Es ist ein kühler und nebliger Tag Ende November. Eigentlich wollte André Lotterer bereits den ganzen Morgen aktiv sein. Auf einer privaten Rennstrecke, etwa eine Autostunde östlich von Paris, ist sein DS Techeetah Formula E Team für die letzte Ausfahrt mit dem Rennwagen für die neue Saison angerückt, die am 15.12. beginnt. Kein richtiger Test, sondern ein sogenannter Film-Tag. Dabei werden keine gezeiteten Test-Runden gefahren, sondern vor allem für Foto- und Filmaufnahmen mit dem brandneuen Auto. Und nebenbei arbeitet das Team noch am Feinschliff für Lotterers Sitzposition im engen Cockpit, damit sein Kopf in der richtigen Position zu dem aus der Formel 1 bekannten Schutzbügel „Halo“ ist, der ihn im Falle eines Unfalles schützen soll.
Doch der Nebel durchkreuzt die Zeitpläne: Weil die Sicht zu schlecht ist, gibt der Betreiber die Strecke nicht frei. Erst nach der Mittagspause kann Lotterer auf die Bahn. Nach zwei bis drei Runden steuert er wieder die Box an – die Techniker checken die Daten und der Fotograf draußen an der Strecke kann die Position für die nächste Aufnahme wechseln. Anstelle des eigentlich für den Nachmittag geplanten Interviews läuft alles etwas improvisiert. Lotterer springt aus dem Auto, nimmt nur den Helm ab und steht zum Gespräch in der Garage bereit – bis ein Teammitglied unterbricht, Lotterer muss wieder einige Runden fahren. Und direkt zurück zum Interview.
Herr Lotterer, vor zwei Minuten saßen Sie noch im Auto. Wie sind die Bedingungen auf der Strecke?
Es ist sehr rutschig. Bei dem Film-Tag dürfen wir nicht mehrere schnelle Runden am Stück fahren, deshalb bekommen wir keine Temperatur in die Reifen. Das macht es nochmals schwieriger. Und dann geht gar nichts.
Fünf Grad, Nebel, Nieselregen. Die ersten beiden Rennen finden in Saudi-Arabien und Marokko bei deutlich wärmeren Temperaturen ab. Was bringen dann noch solche Vor-Saison-Testfahrten im herbstlichen Europa?
Es hilft, das Auto kennen zu lernen. Die Software-Entwicklung steht in der Formel E nie still. Mit neuen Funktionen ändert sich auch teilweise die Grafik auf dem Display im Lenkrad. Wir haben in der Formel E keine Live-Datenübertragung, die Ingenieure können keine neuen Einstellungen an das Auto funken. Ich muss also im Auto alles selbst aufrufen und einstellen, entsprechend komplex ist die Grafik. Und da müssen wir auf der Strecke ausprobieren, ob das, was wir uns überlegt haben, während der Fahrt wirklich eine Verbesserung ist oder nicht. So etwas ist unabhängig vom Wetter. Es ist sehr interessant, diese Entwicklung zu begleiten.
In Saudi-Arabien sind dann auch einige neue Fahrer am Start, auch frühere Formel-1-Piloten wie Felipe Massa, Stoffel Vandoorne und Pascal Wehrlein. Was erwarten Sie von denen?
Das wird spannend! Große Namen wie Massa, aber auch junge Piloten, die in der Formel 1 aus verschiedensten Gründen kein Team mehr gefunden haben. Es gibt aber auch ähnliche Fälle wie mich, die erst jenseits der 30 in die Formel E kommen. Gary Paffett bei HWA ist extrem erfahren, bei Mercedes in der DTM und bei McLaren als Formel-1-Testfahrer. Das Fahrerfeld ist super interessant, eine gute Mischung aus Erfahrenen, Underdogs, Formel-E-Spezialisten, Allroundern.
Zwischenzeitlich war noch ein großer Name im Gespräch: Formel-1-Weltmeister Fernando Alonso soll ein Mega-Angebot von Nissan erhalten haben – den Gerüchten zufolge hätte er dasselbe Gehalt wie zuletzt in der Formel 1 bekommen. Wäre es gut für die Formel E, eine Persönlichkeit wie Alonso zu haben? Oder würde der schale Beigeschmack überwiegen, wenn er nur wegen des Geldes gekommen wäre?
Das sind wir von Alonso doch gewöhnt, dass er wegen fetten Angeboten das Team oder die Rennserie wechselt. Ernsthaft: Ich sehe das ganz neutral. Auf der Strecke ist es mir egal, gegen wen ich fahre. Abseits der Strecke ist er natürlich auch von mir sehr willkommen, das tut der Meisterschaft gut. Interessanter wäre es natürlich, wenn ein Fahrer von sich selbst kommt. Also wenn Lewis Hamilton sagen würde: „Ich habe mit Mercedes fünf Mal die Formel 1 gewonnen, ich will eine neue Herausforderung und gehe mit Mercedes in die Formel E!“ Vielleicht wird es in den nächsten Jahren so kommen. Die Formel E hat sich schnell etabliert und ist weit gekommen. Das sieht man an dem Interesse der großen Hersteller. Und dann werden auch bald die großen Fahrer folgen. Vielleicht auch Sebastian Vettel.
