Pop-up-Radwege sind seit Beginn der Covid-19-Pandemie im Frühjahr in vielen deutschen Großstädten ein heißes Thema. Mit einfachen Mitteln wurden Autospuren in sichere Radwege umgebaut. Die Idee stammt aus den USA und wurde 2016 beim Internationalen Symposium des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) in Mannheim erstmals auch hierzulande groß debattiert.
Dass vier Jahre später erste Umsetzungen zu sehen sind, erfüllt die ADFC-Verantwortlichen mit Stolz und zeigt, dass das Thema Radverkehr nach rund 40 Jahren Stillstand in immer mehr Städten auf die Agenda rückt. Doch mehr Öffentlichkeit und Fläche für Radverkehr bringt auch juristischen Gegenwind, wie eine Klage gegen die Pop-up-Radwege in Berlin durch einen Kommunalpolitiker zeigt. Für Umweltministerin Svenja Schulze unverständlich: „Kein vernünftiger Mensch kann etwas gegen mehr Sicherheit für Radfahrer haben.“ Ziel müsse es vielmehr sein, lebenswerte Städte zu schaffen, in denen Menschen weiterhin mobil sind. Die aktuelle Flächenverteilung hält sie für ungerecht. Statt Platz für Autos sollte mehr Platz für Menschen und Freizeit geschaffen und das „Fahrrad als ein Grundpfeiler unserer Alltagsmobilität“ gedacht werden.
Gegen Skeptiker anfahren
Um den Worten auch Taten folgen zu lassen, braucht es engagierte Politiker wie Martin Hikel. Der SPD-Mann ist Bürgermeister des Berliner Ortsteils Neukölln und einer der Initiatoren der ersten Pop-up-Radwege. Er weiß: „Zeitgemäße Stadtplanung wird nicht mehr durch die Windschutzscheibe gedacht.“ Klar gebe es immer wieder Skepsis und Gegenwind, aber das sei kein Grund, keine weiteren Maßnahmen zu ergreifen. Diese müssten allerdings mit Augenmaß und „nicht mit der Brechstange“ durchgeführt werden und den Menschen einen Mehrwert bieten. Dabei seien Pop-up-Radwege aber nicht unbedingt das Nonplusultra der Verkehrsplanung, wie Daniel Zöhler betont. Der Stadtbaurat von Bocholt erklärt, dass sich nicht alle Ideen aus Großstädten Eins-zu-eins auf kleinere Städte übertragen lassen. In Kleinstädten gebe es keine so breiten Straßen, um noch Platz für einen Pop-up-Radweg zu schaffen. Entsprechende Umbauten seien aus Platzmangel unmöglich oder zu teuer. Sein Vorgehen: Neue Quartiere so gestalten, dass die Menschen Lust auf das Fahrrad bekommen.
Verwaltungen kämpfen um gute Köpfe
Wer den Radverkehr ins Rollen bringt, muss auch an das Parken denken, betont Andreas Hombach vom Fahrradparksystemanbieter WSM. Sichere und witterungsfeste Abstellanlagen seien ein wesentlicher Bestandteil für eine erfolgreiche Zukunft des Radverkehrs. Die Covid-19-Pandemie verschärft laut Hombach ein strukturelles Problem: fehlendes Personal in den Verwaltungen.
„Fördergelder vom Bund sind vorhanden, werden aber nicht abgerufen, weil keine Planer und Sachbearbeiter da sind. In vielen Kommunen wird zudem das Personal zur Pandemiebekämpfung herangezogen. Da bleibt kaum jemand für die Planung einer Radinfrastruktur“, erklärt Hombach. Ein Problem, das Ronny Meyer nur zu gut kennt. Er ist als Bremer Staatsrat zuständig für den Bereich Mobilität. Vieles im Bereich Fahrradinfrastruktur sei aktuell Behelf, dabei wolle der Stadtstaat eigentlich deutlich mehr für den Radverkehr tun. „Es geht nicht nur darum, Geld zu haben, sondern auch die Verkehrsplaner, die das umsetzen“, sagt Meyer. Da jetzt mehr und mehr Städte den Radverkehr entdeckten, entbrenne ein Wettbewerb um die besten Köpfe.
