Wenn das Korallenriff in Französisch-Polynesien in der Südsee zwischen vier und fünf Uhr früh erwacht, sieht das nach Chaos aus. Wie der Morgen in einer Großstadt, vom Dach eines Hochhauses betrachtet. Abertausende Fische und anderes Meeresgetier sind unterwegs. Ungeordnetes Ge wusel, so weit das Auge reicht – zumindest für den ungeschulten Beobachter. Ghislain und Emmanuelle Bardout hingegen sehen das System dahinter. Sie kennen das Riff in- und auswendig: Schließlich haben sie ganze zwei Monate dort verbracht – und dank des selbst gebauten Prototyps einer Unterwasserkapsel mehr davon gesehen und begriffen als je ein Taucher zuvor. „Mit der Kapsel können wir negative Folgen des Klimawandels für die Meeresfauna genau beobachten und dokumentieren. Unsere Studien sollen wachrütteln – Freunde, Mitmenschen und Politiker“, sagt Ghislain. Die Kapsel-Mission des Ehepaars Bardout ist der vorläufige Höhepunkt einer einzigartigen Abenteuergeschichte, die vor knapp 15 Jahren begonnen hat – und die Geschichte zweier Menschen, die sich zusammengetan haben, um ihr Leben der Erforschung der Ozeane zu widmen.
Mit Leidenschaft für die Ozeane
Mitte der Nullerjahre lernt Ghislain Bardout, Ingenieur und Tiefseetaucher, seine spätere Frau Emmanuelle Périé, Skipperin und Polarexpertin, kennen. Schon bald erkennen die beiden, dass sie nicht nur die Leidenschaft für die Ozeane verbindet, sondern auch die Leidenschaft am Entdecken. 2010 entscheiden sie sich, ihr konventionelles Leben mit Haus und Job in Frankreich zurückzulassen, ein Schiff zu kaufen und zu einer Expedition ins Polarmeer aufzubrechen. Das Schiff, ein 20 Meter langer Zweimastschoner, hat den bezeichnenden Namen „WHY“. Warum? „Weil das sein Name war, als wir es gekauft haben“, erklären Ghislain und Emmanuelle schmunzelnd.
„Klar haben wir überlegt, ihn zu ändern, aber wir haben keinen besseren gefunden. Also sagten wir uns: warum nicht?“ Und das klingt aus dem Mund der beiden Abenteurer nicht zufällig wie ein Lebensmotto. Das Forschungsprojekt „Under the Pole“ ging also auf Jungfernfahrt – und wie sich herausstellte, war diese erste 45-Tage-Expedition bloß der Appetizer einer langen Reise.
Ghislain und Emmanuelle unterbrechen ihre Mission auch nicht, als es darum geht, eine Familie zu gründen. Ihre beiden Söhne Robin und Tom kommen während einer Expedition im Eis Grönlands zur Welt. Jetzt leben die vier gemeinsam mit Husky Kajak und dem bis zu acht Mann starken Team an Bord der „WHY“.
„Natürlich ist das sehr intensiv, wenn insgesamt zwölf Leute auf dem engen Raum des Schiffs zusammen leben und arbeiten – und das sieben Tage die Woche über ein ganzes Jahr. Aber anders wäre es nicht gegangen“, sagt Ghislain, und Emmanuelle ergänzt: „Es hat sich immer richtig angefühlt – also nichts, worüber ich nachdenken musste. Die Unterwasserwelt ist unsere Berufung – eine Welt, die in dieser Form zu verschwinden droht. Und um sie besser zu schützen, sollten wir sie kennenlernen. Deshalb werden wir unser Know-how immer der Wissenschaft zur Verfügung stellen.“
Dreijährige Forschungsfahrt von Pol zu Pol
Unterstützt von namhaften Sponsoren wie Rolex und Azzaro, starten die Bardouts Mitte 2017 schließlich unter dem Titel „Under the Pole III“ ihre bisher längste, auf drei Jahre angelegte Forschungsfahrt, über Pazifik und Atlantik, von Pol zu Pol. Mit dabei: eine in knapp drei Jahren selbst entwickelte und gebaute Tauchkapsel, die es drei Forschern erlaubt, drei Tage unter Wasser zu verbringen, ohne aufzutauchen. In 20 Meter Tiefe observiert die Crew damit zwei Monate lang ein Korallenriff in der Südsee. „72 Stunden klingt nach einer ziemlich langen Zeit, aber sie vergeht total schnell“, meint Ghislain mit einem Achselzucken.
