Von der Zukunft der Energieversorgung hat Stephan Becker eine ziemlich klare Vorstellung. „Wir gehen davon aus, dass es durch die Energiewende eine All-Electric-Society geben wird – eine Gesellschaft, in der elektrischer Strom nur noch aus regenerativen Energien erzeugt wird“, so der Projektleiter der Stadtwerke Herne. „Erdgas und alle anderen Energieformen, die CO2 ausstoßen, werden aussterben – seien sie auch noch so effizient.“
Doch um diese Vision Realität werden zu lassen muss noch einiges passieren. Für fluktuierende regenerative Energien braucht man beispielsweise eine Menge Speicher. Denn über den Netzausbau ist längst nicht alles zu kompensieren. Warum also nicht den Strom gleich vor Ort nutzen und speichern? Als Becker vor einer freistehenden Fläche der Stadtwerke stand, kam ihm eine Idee: Eine Siedlung, in der die Hausbesitzer so autark wie möglich leben.
Das ist für viele zwar kein neuer Gedanke, für Stadtwerke, die seit Jahrzehnten vom Stromverkauf leben, aber fast eine Revolution. „Wir sind in einem Veränderungsprozess, um uns zukunftsfähig aufzustellen.“ Das, so der Ingenieur, brauche auch einen gewissen Mut.
Ein deutschlandweit einzigartiges Konzept
Seit Jahren entwickeln sich die Stadtwerke schon weg vom Energielieferanten und hin zu einem Energiedienstleister. Vor drei Jahren riefen sie dafür mit „SmartTec“ eine eigene Marke für energieeffiziente Geräte wie Photovoltaik-Anlagen und Wärmepumpen ins Leben. „Wir wollen Konzepte vermarkten – der Schritt zur Klimasiedlung als Demonstrator für Energieeffizienz war da nicht mehr so groß“, erklärt Becker. Groß mag er nicht gewesen sein, ungewöhnlich aber allemal. „Es ist das erste Mal, dass die Stadtwerke Herne in ihrer über 110jährigen Geschichte ein energetisches Gesamtkonzept erstellt.“
Bei dem deutschlandweit einzigartigen Projekt werden sieben Einfamilienhäuser mit unterschiedlichen Speicher- und Energiekonzepten ausgestattet, um Strom und Wärme direkt vor Ort aus erneuerbaren Energien herzustellen. Zudem werden weitgehend ökologische Materialen verwendet. Beispielsweise sind die Häuser völlig styroporfrei. Als Messlatte für die Energieeffizienz dient ein Referenzhaus, das mit einem Lithium-Ionen-Energiespeicher und einer Erdwärmepumpe ausgestattet ist.
Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik. 18 Monate lang messen dessen Mitarbeiter, um zu schauen, was funktioniert und wo noch Nachbesserungsbedarf besteht, wieviel Energie sich maximal in einem Einfamilienhaus selbst gewinnen lässt und wie gut sie gespeichert werden kann.
Selbstversorgung dank Photovoltaik-Anlagen und Erdwärme
Grundlage des Konzepts ist eine Photovoltaik-Anlage mit Leistungen zwischen acht und zehn Kilowattpeak auf den Dächern. Dazu kommt eine Redox-Flow-Batterie der Firma Volterion mit einer Leistung von zwei Kilowatt und zehn Kilowattstunden Kapazität. Vorteile der Batterie sind ihre lange Lebensdauer von über 20 Jahren und bis zu 10.000 Ladezyklen.
Außerdem sind Leistung und Kapazität unabhängig voneinander skalierbar. Als stationärer Speicher bei Hausbesitzern spielt sie bisher dennoch kaum eine Rolle, denn sie ist teuer und gilt als träge. Der Volterion-Speicher in den Häusern der Klimasiedlung soll allerdings kompakter, günstiger und leistungsfähiger als herkömmliche Redox-Flow-Batterien sein und damit die Defizite zum Teil ausgleichen.