Die Radprofessuren kommen
Um mehr Nachwuchsingenieure zu begeistern, hat das Bundesverkehrsministerium zum Jahresbeginn sieben Hochschulen beim Aufbau einer speziellen Radprofessur gefördert. Zum 1. November wurde mit Jana Kühl die erste Professur für Radverkehrsmanagement an der Hochschule Ostfalia besetzt. Der Akademikerin geht es zwar in erster Linie um das Vermitteln von Grundwissen und Regelwerken, ein wichtiger Teil ihrer Forschung und Lehre werde aber die Kommunikation sein: „Man muss aktiv mit Protesten umgehen. Es gehört dazu, zu lernen, wie man Prozesse begleitet“, sagt Kühl und verweist darauf, dass die Praxis anders sei als die gelernte Theorie.
Öffentliche Debatten verliefen gerade bei Verkehrsthemen immer konfliktbeladen, weil verschiedene Verständnisse aufeinandertreffen. Deshalb sei es wichtig, z. B. durch Kampagnen aufzuzeigen, wie Mobilität ohne Auto funktionieren könne. Für Alexander Kraft, Pressesprecher beim Liegeradhersteller HP Velotechnik, ist bereits die Schaffung der Professuren ein wichtiger Schritt bei der Kommunikation rund ums Thema Fahrrad: „Wenn es Änderungen beim Autoverkehr gibt, stehen Professoren bereit, um der Öffentlichkeit eine wissenschaftliche Einordnung zu geben. Das haben wir beim Fahrrad noch nicht. Noch nicht! Aber vielleicht gelingt es ja mit den Radprofessuren, dass künftig der eine oder die andere auch medial als Fachmann/-frau wahrgenommen wird, ein ‚Prof. Dr. Fahrrad‘ sozusagen“, hofft Kraft. Die Manufaktur aus Kriftel arbeitet bereits eng mit der Hochschule Rhein-Main zusammen, die zum Sommersemester 2021 eine Radprofessur besetzen wird.
E‑Bike-Hersteller engagiert sich
Die nächste Stelle wird laut Bundesverkehrsministerium bereits zum 1. Januar 2021 von Dennis Knese an der Frankfurt University of Applied Sciences besetzt. Diese Stiftungsprofessur fördert der Premium-E‑Bike-Hersteller Riese & Müller mit einer 50-Prozent-Stelle für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter. Die Mühltaler gehören jedoch zu einer Minderheit unter den Fahrradherstellern, die sich aktiv an der politischen und wissenschaftlichen Arbeit beteiligen.
Dabei sei das eine Selbstverständlichkeit für die Zukunft der Mobilität, wie Geschäftsführerin Sandra Wolf betont: „Seit unserer Gründung gestalten wir aktiv die Mobilität der Zukunft durch unsere E‑Bikes und E‑Cargo-Bikes. Wir wollen die Menschen dazu bewegen, das Auto öfter stehen zu lassen. Infrastrukturelle Änderungen sind ein wichtiger Bestandteil der Verkehrswende, weswegen wir uns gerne im Bereich Lehre und Forschung engagieren.“
Entscheidungsprozesse beschleunigen
Es passiert also einiges rund um den Radverkehr. Dennoch lautete ein Vorwurf unter den Teilnehmern des ADFC-Symposiums, dass viele Politiker und Verwaltungen keinen Willen zur Verkehrswende zeigen würden. Allerdings sind infrastrukturelle Planungen in Deutschland an langwierige Prozesse gebunden. So wird gerade bei der Verkehrsplanung der Bürger aktiv mit einbezogen. Diese Befragungen ziehen einen Entscheidungsprozess häufig in die Länge, was schnelle Ergebnisse erschwert. Das sorgt für Unmut auf Seiten engagierter Initiatoren.
Außerdem hinkt die Stadtplanung der technischen Entwicklung deutlich hinterher, was sich beispielsweise beim Thema Elektromobilität zeigt. Aus den USA kommt deshalb der diskussionswürdige Vorschlag, Radverkehrsplanung schnell und unbürokratisch durchzuführen. Sobald die Ergebnisse für die Menschen erlebbar sind, bekommen die Maßnahmen auch Akzeptanz.
„Wir brauchen für die Realisierung einer flächendeckenden Radinfrastruktur in einer Stadt elf Wochen“, fasst Jennifer Toole, Präsidentin des Designbüros Toole-Design, zusammen und plädiert für mehr Mut bei der Planung, denn niemand könne am Anfang fehlerlos agieren und es jedem recht machen. „Perfekt ist der Feind von gut“, so Toole. Doch egal, wie das Vorgehen auch ist, bei der Mega-Aufgabe Verkehrswende wartet noch viel Arbeit auf alle Beteiligten.