Größer und weiter, aber auch schwerer und teurer: So lautete bislang die Formel, um Elektroautos alltagstauglich zu machen. Die Fahrzeughersteller spendierten den Stromern immer größere Akkus, die mehr Energie aufnehmen konnten. Damit vergrößerte sich zwar die Reichweite, aber gleichzeitig stieg auch das Fahrzeuggewicht – und unterm Strich der Fahrzeugpreis. Das Tesla Model S der ersten Generation wurde noch mit einer Batterie angeboten, die 40 Kilowattstunden (kWh) speicherte. Später wurde ein 60 kWh-Akku eingebaut – mittlerweile wird das Elektroauto ausschließlich mit Batterien offeriert, die nominell 100 kWh Strom speichern können. Ressourcenschonung sieht anders aus. Und der Ökobilanz des Elektroautos tun die immer größeren Akku auch nicht gut.

Die gute Nachricht ist: Das Wettrüsten könnte sich schon bald verlagern. Künftig sticht beim Elektro-Poker möglicherweise nicht mehr die Speicherkapazität, sondern die Ladeleistung. Entscheidend ist dann nicht mehr die Frage, wie weit man mit einer Akkuladung kommt, sondern wie schnell sich der Akku laden lässt. Mit mehreren kurzen Boxenstopps, aber höheren Reisegeschwindigkeiten kommt so das Elektromobil mit seinen Insassen schneller ans Ziel – und der Fahrer deutlich entspannter.

Sitzprobe
Mit einem Radstand von 2,90 Meter ist das neue Elektroauto das perfekte Gefährt nicht nur für Sitzriesen, sondern auch für Familien mit großem Reisegepäck. Das Raumgefühl ist jedenfalls luftig. Foto: Olaf Gallas für KIA
Sitzprobe
Mit einem Radstand von 2,90 Meter ist das neue Elektroauto das perfekte Gefährt nicht nur für Sitzriesen, sondern auch für Familien mit großem Reisegepäck. Das Raumgefühl ist jedenfalls luftig. Foto: Olaf Gallas für KIA

Porsche und Audi haben mit ihrer 800 Volt-Architektur und Ladegeschwindigkeiten von bis zu 270 Kilowatt in der Luxusklasse den Weg vorgezeichnet. Die Hyundai-Kia Motors Corporation bringt nun als erster Volumenhersteller die 800-Volt-Technologie in die Großserie – mit dem Hyundai Ioniq 5 und mit dem Kia EV6 als Wegbereiter. Der Konzern hat dafür eine neue Elektroplattform namens E-GMP (Electric Global Modular Platform) entwickelt, die aktuell den Einbau von Akkus mit Speicherkapazitäten von 58 und 77,4 kWh sowie Antriebsleistungen von bis zu 430 kW (600 PS) ermöglicht, vor allem aber die Benutzung von Schnellladestationen sowohl mit 400 Volt- wie mit 800 Volt-Technologie erlaubt. Im Idealfall soll es damit nur 18 Minuten dauern, um eine Batterie mit einem Füllgrad (SoC) von 10 Prozent wieder auf 80 Prozent ihrer Kapazität zu bringen. Anders ausgedrückt: Eine fünfminütige Pause reicht aus, um wieder 100 Kilometer Reichweite zu gewinnen. Man wird sich also auf Fernreisen mit diesen Elektroautos in Zukunft sputen müssen, wenn der Boxenstopp auch noch zum Händewaschen oder Ähnlichem genutzt werden soll.

Jede Menge Platz – auch im Kofferraum

Ob die Technik wie versprochen auch im Alltag funktioniert, wird sich noch erweisen müssen – die Markteinführung der beiden neuen Modelle findet erst im Herbst statt. Immerhin konnten wir uns jetzt den neuen Kia EV6 in einem Fotostudio in der Nähe von Wiesbaden einmal näher ansehen – bei einer „Sitzprobe“. Um die Eindrücke hier schon einmal zusammenzufassen: Da ist etwas Großes entstanden.

Das gilt schon für die Außenabmessungen: Mit einer Länge von 4,68 Metern und einem Radstand von 2,90 Metern ist der Kia EV-6 ein ausgewachsenes Mittelklassemodell mit dem Platzangebot eines Fahrzeugs der Luxusklasse. Auf der bequem Rücksitzbank finden auch bis zu drei Menschen mit langen Beinen bequem Platz. Eventuell müssen sie nur ein wenig den Hals einziehen: Die coupéhafte Dachlinie des eleganten Crossovers schränkt in Kombination mit dem Panoramadach die Kopffreiheit ein wenig ein. Wer mag, kann die Rücklehnen aber auch komplett umlegen und erhält dann eine glatte Liegefläche – oder einen üppigen Kofferraum mit einem Packvolumen von 1300 Litern. Ladekabel und anderes Kleingepäck lässt sich vorn im so genannten „Frunk“ (Front trunk) verstauen – dort, wo in der guten alten Zeit der Verbrennungsmotor brummte.

