Es ist oft nur eine Zahl, an der ein Elektroauto beurteilt wird: Wie hoch ist die Reichweite? Die Angst, mit leerer Batterie liegenzubleiben oder im eigenen Alltag zu oft von langwierigen Ladevorgängen eingeschränkt zu werden, sie hängt noch in vielen Köpfen.
Dementsprechend bemühen sich auch viele Hersteller, ihre E-Autos mit einer möglichst hohen Reichweite anzupreisen. So versprach Volkswagens Elektro-Vorstand Thomas Ulbrich kürzlich im Interview mit dem Tagesspiegel für die kommende ID.-Reihe eine Reichweite von bis zu 550 Kilometern. Ein beinahe fabelhafter Wert.
Wie fabelhaft die 550 Kilometer wohl sein dürften, zeigt eine Fahrt in einem von Ulbrichs aktuellen Fabrikaten, dem e-Golf. Das Modell, laut dem VW-Manager „auf Monate ausverkauft“, kommt im Normtest auf eine Reichweite von 300 Kilometern. Als „realistische Reichweite“ gibt VW rund 200 Kilometer an. Einen Wert, den wir nach über 800 Kilometern im e-Golf so ungefähr bestätigen können. Warum nur „so ungefähr“? Weil es beim e-Golf sehr stark darauf ankommt, wie man ihn nutzt.
Nur selbst fahren macht klug
Klar ist bei diesen Zahlen aber auch: Die Diskrepanz zwischen Normverbrauch und dem realen Verbrauch beim Kunden ist bei Elektroautos fast noch größer als die schon oft bemängelten Unterschiede bei Verbrennern. Das hat einen einfachen Grund: Im e-Golf heißt er „Eco+“-Modus.
In jenem Fahrmodus ist es in der Tat möglich, 300 Kilometer weit zu fahren. Nur will man das nicht wirklich. Denn der „Eco+“-Modus in einem Elektroauto geht weit über das hinaus, was man bei einem Diesel als „Eco“-Modus kennt. Da schaltet das Automatikgetriebe früher hoch, die Motorsteuerung stellt unter Umständen das Diesel-Luft-Gemisch etwas magerer ein, zudem laufen starke Verbraucher wie die Klimaanlage etwas gedämpfter. Und beim Elektroauto? Mangels Mehrgang-Getriebe kann nicht früher geschaltet werden. Dafür wird der Stromfluss durch den Motor gedrosselt, im e-Golf die Höchstgeschwindigkeit auf 95 km/h begrenzt und die Klimaanlage nicht sparsamer betrieben, sondern gleich ganz abgeschaltet. Lediglich das Gebläse läuft noch ein wenig und pustet etwas Außenluft in den Innenraum, ohne Temperierung.
Ich habe es ausprobiert: Den e-Golf in der Tiefgarage unseres Verlagshauses an der Wallbox geladen. Im Bordcomputer hatte ich eine geplante Abfahrtszeit einprogrammiert. Damit wird der Wagen nicht sofort beim Anschließen geladen, sondern erst so, dass er zur geplanten Abfahrt voll geladen und temperiert ist.
Den Innenraum habe ich (mit dem Strom aus dem Netz) auf 22 Grad vorheizen lassen, auch die Batterie war wegen des gerade erst abgeschlossenen Ladevorgangs temperaturmäßig im Wohlfühlbereich.
Kälte setzt der Reichweite zu
Die Pendelstrecke (ansonsten fahre ich meistens mit dem Fahrrad) ist prädestiniert für den „Eco+“-Modus: Zwölf Kilometer, davon ungefähr fünf Kilometer im Stadtverkehr und sieben auf einer mehrspurigen Bundesstraße mit 80 km/h Tempolimit. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Mit einem Verbrauch von 12,2 Kilowattstunden auf 100 Kilometer konnte ich den Normwert um eine ganze Kilowattstunde unterbieten. Hätte ich den Wagen nicht nach 12 Kilometer am Straßenrand geparkt, wären wohl jene 300 Kilometer drin gewesen, die VW für den e-Golf angibt.
Von den 297 Kilometern, die das Display bei der Abfahrt versprochen hat, sind noch 286 Kilometer übrig – auf 12 Kilometern nur 11 Kilometer verbraucht. Super Sache, funktioniert also mit der Reichweiten-Anzeige. Denkste!
Am nächsten Morgen sieht die Lage anders aus. Über Nacht hat es geregnet und ist deutlich ausgekühlt. Fünf Grad zeigt das Thermometer im e-Golf noch an – weit außerhalb der Comfort Zone für Fahrer und Batterie. Bei der Temperatur gibt der Akku nur etwas widerwillig seinen Strom ab. Dazu habe ich mich dann doch für die Klimaanlage entschieden. Wegen der Feuchtigkeit läuft die ersten Minuten auch das Gebläse mit. Und von den 286 Kilometern vom Vorabend sind plötzlich nur noch 164 übrig. Weil man sich ein Minimum an Komfort eines modernen Autos gönnt.
Anderes Beispiel: Eine Fahrt von der Redaktion in Düsseldorf zu einem „Edison Talk“ am Hockenheimring. Für die etwa 300 Kilometer lange Strecke taugt der „Eco+“-Modus kaum. Natürlich schätzen wir die Vorzüge eines Elektroautos sehr und nehmen auch gerne die ein oder andere Einschränkung in Kauf. Am Ende des Tages muss sich ein mit etwas Ausstattung rund 40.000 Euro teures Auto des Jahrgangs 2018 dann doch mit dem Komfort eines gewöhnlichen Golfs vergleichen lassen.
Das bedeutet dann aber, nicht mit 95 km/h ohne Klimaanlage hinter den Lkw im Windschatten fahren. Sondern je nach Abschnitt ein Reisetempo von 100 bis 120 Stundenkilometer, mit frischer Luft und dem ein oder anderen Assistenten. Dann sind realistisch nur noch 160 Kilometer drin. Und ohne richtige Schnelllade-Lösung werden dann 300 Kilometer sehr lang.
Weg mit der Reichweiten-Anzeige!
Wir sind also sehr gespannt, wie eine ähnliche Situation mit einem VW ID. ablaufen würde. Die Batterietechnik ist dann um einige Jahre weiter als im e-Golf (der mit seiner luftgekühlten Batterie schon heute etwas veraltet ist), auch Verbraucher wie die Klimaanlage und auch die Antriebsmotoren sind dann effizienter.
Ja, auch der ID. wird mit einigen Komfort-Features mehr verbrauchen als im „Eco“-Modus. Und eben keine 550 Kilometer weit kommen. Oder wie es VW-Vorstand Ulbrich ausdrückt: „Im Fahralltag ist es dann ein bisschen weniger.“ Die Frage ist, ob die Reichweite dann auf 300 Kilometer zusammenschnurzelt oder ob selbst mit den Einbußen noch 450-480 Kilometer möglich sind.
Ist es überraschend, dass die Reichweite sinkt, wenn der Batteriestrom nicht nur in die E-Motoren fließt? Keineswegs. Die volatile Reichweitenanzeige macht uns aber zwei Dinge klar: Die Politik hat es mal wieder verpennt, bei den Normtests für Elektroautos einen vernünftigen Rahmen vorzugeben. Ein Extrem-Spar-Modus, der überspitzt formuliert gerade noch Strom für Scheinwerfer und Blinker übrig lässt, sorgt zwar für eine hohe Reichweitenangabe, aber eben keine, mit der ein Verbraucher etwas anfangen kann und die bei einer Kaufentscheidung hilfreich ist.
Zum Anderen zeigt es aber auch, wie verrückt wir uns von der Kilometerzahl im Display machen lassen. Auch die meisten modernen Benziner und Diesel haben Verbrauchs- und Reichweitenanzeigen. Man kann sie aber ganz einfach ausblenden. In den meisten E-Autos geht das (noch) nicht, die Reichweite wird immer und sehr präsent im Display eingeblendet. Die Auswirkung, ob man die Heizung ein halbes Grad wärmer oder den Tempomat fünf km/h schneller einstellt, sieht man sofort – ob man will oder nicht.
E-Autos wie Smartphones nutzen
Zeigt ihr Smartphone an, wie lange der Strom noch reicht? Springt die Restdauer nach unten, wenn Sie eine Netflix-Serie in bester Auflösung streamen? Eher nicht, viele haben sogar die Prozent-Anzeige deaktiviert. Sie wissen einfach, dass der Akku für die normale Nutzung über einen Tag reicht.
Beim Auto lassen wir uns noch zu sehr von der Reichweiten-Hysterie anstecken. Ich weiß, dass selbst im e-Golf der Akku bei der gewohnten Pendelstrecke für eine ganze Woche reichen würde. Ich brauche im Alltag nicht die nichtssagende Kilometer-Anzeige, der grobe Akkuladestand (VW gibt keine Prozentwerte an) reicht vollkommen aus.
Der erste Schritt, sich von der Reichweiten-Prägung zu verabschieden, wäre ganz einfach: Schafft diese Reichweiten-Anzeige aus meinem Blickfeld.