Eine Solepumpe nutzt die Erdwärme für Heizung und Warmwasserbereitung. Durch einen Erdwärmekollektor oder eine Erdwärmesonde wird in einem geschlossenen Kreislauf die Energie zur Wärmepumpe transportiert. In diesem Kreislauf zirkuliert Sole als Wärmeträgerflüssigkeit. Auch ein Grabenkollektor ist installiert und wird getestet. In Ländern wie den USA, Kanada und England werden diese schon seit mehreren Jahrzehnten genutzt, in Deutschland sind sie noch kaum bekannt.
Becker ist sich sicher, wie am Ende das Ergebnis der Wärmeeffizienz-Tests ausfallen wird: „Wir werden einen extrem niedrigen Wärmeverbrauch haben.“ Eine Ausnahme ist dabei jedoch das Brauchwarmwasser, das beispielsweise zum Duschen verwendet wird. Der Projektleiter glaubt aber, dass dies der einzige Aspekt ist, wo in Zukunft noch ein nennenswerter Wärmebedarf vorhanden ist.
Völlig autark sind die Häuser allerdings trotz aller Maßnahmen nicht. „Das ist nicht wirtschaftlich“, sagt Becker. Er rechnet damit, dass sich die Häuser zu rund 50 Prozent mit Energie selbstversorgen können. Bei sparsamen Bewohnern könne der Anteil eventuell noch auf 75 Prozent steigen. Finanziert werden die Häuser von den Stadtwerken. Ihnen gehört auch die Technik wie PV-Anlage, Lüftung, Wärmepumpe und Speicher. Mit einem Pachtmodell überlassen sie die Anlagen den Bewohnern. Noch geht es den Stadtwerken nicht darum, große Gewinne zu erzielen. Erst einmal wollen sie herausfinden, welche Techniken überhaupt effizient funktionieren.
Autofreie Zone
Das Interesse an den Häusern ist groß. Fünf sind bereits vergeben, obwohl noch kein Stein steht. Erst im kommenden Jahr beginnen die Bauarbeiten. „Einige Käufer interessieren sich für das Konzept, die anderen wollen einfach ein Dach über dem Kopf haben“, erklärt Becker. Der Strom kommt genauso aus der Steckdose wie in anderen Häusern auch. Der einzige Unterschied ist, dass dieser überwiegend selbst erzeugt wird. „Man muss sich darum nicht kümmern, man kann auch einfach nur dort wohnen.“
Vor allem Familien ziehen in das Klimaviertel ein. Für sie ist die Siedlung attraktiv, da Autos aus ihr verbannt sind. An einem gemeinsamen Solar-Carport inklusive Ladestation für Elektroautos können die Bewohner ihre Wagen außerhalb der Siedlung abstellen. Von dort aus bringt ein Elektro-Caddy Einkäufe und anderes schweres Gepäck direkt zur Haustür.
Dadurch, dass viele unterschiedliche Bewohner die Häuser beziehen, erhofft sich Becker genaue Ergebnisse. Nur so kann das Klimaviertel realistische Ergebnisse liefern, die auch auf andere Häuser übertragen werden können. Und das ist das Ziel der Stadtwerke. Die Klimasiedlung in Herne soll kein einzelnes Projekt bleiben. Die Stadtwerke wollen aus den eingesetzten Techniken Geschäftsmodelle entwickeln und sich damit deutschlandweit als Dienstleister positionieren.
Die Entwicklung, so Becker, könnten die Stadtwerke sowieso nicht aufhalten und sie wollen es auch nicht. „Und wenn wir es nicht machen, dann macht es jemand anderes.“ Dass das Konzept Klimaviertel viel Interesse weckt, deutet Becker als gutes Zeichen. Viele Institutionen und Ministerien, Stadtwerke und Architekten verfolgen das Projekt aufmerksam. „Es scheint ein Konzept zu sein, das zukunftsfähig sein könnte.“