Stromfluss in zwei Richtungen
Über die Steckdose am Heck kann der Kia EV6 nicht nur schnell Strom aufnehmen, sondern mithilfe eines Adapters den Strom auch wieder über eine Haushaltssteckdose abgeben - zum Beispiel um E-Bikes oder Haushaltsgeräte mit Energie zu speisen. Foto: KIA
Stromfluss in zwei Richtungen
Über die Steckdose am Heck kann der Kia EV6 nicht nur schnell Strom aufnehmen, sondern mithilfe eines Adapters den Strom auch wieder über eine Haushaltssteckdose abgeben – zum Beispiel um E-Bikes oder Haushaltsgeräte mit Energie zu speisen. Foto: KIA

Aber natürlich entern wir zunächst einmal den Fahrersitz des Kia EV6 und genießen dort nicht nur das großzügige Platzangebot in der ersten Reihe, sondern auch den Ausblick auf das Informations-Panorama, das sich dort bogenförmig über zwei horizontal angeordnete Zwölf-Zoll-Bildschirme erstreckt, mit messerscharfer Darstellung und in brillanten Farben. Das vielgelobte MBUX-System von Mercedes scheint hier Pate gestanden zu haben. Es sieht aber nicht nur cool aus, sondern lässt sich auch kinderleicht bedienen, über den mittigen Touchscreen, einige Funktionen aber dankenswerterweise auch über konventionelle Tasten. Während der Fahrt werden die wichtigsten Informationen gegen Aufpreis über ein Head-up-Display ins Sichtfeld des Fahrers projiziert, per Augment Reality zudem Richtungshinweise in Pfeilform vor das Fahrzeug – Ähnliches kennt man schon von den Elektroautos aus dem VW-Konzern, wie dem ID.3, dem Skoda Enyaq oder dem Audi Q4-etron.

EV6 übertrumpft VW nicht nur mit der Ladegeschwindigkeit

Die im Kia verbauten Materialien sind auch mindestens ebenso hochwertig wie im VW ID.4, die Verarbeitungsqualität ist über jeden Zweifel erhaben. Ablageflächen gibt es in Hülle und Fülle, die Fahrstufen werden wie bei Jaguar über ein Drehrad eingelegt. Mit einem Wort: Nach fünf Minuten Eingewöhnungszeit sollte sich jeder im EV6 zurecht finden und auch wohl fühlen.

Es zuckt jetzt im rechten Finger, der den Start-Button gedrückt hält. Und der rechte Fuß drückt auch schon sanft auf das Fahrpedal: Gerne würden wir jetzt losfahren und den Antrieb erleben. Denn die technischen Daten versprechen einiges an Fahrvergnügen. Die heckgetriebene Basisversion hat bereits eine Spitzenleistung von 125 kW (170 PS). Alternativ gibt es eine Version mit 168 kW (229 PS). Kombiniert mit einem 77,4 kWh großen Akku sind damit Fahrten unter Idealbedingungen von bis zu 510 Kilometern möglich – mit Spitzengeschwindigkeiten von immerhin bis zu 185 km/h. Später wird es den EV6 auch in einer besonders sportlichen GT-Version geben, die bis zu 430 kW (585 PS) und 740 Newtonmeter Drehmoment mobilisiert – und bei der der Vorwärtsdrang erst bei 260 km/h gebremst wird. Da wird sich nicht nur der VW ID.4 GTX, sondern auch das Tesla Model Y anstrengen müssen, um Schritt zu halten.

Schöne Aussichten 
Zwei nahtlos miteinander verbundene und bogenförmig aufgespannte 12-Zoll-Displays liefern den Insassen des Kia EV6 auf Reisen eine wahre Informationsflut. Zusätzlich spiegelt ein Head-up-Display Fahrinformationen in die Windschutzscheibe. Foto: KIA
Schöne Aussichten
Zwei nahtlos miteinander verbundene und bogenförmig aufgespannte 12-Zoll-Displays liefern den Insassen des Kia EV6 auf Reisen eine wahre Informationsflut. Zusätzlich spiegelt ein Head-up-Display Fahrinformationen in die Windschutzscheibe. Foto: KIA

Zumal der Kia EV6 nicht nur auf der Straße, sondern auch an der Ladesäule mit hohen Geschwindigkeiten aufwarten wird. Der ID.4 GTX lädt seinen 77 kWh großen Akku aktuell nur mit maximal 125 kW. Das Model Y (Akkukapazität 75 kWh) kommt zwar am Schnelllader ebenfalls auf eine Ladeleistung von bis zu 250 kW. Dafür beträgt seine Höchstgeschwindigkeit nur 241 km/h: Auf der Langstrecke brauchen die Fahrer der drei Elektroautos also unterschiedliche Fahrstrategien.

Kia EV6 GT so teuer wie das Tesla Model Y

Und was kostet der Spaß? Nun, der Preis für das Basismodell des Kia EV6 (125 kW Antrieb mit 58 kWh-Akku) beträgt 44.990 Euro – vor Umweltbonus und Innovationsprämie. Das sind etwa 800 Euro weniger, als derzeit für einen 150 kW (204 PS) starken Kia e-Niro mit einer 64 kWh fassenden Batterie aufgerufen wird. Bei der allradgetriebenen GT-Sportversion sind wir schon bei 65.990 Euro. Das ist fast exakt der gleiche Preis wie für die Performance-Variante des Tesla Model Y (65.620 Euro), das etwa zeitgleich auf den deutschen Markt kommt – wenn denn das neue Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide wie geplant fertig wird.

Was sagt uns das? Zweierlei: Die Zeiten sind vorbei, da sich Kia mit Dumpingpreisen einen Platz auf dem deutschen Automarkt erobern musste. Und: Uns steht ein heißer Herbst bevor. Volkswagen ist gefordert, zumindest bei der Ladegeschwindigkeit nachzulegen. Tatsächlich arbeitet der Konzern bereits an einem Update für seine Elektroautos. Dieses soll es dem ID.3 und ID.4 angeblich ermöglichen, den Strom an Schnellladesäulen mit bis zu 170 kW aufzunehmen.

Da zeichnet sich tatsächlich ein neues Wettrüsten ab.

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