„Hast du schon einmal in einem Zelt übernachtet? Ungefähr so fühlt sich das an – nur eben unter Wasser.“ Mit der Kapsel lassen sich erstmals Abläufe beobachten, die Tauchern bis jetzt verborgen blieben. „Wir sprengen damit die bisherigen Grenzen, weil wir Tauchgänge nicht mehr in Stunden, sondern in Tagen zählen“, erklärt Ghislain. „Nimm den Regenwald als Vergleich: Als Forscher wirst du dort nicht viel entdecken, wenn du nur für ein paar Stunden präsent bist, denn du fällst auf. Die Tiere müssen erst vergessen, dass du da bist. Genau da wollten wir auch hin.“
Der Clou ist ein spezielles Gasgemisch
Bardouts Forschungskapsel funktioniert im Prinzip wie eine 1960er JahreTaucherglocke. Nur hat sie – neben einer Fernsprechanlage zum Schiff – Wände aus Aluminium und Aussichtsfenster aus thermoplastischem Kunststoff, was sie deutlich leichter und den Transport einfacher macht. „Sie hinterlässt auch keinen Fußabdruck am Meeresgrund“, sagt Ghislain. Der wahre Clou ist aber das Gasgemisch aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium, das eine spezielle Maschine in die Kapsel pumpt. So können die Forscher nicht nur tagelang in der Kapsel leben und arbeiten. Sie ersparen sich dadurch auch die mühsamen Dekompressionsmaßnahmen danach. Denn während andere Berufstaucher nach langen Tauchgängen oft Tage in Druckkammern verbringen müssen, konnten die Bardouts durch den Einsatz dieses Sauerstoff-Stickstoff- Helium-Gemischs ihre eigene Dekompressionszeit nach drei Tagen unter Wasser auf nur drei Stunden reduzieren.
„Somit können wir auch mehrere mehrtägige Tauchgänge hinter einander machen“, sagt Ghislain. Die Nebenwirkung, dass die Stimmen dank des Heliums in der Kapsel stark nach Micky Maus klingen, nimmt die Crew mit Humor. „Als gelernter Taucher hast du immer die Zeit im Blick“, erklärt Ghislain den Unterschied zu herkömmlichen Tauchgängen. „Hier ist sie plötzlich egal – ein groß artiges Gefühl! Bei den ersten erfolgreichen Tests habe ich vor Freude geweint. Wir können sehen, wann die Fische aufwachen, wer zuerst sein ‚Haus‘
reinigt und wer sich gleich in der Gruppe auf Nahrungssuche macht.“
„Und nachts“, fügt Emmanuelle begeistert hinzu, „vibriert die Kapsel von den Gesängen der Wale.“
Dem Polarpanzer beim Schmelzen zugeschaut
Die wissenschaftliche Mission von Emmanuelle und Ghislain Bardout ist noch lange nicht erfüllt. Tatsächlich liefern ihre Langzeitbeobachtungen vom Boden des Ozeans ganz neue Erkenntnisse für mehr als 190 internationale Forschungszentren, mit denen das Paar zusammenarbeitet. Im Fachjargon nennt man das Biodiversität; gemeint ist damit nichts Geringeres als der Schlüssel zum Verständnis des ökologischen Systems der Erde – und die Basis dafür, dass wir diesem System mit dem notwendigen Respekt begegnen.
„Wir haben vor allem auf dem Polareis gesehen, dass uns die Zeit davonläuft“, sagt Emmanuelle. „Man kann dort dem Eispanzer beim Schmelzen zusehen. Was den Klimawandel betrifft, müssen positive Veränderungen viel schneller herbeigeführt werden, als das derzeit der Fall ist. Unser Traum, nein, unser Ziel ist, dazu etwas beizutragen und mit der Mission Menschen zu inspirieren, das Gleiche zu tun.“