Es war vermutlich die schnellste Kabinettssitzung aller Zeiten. „Sie hat genau 90 Sekunden gedauert“, sagt Marven Kaevats, Digitalberater der estnischen Regierung und des heutigen Ministerpräsidenten Jüri Ratas. Die elf Männer und vier Frauen des estnischen Kabinetts waren sich schon im Vorhinein einig und entschieden über mehrere Dutzend Anträge per Knopfdruck auf ihren iPad.

Das papierlose Kabinett ist eine von vielen staatlichen Neuerungen, die beweisen, dass Geschwindigkeit in Estland keine Hexerei ist. „Meine Steuererklärung habe ich in drei Minuten gemacht“, meint Kaevats stolz und seine Haare, die in alle Himmelsrichtungen zeigen, wackeln vergnügt. Estland ist als Vorzeige-Digitalland für seine Effizienz und Schnelligkeit so berühmt, dass mittlerweile fast alle Regierungschefs der europäischen Gemeinschaft vorbeigeschaut und sich informiert haben. Meistens fuhren sie mit offenem Mund wieder heim. Denn was in dem 1,3-Millionen-Staat im nördlichen Baltikum in den vergangenen 25 Jahren passiert ist, ist nichts weniger als eine Hightech-Revolution: die Verwandlung eines Staates in eine digitale Gesellschaft.

Die richtigen Köpfe zur richtigen Zeit

Die Erfolgsgeschichte beginnt Anfang der 1990er Jahre. Eine Reihe mutiger Politiker wagten es, das Land technologisch aufzurüsten. Allen voran der damalige junge Ministerpräsident Mart Laar, der heute als Vater des E-Government in Estland gilt. Die Modernisierung des Landes hatte nicht nur PR-Zwecke, sondern war auch dem Umstand geschuldet, dass Estland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den eigenen Staat neu aufbauen musste. Im März 2000 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, dass digitalen Unterschriften die gleiche rechtliche Gültigkeit gab wie herkömmlichen. Das ebnete letztlich den Weg für viele elektronische Dienstleistungen, die das Leben für Wirt-schaf und Gesellschaft einfacher und effizienter machte. Seit der Jahrhundertwende ist es nun möglich, die Steuererklärung online abzugeben – 95 Prozent der Esten nutzen heute „e-Tax“.

Durch „X-Road“, einer staatlichen Datenplattform, sind mittlerweile über 800 Behörden und Organisationen online verbunden. X-Road ist damit so etwas wie die Vernetzung der estnischen Bürokratie. So kann dadurch nicht nur jeder seine Steuererklärung am PC schnell und direkt abwickeln, sondern jeder auch seine Krankenakte einsehen. Mit der e-Prescription verschreiben Apotheker und Ärzte sämtliche Medikamente digital mit Hilfe der ID-Card – in der Größe einer Kreditkarte. Die ID-Card wird heute bei allen e-Diensten eingesetzt und davon gibt es in Estland mehr als 2.400. Alle Daten sind verschlüsselt. Nur ganz wenige personenbezogene Daten sind auf der Karte gespeichert. Verloren gegangene ID-Karten können unkompliziert für ungültig erklärt werden. Angeblich gab es im letzten Jahrzehnt nicht einen einzigen Fall von Missbrauch.

Estland ist online und natürlich gibt es kabelloses Internet mittlerweile in fast jeder Gaststätte, in Bus und Bahnen, am Strand und auch im Wald. Und natürlich läuft hier auch die Bildung online: Über die E-School werden Anwesenheit, Noten und Hausaufgaben für die Schüler im Netz geregelt, iPads sind in estnischen Schulen obligatorisch. Und auch wer das Volk regieren soll, kann im Netz entschieden werden: 2007 war Estland die erste Nation, die eine Parlamentswahl auch online abgehalten hat. Bei der letzten Wahl 2015 haben bereits 30 Prozent der Bevölkerung i-Voting genutzt.

Regierungen werden Dienstleister

„Man kann doch heute eigentlich niemandem mehr zumuten, auf ein Amt zu gehen, um dort in dreifacher Ausfertigung Formulare auszufüllen“, meint Digitalberater Kaevats. Regierungen sollten Dienstleister werden wie private Unternehmen – und damit Geld verdienen. Kaevats: „Die Haupteinnahmequelle von Regierungen könnten in Zukunft der weltweite Verkauf von Dienstleistungen in Form von Monatsabonnements sein.“ Ähnlich also wie jeder gewöhnliche Online-Dienst, ein Tierfutter-Caterer zum Beispiel oder ein digitaler Gemüseservice.

Kaevats hat eine erstaunliche Wandlung hinter sich. Der Mitdreißiger war in seinen Teenagerjahren eher ein Rebell, der gegen den Staat aufbegehrte – wenn es darum ging, für bessere Radverkehrsrechte zu demonstrieren. Nach seinem Schulabschluss besuchte er die Architekturschule. Sein Schwerpunkt: Strukturwandel durch Stadtplanung. Nach zehn Jahren langweilte ihn auch das. Umso mehr faszinierten ihn die digitalen Innovationen der Regierung – bis er sich dort bewarb.