Vettel mag doch nicht einmal den Hybridmotor in der Formel 1 und hätte gerne die alten V12-Motoren zurück.
Es kommt auf die Sichtweise an. Ist es zukunftsrelevant oder nicht? Es kann sich sehr schnell ändern. Natürlich hat die Formel 1 sehr viel Motorsport-Geschichte und es wird immer die Formel 1 sein. Aber wer weiß, wo die Zukunft uns hinbringt? Momentan ändert sich sehr viel, auch bei der Akzeptanz der Elektromobilität allgemein. Mit der Formel E sind wir da sehr interessant unterwegs, wenn auch die Antriebe von Straßenautos zunehmend elektrisch werden. Aber auch bei der Technik selbst treiben wir vieles voran und auch in der Motorsport-Welt haben wir ein anderes und für neue, größere Zielgruppen attraktives Renn-Format. Da würde ich nichts ausschließen.
In der Saison 2019/2020 steigt Porsche in die Formel E ein. Sie sind noch im vergangenen Jahr in der Langstrecken-Weltmeisterschaft als Porsche-Werksfahrer aktiv gewesen. Besteht der Kontakt noch?
Ich habe noch einen Vertrag mit Porsche. Aber in der Formel E bin ich langfristig an DS Techeetah gebunden. Mit welchen Fahrern Porsche in der Formel E antreten wird, muss die Zukunft zeigen.
Wie sieht eigentlich die Alltags-Mobilität von André Lotterer aus? Auf Ihrem Instagram-Account sieht man, dass Sie unter anderem einen alten Audi Quattro fahren. Haben Sie auch ein Elektroauto?
In Monaco habe ich den Quattro als Daily Driver, richtig. Ich bin Auto-Fan, also habe ich einiges in der Garage. Wegen meiner Verbindung zu Porsche natürlich einen 911, einen 67er Ford Mustang Fastback GT wie Steve McQueen, aber auch einen alten VW-Bus. Bald bekomme ich auch einen DS7 als Hybrid. DS kommt bald mit einem reinen Elektroauto, das wird dann natürlich auch interessant.
Schauen wir auf die anstehende Saison: Ihr Team Techeetah war die Überraschung der vergangenen Saison. Damals waren es „nur“ ein Kundenteam von Renault, dennoch hat ihr Teamkollege Jean-Eric Vergne den Fahrertitel geholt. Ab dieser Saison sind Sie das Werksteam von DS Automobiles. Hat sich dabei auch für Sie viel geändert?
Es ist ein großer Unterschied. Das Team ist jetzt 3-4 Mal größer. Früher hatten wir ein paar Ingenieure und Mechaniker, jetzt arbeiten 80 Leute an dem Projekt. Als Kundenteam konnten wir außerdem nie testen, außer drei Tagen vor Saisonbeginn. Den Rest mussten wir zwangsweise im Simulator erledigen. Als Werksteam dürfen wir jetzt 15 Tage testen. Und die Ingenieure bis hoch zum Technischen Direktor sind hier vor Ort, wir können Dinge gleich diskutieren. Da gehen wir natürlich ganz anders vorbereitet in die Saison.
Die Mechaniker haben in der Zwischenzeit die Sitzschale modifiziert, damit Lotterer etwas tiefer im Auto liegt. Lotterer muss zur Sitzprobe. Er nimmt seinen Helm, schlängelt sich in das enge Cockpit. Nach einer kurzen Kontrollmessung fährt Lotterer auf die Strecke. Zwei Runden und einige Fotos später geht das Interview weiter.
Und am Auto selbst?
Ein Beispiel: Wir haben an der Software innerhalb des Reglements alle Freiheiten und können ändern, was wir wollen. Früher mussten wir alles anfragen und abstimmen – ein Werksteam hat hier ganz andere Möglichkeiten. Die Meetings mit den Ingenieuren sind jetzt deutlich umfangreicher.
Was auch ein Nachteil sein kann.
Es sind noch genügend Leute aus dem „alten“ Techeetah-Team dabei. Wir versuchen, den Spirit am Leben zu halten und so effizient zu arbeiten wie in den vergangenen Jahren. Da haben wir bewiesen, dass wir als kleines Privatteam viel gegen die großen Werksteams ausrichten können. Wir haben die Team-Meisterschaft nur knapp verloren, aber den Fahrer-Titel gewonnen. Da hat man gesehen, was die Jungs hier können. Und das versuchen wir jetzt von beiden Seiten auszuschöpfen.
Welcher Unterschied ist größer: Vom Renault-Kunden-Antrieb auf den neuen DS-Antrieb oder der Sprung vom Gen1-Auto auf das neue Gen2-Chassis?
