Keine Frage: Emotional war 2022 der ID.Buzz von Volkswagen das Auto des Jahres. Die Marke des Jahres aber war ohne Zweifel Genesis. Der koreanische Premiumhersteller, Ableger der Hyundai Motor Group und Schwester von Kia, hat es im abgelaufenen Jahr geschafft, sich auf dem europäischen und deutschen Automobilmarkt zu etablieren – nach nicht einmal zweijähriger Anlaufzeit. Mit großzügigen Serviceversprechen und vor allem mit drei Elektroautos der Luxusklasse, die Vergleiche mit den deutschen Anbietern Mercedes, Audi oder BMW nicht zu scheuen brauchen. Beim Wettbewerb um den „German Car of the Year Award“ 2022 wurde der vollelektrische GV 60 zum besten Premium-Auto des Jahres gewählt – und im Finale nur knapp vom VW ID.Buzz geschlagen – der Nostalgie-Faktor gab hier den Ausschlag.

Nach zwei Wochen mit dem Topmodell der Baureihe, dem allradgetriebenen Genesis GV60 Sport Plus, können wir nun aber konstatieren: Emotional hat der schicke Koreaner auch einiges aufzubieten. Und auch technisch lässt er den ID.Buzz in einigen Disziplinen deutlich hinter sich.

Zum Beispiel an der Ladesäule und bei der Ladegeschwindigkeit: Dank 800-Volt-Technik kann der Genesis Gleichstrom theoretisch mit bis zu 233 kW aufnehmen – der Akku mit einer Kapazität von netto 74 kWh ist damit im Idealfall schon nach einer guten Viertelstunde wieder zu 80 Prozent wieder gefüllt. Der VW (maximale Ladeleistung 170 kW) braucht da in aller Regel schon einige Minuten länger.

Ladeleistung knickt schnell ein

Aber wir wollen hier den Genesis nicht in den Himmel heben – zwischen Ideal und Wirklichkeit klaffen auch hier mitunter große Lücken. So wurde die maximale Ladeleistung am Schnelllader während der gesamten Testdauer kein einziges Mal erreicht. Weil entweder die Außentemperaturen zu niedrig waren, sich den Ladepunkt mehrere Fahrzeuge teilen mussten oder weil möglicherweise die Vorlaufzeit zwischen dem Start der Fahrt und der Ankunft am Ladepunkt zu gering war. Denn die Vorkonditionierung des Akkus braucht Zeit – und funktioniert bislang auch nur, wenn die Ladesäule im Navigationssystem als Zielpunkt der Fahrt angegeben wird. Wenn nicht, dann fängt die Ladekurve tief an – und fällt dann nach langsamer Steigerung auch schnell wieder ab. Da gibt es also durchaus noch Verbesserungsbedarf.

Das gilt allerdings nicht für den Antriebsstrang an sich. Mit einer Leistung von 340 kW oder 462 PS ist der eher schon überdimensioniert. Und wenn man im Sport-Modus den gelben Boost-Knopf am Lenkrad betätigt, liegen zehn Sekunden lang noch einmal 20 kW mehr an. Damit der Fahrer bei der fast schon raketengleichen Beschleunigung aus dem Stand heraus nicht vom Stuhl fällt, nehmen ihn die Sitzwangen in die Zange. Die Freude am Fahren – oder Rasen – kriegt allerdings einen gehörigen Dämpfer, wenn man weniger auf die Stoppuhr (Tempo 100 nach vier Sekunden), sondern auf die Verbrauchsanzeige schaut. Ein Schnitt von 30 kWh/100 km ist schnell erreicht, nachdem sich der Energieverbrauch trotz niedriger Außentemperaturen lange bei 24 kWh/100 km gehalten hatte. Für ein Elektroauto von immerhin 2,14 Tonnen Leergewicht ein eigentlich ganz guter Wert.