Dass Estland heute als Hightech-Labor für die Staatsdigitalisierung gesehen wird, macht ihn stolz und ärgert ihn zugleich: „Es geht bei uns nicht nur um Technik. Die haben schließlich viele. Bei uns geht es vor allem um die Begeisterung für diese Technik und damit letztlich um einen Mentalitätswandel unserer Bevölkerung“, sagte er und seine Augen beginnen zu leuchten. „Es geht um die Art und Weise, wie sich unser Land verändert. Es geht um eine neue Kultur, es geht um menschliche Beziehungen, die wir verbessern und intensivieren können.“ Die Digitalisierung ist somit für ihn weniger ein Technologieprojekt, sondern vielmehr ein Veränderungsprozess. Und deswegen steht über allem: „Es geht um Vertrauen“, erklärt Kaevats fast apodiktisch. Das Wort „Vertrauen“ fällt im zweistündigen Gespräch mit ihm etwa 107 Mal. Tatsächlich ist es auch der Schlüssel zu Estlands digitalem Erfolg.

Dass die Esten dem digitalen Wandel gegenüber besonders aufgeschlossen sind und ihm einen Vertrauensvorschuss entgegenbringen wie kaum ein anderes Land auf der Welt, liegt zum einen am handelnden Personal: „Man braucht Politiker, die so etwas vorleben“, meint Kaevats. Es müsse eine Vision geben und ein nachvollziehbares Programm. Estland hat den Zugang zum Internet sogar zu einem Menschenrecht erklärt.

Ein zweiter Grund ist historisch bedingt: Nach der Wende Anfang der 1990er wollten die Esten etwas Neues. Zu lange waren sie dem Willen der anderen ausgesetzt: 1918 erklärte sich das Land, das in diesem Jahr 100-jähriges Bestehen feiert, zwar für unabhängig. Doch die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts wurden die Esten kolonialisiert, erst von den Nazi-Deutschen, später viele Jahrzehnte von den Sowjets. „Bis 1990 hatten sie also wenig Bindung zum Staat“, erklärt Wolfgang Drechsler, deutscher Professor für Staatswissenschaft an der Technischen Universität in Tallinn, der mit 420.000 Einwohnern größten Stadt in Estland. „Sie lebten in den Dörfern, während die Städte in Estland eher fremdbesiedelt waren“, meint Drechsler. Schon der Name Tallinn oder auch „taani linn“ bedeute „Stadt der Dänen“ und weise auf fremde Bewohner aus vorherigen Jahrhunderten hin.

Ein dritter Grund für das Volksvertrauen in die Digitalisierung ist schließlich Pragmatismus. Drechsler: „Deutsche glauben, dass ihre Papiere in einer guten Beamtenstube gut aufgehoben sind, auch in dreifacher Ausfertigung. In Estland herrscht mehr Vertrauen, wenn man die Dinge selbst in die Hand nimmt und nicht dem Staat überlässt.“

Und das Vertrauen in Estland wird von ganz oben vorgelebt: Denn die Regierung lässt die staatlichen Daten in „digitalen Botschaften“, also in Clouds auf Servern in estnischen Botschaften in befreundeten Ländern sichern. Zum Beispiel in Luxemburg. Und sollte Estland – im Fall eines Datenraubs oder feindlichen Territorialangriffs – auf diese Daten zurückgreifen müssen, entstünde eine bisher nie dagewesene Staatskonstruktion: „Estland könnte das erste Land der Welt werden, das ohne Grund und Boden existiert“, meint Staatswissenschaftler Drechsler.

E-Residency als Standortförderung

Die Esten besitzen heute ein liberales Wirtschaftssystem mit proportionaler Einkommenssteuer. Sie sind Mitglied der Europäischen Union, der Nato und der Euro-Zone. Doch damit nicht genug: Weil das Land mehr in den internationalen Mittelpunkt rücken wollte, startete die Regierung 2014 eine digitales Einwanderungsprogramm: e-Residency. Es ist nicht mit einer Staatsbürgerschaft, einer permanenten Aufenthaltsgenehmigung oder einem steuerlichen Wohnsitz in Estland gleichzusetzen. „e-Residency ermöglicht Ausländern in Estland ein Unternehmen zu gründen und an estnischen Dienstleistungen wie dem Bankwesen teilzunehmen – als ob sie im Land leben würden“, erklärt Adam Rang, sogenannter Chef-Evangelist für das e-Residency-Programm.

Rang ist Engländer und lebt seit vielen Jahren mit seiner estnischen Freundin in Tallinn. Wer in Estland gründen will, muss nicht nach Estland fahren. Alles funktioniert online. Für das Ausfüllen der Online-Formulare braucht man etwa 15 Minuten, 100 Euro sind für die e-Residency-Card zu zahlen und eine weitere Gebühr von etwa 190 Euro fällt für die Anmeldung an. Als virtueller Bürger darf man Konten eröffnen, Unternehmen registrieren, Patente und Marken anmelden. Ein estnisches Unternehmen, also eine OÜ (osaühing), ist vergleichbar mit einer deutschen GmbH.