Das Auto ist der größere Sprung. Die Balance ist besser, die Reifen sind besser, das Fahrwerk ist besser. Der Antrieb fühlt sich ähnlich an, sowohl Renault als auch DS haben – im Gegensatz zu anderen Werksteams – sich für ein Ein-Gang-Getriebe entschieden. Ich bin es also gewohnt, auf der Rennstrecke nicht mehr zu schalten. Was man spürt, ist die höhere Leistung, die wir dieses Jahr verwenden dürfen. Aber das hängt alles mit dem neuen Auto zusammen.
Vor wenigen Tagen saßen Sie noch beim WEC-Rennen in Shanghai in einem Rennwagen mit Dach, Benzinmotor und Mehr-Gang-Getriebe. Wie sehr muss man sich als Rennfahrer umgewöhnen, wenn man in einen Formel-E-Rennwagen steigt?
Ich bin es gewöhnt, von einem Auto in ein anderes zu springen. Natürlich ist es einfacher, wenn sich die Autos bei Motor, Reifen und Aerodynamik ähneln. Aber ich bin lange genug in der Formel E dabei, deshalb ist das kein Problem. Der größte Unterschied ist die „feine Art zu Bremsen“, wenn man das letzte Bisschen rausholen will: In anderen Rennserien kommt man mit 300 km/h auf die Kurve zu, kann aber dank des Anpressdrucks und der Slick-Reifen extrem spät bremsen. Das geht hier nicht, die Autos sind für enge Stadtkurse gebaut – hier muss man anders mit der Bremse umgehen, auch um Energie zurückzugewinnen. Aber das Feedback vom Auto kommt sofort, wie bei jedem Rennwagen. Da sind alle gleich.
Was erwarten Sie persönlich zum Saisonstart? Im vergangenen Jahr sind Ihre Ergebnisse im Verlauf der Saison immer besser geworden.
Ja, ich habe zwei Rennen am Anfang gebraucht, um richtig Fuß zu fassen – auch wegen der fehlenden Testfahrten als Kundenteam. Am Ende war ich vorne mit dabei, auch wenn mich in einigen Rennen blöde Situationen immer wieder nach hinten geworfen haben. Ich hoffe, dass das diese Saison ausbleibt.
Nicht nur bei DS und Techeetah hat sich viel geändert, auch bei anderen Teams. HWA steigt als Vorhut von Mercedes ein, BMW ist beim Andretti-Team stärker involviert. Audi hat neben dem Werksteam erstmals ein Kundenteam, Nissan übernimmt das e.dams-Team von Renault. Werden die Kräfteverhältnisse neu gemischt oder geht es so weiter, wie die vergangene Saison geendet ist?
Ich denke, dass es schwieriger wird. Jahr für Jahr lernen alle dazu und die kleinen Tricks, die wir im vergangenen Jahr gefunden haben, werden mehr und mehr eingeschränkt. Die Jungs sind clever, also müssen wir andere Sachen finden. Die Leistungsdichte wird steigen, deshalb werden die Rennen wahrscheinlich über die Strategie und den Rennablauf entscheiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die reine Performance der verschiedenen Autos weit auseinander liegen wird. Außer jemand hat etwas Revolutionäres entdeckt.
In der neuen Saison entfällt der Autowechsel zur Rennmitte, ihr fahrt jetzt mit einem Auto das ganze Rennen durch. Ändert das viel für die Strategie oder auch das Gefühl des Fahrers?
Wir sind laufend dabei, verschiedene Rennszenarien zu simulieren. Der Fahrzeugwechsel war da nur eine Variable von vielen. Für den gesamten Renntag ändert sich aber mehr: Wenn du im Training einen Unfall oder einen Defekt hattest, konntest du bislang im zweiten Auto weiterfahren und in der Qualifikation teilnehmen. Hier fällt der zweite Wagen als Backup weg und die Mechaniker stehen vor einer großen Herausforderung. Die verlorene Trainingszeit wirkt sich dann natürlich auf die Leistung im Rennen aus.
Das Verhalten eines Formel-1-Autos ändert sich über eine Renndistanz stark, beim Start ist es mit vollem Tank deutlich schwerer als am Rennende. Die Batterie ist immer gleich schwer, egal wie der Ladezustand ist. Ändert sich auch das Verhalten eines Formel-E-Rennwagens?
Stärker als man denkt! Wenn ich aufs Bremspedal trete, wird ein Teil der Bremswirkung über die Energierückgewinnung erzeugt und der Rest über die Scheibenbremsen – das regelt die Software. Wenn die Batterie am Start noch voll geladen ist, kann sie beim Bremsen kaum Energie aufnehmen. In den ersten Rennrunden ist also ohne die vollständige Leistung der Energierückgewinnung der Stromverbrauch etwas höher. Das ändert sich je nach Ladezustand und dem Energie-Ziel, das ich für jede Runde habe. Dazu kommen natürlich Dinge wie der Reifenabbau und Motor-Temperatur, die man in jedem Rennwagen im Blick haben muss.