Dynamischer Elektro-Gleiter

Aber eigentlich ist der Genesis für die harte Gangart fahrwerkstechnisch gar nicht ausgelegt – und hat das auch gar nicht nötig, um zu glänzen. Statt im Drift-Modus auf hoffentlich abgesperrter Strecke den Rennfahrer zu spielen, sollte der GV60 Sport Plus eher als komfortabler Elektro-Gleiter genutzt werden. Viel mehr Spaß macht es, mit ihm durch die Landschaft zu cruisen, auf kurvenreichen Landstraßen die Kraftreserven zu genießen und die Vorzüge des lautlosen Elektroantriebs. Gerne in Kombination mit dem (hervorragenden) Soundsystems von Bang & Olufsen, das sogar über eine aktive Fahrgeräuschunterdrückung verfügt. Was Fahr- und Sitzkomfort, Platzangebot und Ausstattung anbetrifft, aber auch in punkto Materialgüte und Verarbeitung bewegt sich der Genesis hier ohne Zweifel auf einem Level mit einem Mercedes EQC oder dem runderneuerten Audi Q8 e-tron.

Vorübergehend geblendet 
Gegen Aufpreis wird der Genesis GV60 mit zwei Außenkamera als Spiegel-Ersatz geliefert. Sie liefern gestochen scharfe Bilder auf Extra-Displays in den Seitentüren - sofern die Kamera sauber ist und die Sonne nicht auf dem Objektiv steht.
Vorübergehend geblendet
Gegen Aufpreis wird der Genesis GV60 mit zwei Außenkamera als Spiegel-Ersatz geliefert. Sie liefern gestochen scharfe Bilder auf Extra-Displays in den Seitentüren – sofern die Kamera sauber ist und die Sonne nicht auf dem Objektiv steht.

Mit Letzterem hatte der Testwagen die digitalen Außenspiegel gemein. Und auch wenn die zugehörigen Displays in den Fahrzeugtüren beim Koreaner auch größer ausfallen und etwas besser positioniert sind – das Feature kann man sich getrost sparen. Die Einsparungen beim Stromverbrauch (aufgrund des günstigeren cW-Werts) sind marginal, der Verlust an Fahrsicherheit dafür gravierend. Insbesonders dann, wenn die Sonne nur knapp über dem Horizont steht und von hinten in die Kamera scheint – das Einscheren vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn kann da schnell zu einem gefährlichen Blindflug werden. 1.460 Euro Aufpreis verlangt Genesis für die Spielerei – das Geld sollte man besser anderweitig verwenden.

Abgehobene „Crystal Sphere“

Eine andere (aufpreisfreie) Spielerei machte da schon mehr Spaß: die „Crystal Sphere“ genannte Disco-Kugel in der Mittelkonsole. Sie zeigt nach dem Einsteigen lichtspielerisch an, ob der GV60 fahrbereit ist. Nach dem Druck auf den Startknopf dreht sie sich um 180 Grad – und wird dann zum Fahrschalter. Wer immer sich das ausgedacht hat – er oder sie muss früher im Showbusiness tätig gewesen sein.

Was nicht heißen soll, dass der Genesis GV60 ein Blender wäre. Ganz im Gegenteil. Wie seine Schwestermodelle, der ikonische Hyundai Ioniq 5 und der sportliche Kia EV6, wartet der Genesis GV60 mit einer Reihe von Vorzügen auf, die Wettbewerber zu deutlich höheren Preisen bieten. Wobei der Genesis immer noch in einer Preisliga spielt, die sich in Zeiten der Rezession immer weniger Menschen leisten können: Unser komplett ausgestattetes Testfahrzeug kostete 84.300 Euro. Aufgrund des Nettolistenpreises von 59672,27 Euro kann allerdings weiterhin ein Umweltbonus beantragt werden. Nach den neuen Fördersätzen, die seit Jahresbeginn gelten, ermäßigt sich der Kaufpreis damit um 3000 Euro. Das senkt zumindest die monatlichen Leasingraten für das derzeit beste Elektro-Pferd im Stall der Koreaner.

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