Allerdings müssen Gründer statt der in Deutschland üblichen 25.000 Euro nur 2.500 Euro Mindeststammkapital mitbringen. Während die Gründungserklärung beim Notar in Deutschland bis zu 1.000 Euro teuer sein kann und es Wochen dauert, bis die Firma im Handelsregister eingetragen ist, benötigt der e-Resident in Estland nur wenige Wartetage bis zur Registrierung. Rund 40.000 Menschen weltweit gibt es nach Regierungsangaben inzwischen, die in Estland einen virtuellen Wohnsitz angemeldet haben. Tendenz steigend. 5.000 Internet-Bürger haben bereits eine Firma im estnischen Handelsregister eingetragen. Die meisten sind Kleinunternehmer und Digitalnomaden.

„Viele Gründer kommen aus Großbritannien“, sagt e-Residency-Chef-Evangelist Rang. „Sie wollen auch nach dem Brexit ihren Unternehmenssitz in der EU behalten und weiterhin von den Vorteilen des Binnenmarkts profitieren.“ Auch für Deutsche ist eine Gründung nicht uninteressant. Estland unterhält mit der Bundesrepublik ein Doppelbesteuerungsabkommen. Solange die Gewinne im Unternehmen bleiben, müssen estnische Firmen keine Körperschaftsteuer zahlen. Dividenden besteuert der Staat mit 20 Prozent. Die Sozialabgaben liegen bei 33 Prozent – solange diese nicht in einem anderen EU-Land gezahlt werden.

Dass Estland als „E-Estonia“ für viele ausländische Gründer attraktiv geworden ist, liegt auch an Estlands Start-up-Geschichte: zum Beispiel an Skype, der Telefondienst, der vor mehr als zehn Jahren in Estland erfunden wurde. Dazu kommen Gründungen wie der Kommunikationsdienst Hotmail, der Online-Überweisungsservice TransferWise, die Sicherheitssoftware Guardtime oder der Gerätehersteller AirPatrol. In Estland gibt es nach Angaben der Staatsagentur „Startup Estonia“ zurzeit über 400 Existenzgründungen mit rund 2.300 Mitarbeitern. Das beflügelt die Wirtschaft. Allein das e-Residency-Programm hat der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte zufolge dem Staat bisher über 14,4 Millionen Euro netto in die Kassen gespült. Mittelfristig soll Estland für jeden Euro, den es in das Programm investiert hat, 100 Euro zurückbekommen.

Dass für das Programm an anderer Stelle Steuereinnahmen weggenommen wurden, freut nicht jeden im Staat. Und auch in der Privatwirtschaft ist der digitale Himmel nicht so blau wie es scheint: Einige Banken wollen für ausländische Unternehmer keine Konten mehr eröffnen. Die Überwachung sei zu aufwendig, das Risiko zu hoch.

Drei Tropfen Blut für den Teufel

Estland muss weiterdenken. Und das tun die Verantwortlichen. Die Zukunft heißt nach einer berühmten estnischen mythologischen Figur: „Kratt“. „Jedes Kind in Estland weiß, wer Kratt ist“, sagt Kaevats. Kratt wurde der Sage nach von seinem Herrn aus Heu und alten Haushaltsgeräten gebildet. Damit Kratt auch leben konnte, musste sein Schöpfer dem Teufel drei Tropfen Blut geben.

Der Teufelsdeal sieht heute etwas anders aus: Im Jahr 2018 ist Kratt keine wüste Kreatur mehr, sondern „ein Algorithmus oder ein Roboter mit repräsentativen Rechten“, meint Kaevats. Kratt meint für die Esten mittlerweile das, was man heute unter Künstlicher Intelligenz (KI) versteht. „Die meisten der heutigen Anwendungen für künstliche Intelligenz sind noch nicht sehr komplex“, sagt der Digitalberater. „Aber in den nächsten Jahren wird sich einiges ändern.“ Es gehe darum, vollständig autonome Informationssysteme in allen Lebensbereichen zu ermöglichen.

KI soll im öffentlichen Sektor Estlands die Nutzerorientierung der Dienste und den Prozess der Datenanalyse verbessern. Und sie soll neue Investoren ins Land locken. Das nächste Ziel ist es deswegen, eine Testumgebung in Estland zu starten, in der nationale und internationale Forscher KI-Projekte entwickeln können. Im April 2019 will die Regierung einen konkreten Plan vorlegen.

Ein Problem bleiben die rechtlichen Bedingungen. Kaevats: „Natürlich müssen wir jetzt die Frage klären, wer für die Ergebnisse der Entscheidungen von autonomen Systemen verantwortlich ist.“ Estland gehört auch in diesem Punkt zu den wenigen Ländern, die die juristische Debatte um KI überhaupt führen. Für Kaevats ist dies auch dringend notwendig. Denn: „Künstliche Intelligenz ist da. Jetzt müssen wir schnell verstehen, wie sie möglichst effektiv für jeden funktionieren kann.“

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