Elektrisch betrieben und langfristig autonom wird das Auto der Zukunft sein – na klar. Aus Sicht des renommierten Automobil-Experten Stefan Bratzel sind das aber nur Äußerlichkeiten. Das komplette Geschäftsmodell der Branche werde sich verändern, erklärt er im EDISON-Interview. Fahren wird zum Service, wie es Konsumenten bereits von Streamingdiensten kennen. Wie diese neue Mobilität aussieht und was es mit den sogenannten „Functions on Demand“ auf sich hat.
Herr Bratzel, Sie sagen, dass sich die Geschäftsmodelle der Automobilbranche radikal ändern werden. Was meinen Sie damit?
Wir werden von Konzepten des Kaufs und Besitzens von Fahrzeugen hin zum Nutzen von Fahrzeugen übergehen. Es wird verschiedene Konzepte geben. Autonome Taxis, in denen mehrere Leute sitzen können – eine Art Bus. Dazu autonom fahrende Shuttles. Unterschiedliche Leute teilen sich ein Fahrzeug. Ich beschreibe das gerne als ein neues Universum, das sich auftut. Es ist ein Universum der Mobilitätsdienstleister: Besitz spielt keine Rolle mehr, Mobilität wird über Dienstleistungskonzepte geteilt.
Also besitzt niemand mehr ein Auto?
Fahrzeugbesitz löst sich nicht sofort auf. Wir haben sicherlich auch noch viele Jahre Fahrzeugbesitz, aber es wird zwei Paralleluniversen geben. Die Frage wird sein, ob diese autonomen Shuttles und Taxis sehr viel günstiger Mobilität anbieten können. Zu Preisen, die mit dem öffentlichen Personennahverkehr konkurrieren können. Dazu kommen Mehrwertdienste.
Was meinen Sie damit?
Bei einem Apple-Fahrzeug könnten Fahrer etwa Musik oder Filme über die eigenen Plattformen buchen. Google kann mit seinen Karten präzise für Restaurants oder Kinos werben lassen, die nahe der Fahrtstrecke liegen.
Unternehmen wie Google und Apple werden selbst Fahrzeuge anbieten?
Na klar. Wer die Datenhoheit hat, besitzt einen Riesenvorteil. Er hat die Kenntnis darüber, wohin die Leute wollen, was für Vorlieben diese Menschen denn haben. Wann sie was benötigen. Dafür treten große Big-Data-Firmen wie Google oder Apple auf den Plan, aber auch die chinesischen Firmen Alibaba und Tencent. Sie bieten zusätzliche Mehrwertdienste an, etwa als Pakete oder Flatrates. Autonomes Fahren könnte mit kommerziellen Diensten, Musik-Abos und anderem verbunden sein. Alles, um die Schnittstelle zum Kunden zu kontrollieren.
Die Tesla-Modelle S und X haben acht Kameras an Bord, die für Tausende Euros für einen Autopiloten und autonomes Fahren freigeschaltet werden können. Was steckt hinter solchen Zusatzdiensten?
Was Sie ansprechen, sind Dienstleistungen on Demand, die dann per Update ins Fahrzeug gebracht werden können – wie beim Smartphone. Ein Beispiel wäre, dass im Sitz Sensoren verbaut sind. Die stellen fest, dass der Fahrer sich komisch bewegt und eventuell Rückenprobleme hat, weil er schon länger am Steuer sitzt. Also bietet ihm der Betreiber der Mobilitätsplattform eine Massagefunktion im Sitz an. Dann ist der Fahrer möglicherweise bereit, fünf Euro zu zahlen für eine tolle Massage. Diese Funktion wird dann on Demand aktiviert im Fahrzeug. Es gibt es natürlich eine Unzahl von Möglichkeiten. Das beherrscht Tesla schon gut.
Wann sind andere Hersteller soweit?
In den nächsten ein bis drei Jahren. Das kann man sowohl im Universum Besitz anwenden als auch im Universum von geteilter Mobilität. Für die Hersteller wird es die Herausforderung der nächsten Zeit sein, Mehrwert anzubieten, für den der Kunde auch zahlt. Dafür müssen sie den Kunden genau kennen – wo er hinfährt und wie oft, welche Features er benutzt, welche Dienste dazu passen könnten.
Sind Kunden offen für solche Modelle?
Das kommt darauf an. Viele Kunden wollen erst einmal ein günstiges Auto haben, also etwa im Abo, für 100 Euro monatlich. Dafür sind Sicherheitssysteme inbegriffen, das Nötigste sozusagen. Komfortfunktionen gibt es nur on Demand. Die große Herausforderung für die Hersteller wird es sein, Pakete zu schmieden, die für den Kunden so attraktiv sind, dass er bereit ist, dafür Geld auszugeben.
Können Sie ein Beispiel für einen solchen Komfortdienst nennen?
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine längere Nachtfahrt vor sich und buchen sich dann spontan dynamisches Kurvenlicht dazu, und Matrix-Fernlicht, das bei Gegenverkehr ausblendet. So etwas. Entscheidend ist es, Bedarf beim Kunden zu wecken.
Stefan Bratzel, Jahrgang 1967, hat in Berlin in Politikwissenschaft promoviert und erforscht seit Jahrzehnten die Automobilindustrie. 2004 gründete er das Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach und ist bis heute Direktor. Außerdem leitet er den Studiengang Automotive Management an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach.