nicht gab, und dass wir im Strukturwandel, der immer mit Verlustängsten zu tun hat, einen klaren und positiven Weg aufzeigen können. Und das Molekül selbst ist natürlich auch faszinierend: Es ist die Nummer eins im Periodensystem und ein echter Alleskönner!

Über Katherina Reiche

Katherina Reiche ist führende Expertin für Wasserstoff und Schlüsselfigur in der deutschen Wasserstoffstrategie. Sie war 17 Jahre CDU- Bundestagsabgeordnete und sieben Jahre parlamentarische Staatssekretärin im Umwelt- und im Verkehrsministerium.

Von 2015 bis 2019 führte sie als Hauptgeschäftsführerin den Verband kommunaler Unternehmen (VKU) – einen der größten Wirtschaftsverbände in Deutschland. Seit Januar 2020 ist die Diplom-Chemikerin Vorstandsvorsitzende der E.ON-Tochter Westenergie AG. Seit Juni 2020 hat sie zudem den ehrenamtlichen Vorsitz im Nationalen Wasserstoffrat. Das Hochkarat-Gremium mit 25 Personen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft berät politische Entscheidungsträger zum Ökosystem Wasserstoffwirtschaft.

Artikel teilen

3 Kommentare

  1. Dirk Bethge

    Wenn ich eine Kuh melken will darf ich sie nicht schlachten. Genau das hat Lobby getan. Das schnelle Geld 💰 ist die Macht wie man bei Musk und VW ja sehen kann.

    Dirk

    Antworten
  2. Kai Neumann

    Autsch – hier kommt die Lobby frei zu Wort. Der Kontext ist größer und eine Frage von Flaschenhälsen: https://www.know-why.net/model/Ckps4y3iZwQWd6YKcOb6qdQ Wasserstoff nur dort, wo keine direkte Stromnutzung möglich ist. Wasserstoff ergibt sich dann aus Überschüssen an erneuerbarer Energie. Zusätzliche Erneuerbare nur weil wir auch an unnötigen Stellen auf Wasserstoff – z.B. in Autos – setzen, bremst die Erneuerbaren aus, weil für diese dann nicht schnell genug Kupfer, Neodymium etc. bereitgestellt werden können. Ist gar nicht kompliziert, reicht aber, um die Öffentlichkeit/Medien an der Nase herumzuführen.

    Antworten
    • Dirk Bethge

      Wenn hier über Lobby “ gesprochen “ werden soll, dann gibt es doch nur eine Antwort…..Die Lobbyisten haben doch jeglichen Fortschritt verhindert. Jetzt wo das Haus brennt wird nach der Feuerwehr gerufen. Zur Brandverhinderung hätten die Lobbyisten sich schon vor X- Jahren Gedanken machen müssen.

      Antworten

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert