Knapp 170.000 öffentliche Lademöglichkeiten für Elektroautos gab es am 1. Juni in Deutschland – nach der Zählung der Bundesnetzagentur. Demgegenüber stand ein Bestand von rund 2,75 Millionen Autos mit Ladestecker – Batterieautos und Plug-in-Hybride. Nach Adam Riese müssen sich also rein rechnerisch 16 Elektroautos einen Ladepunkt teilen – so sie denn nicht daheim geladen werden.
Damit lässt sich eigentlich ganz gut leben. Trotzdem fordern der Verband der Automobilindustrie (VDA), aber auch Automobilclubs wie der ADAC einen massiven Ausbau und schnelleren Ausbau der öffentlichen Ladeinfrastruktur für Elektroautos. Manche Ladenetzbetreiber wie Marktführer EnBW haben hingegen den Ausbau verlangsamt – unter Hinweis auf die geringe Auslastung der Ladestationen und die mangelnde Wirtschaftlichkeit der Investitionen.

Die 57-jährige Wirtschaftsingenieurin ist seit 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (ABWL) und Produktionsmanagement an der Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Ingenieurwissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Modellierung und Optimierung von nachhaltigen Produktions- und Logistiksystemen. Foto: Privat
Da stellt sich die Frage: Wie viele Ladesäulen brauchen wir in Deutschland wirklich, um der Elektromobilität zum Durchbruch zu verhelfen? Die Wirtschaftsingenieurin Prof. Jutta Geldermann von der Universität Duisburg-Essen hat darauf eine klare, wenn auch unbequeme Antwort: Es braucht weniger als gedacht – dafür aber an den richtigen Stellen.
Im Rahmen einer Dissertation wurde am Beispiel der Stadt Essen ein mathematisches Modell entwickelt, das auf realen Mobilitätsdaten basiert. Mithilfe von „Operations Research“ und geografischer Informationssysteme (GIS) wurde analysiert, wie viele Ladepunkte notwendig wären, um 500 Elektrofahrzeuge bedarfsgerecht und kosteneffizient zu versorgen. Das überraschende Ergebnis: 118 klug platzierte Ladepunkte reichen aus, um 800 relevante Orte abzudecken.
„85 Prozent der Fahrzeuge konnten bei der Arbeit oder in der Nähe laden – aber nur 37 Prozent in Wohnortnähe-“
„Einfach mal drauflosbauen ist der falsche Weg“
Gerade im dicht besiedelten Ruhrgebiet sei eine planlose Verteilung von Ladesäulen wirtschaftlich wie ökologisch ineffizient. Geldermanns Modell berücksichtigt neben der Verkehrsgeografie auch variable Strompreise und den zukünftigen Energiemix, wie er etwa im Jahr 2030 mit einem hohen Anteil erneuerbarer Energien zu erwarten ist. Besonders effektiv sei laut Studie das kontrollierte Laden bei hoher Stromverfügbarkeit – etwa nachts oder bei viel Wind und Sonne.
Die Modellrechnungen zeigen, dass ein gezielt aufgebautes Netz von AC- und DC-Ladesäulen die Gesamtkosten pro Ladepunkt um bis zu 50 Prozent reduzieren kann – im Vergleich zum heutigen, unkoordinierten Wildwuchs. Geldermanns Fazit: „Vorher rechnen spart hinterher Millionen.“
Kritik an VDA-Forderungen: „Mehr ist nicht automatisch besser“
Die Forderung des VDA nach 1 Million öffentlicher Ladepunkte bis 2030 hält Geldermann für nicht durchdacht – jedenfalls solange unklar ist, wo diese Ladepunkte stehen sollen, wie sie ausgelastet werden und wie sich das Nutzerverhalten verändert. Zum Beispiel durch Homeoffice, bidirektionales Laden oder längere Parkzeiten am Arbeitsplatz.
Zudem zeige die Erfahrung: Viele bestehende Ladepunkte würden kaum genutzt. Nach Erhebungen der auf die Elektromobilität spezialisierten Beratungsunternehmen Cirrantic und TheonData für den „Charging Radar“ von EDISON finden an den öffentlichen Ladepunkten im Land derzeit im Schnitt nur 25 mal im Monat genutzt, manche sogar nur einmal im Monat. Geldermann: „Dann stehen sie offensichtlich am falschen Ort.“
Schnelllader oder Schnarchlader?
Auch in der Debatte über AC- versus DC-Ladung vertritt Geldermann eine pointierte Meinung. Während Anbieter wie EnBW und Ionity aus Wirtschaftlichkeitsgründen auf immer mehr Schnellladeparks setzen, sei das laut Geldermann nicht in jedem Fall sinnvoll: „Wenn Fahrzeuge viele Stunden an einem Ort stehen – etwa über Nacht oder während der Arbeitszeit – reicht eine 11-kW-Säule völlig aus.“ Die teuren DC-Ladepunkte könnten sich langfristig nur dort rechnen, wo der Durchsatz hoch genug ist.
Warum hört niemand hin?
Trotz der belastbaren Erkenntnisse sei die Studie bislang kaum beachtet worden, beklagt die Professorin – nicht von der Stadt Essen, nicht von Bundesministerien. „Wir sind damals untergegangen – erst in Corona, dann im Hackerangriff auf unsere Uni“, sagt Geldermann. Ihre Hoffnung: dass Stadtwerke, Autobauer und Ladedienstleister künftig stärker mit der Wissenschaft kooperieren.
„Es müsste viel mehr Koordination geben: Zwischen Kommunen, Stadtwerken, Tankstellenbetreibern und Dienstleistern wie EnBW oder E.ON. Aber leider plant jeder für sich – oft am tatsächlichen Bedarf vorbei.“
Die in Essen entwickelte Methodik ist nicht nur lokal anwendbar, sondern grundsätzlich übertragbar auf andere Städte – und perspektivisch auch auf das gesamte Bundesgebiet. Es braucht dazu nur detaillierte Mobilitätsdaten, GIS-Systeme und die Bereitschaft, Planung nicht nach Bauchgefühl, sondern datenbasiert zu betreiben.
Geldermann plädiert für einen Strategiewechsel beim Ausbau der Ladeinfrastruktur: „Nicht einfach mehr bauen – sondern intelligenter planen.“
Wer mehr wissen und von dem Essener Modell lernen möchte – hier auf ORCA.nrw sind sämtliche Daten dank einer Förderung des Landes NRW frei verfügbar.

Das Optimierungsmodell zur simultanen Planung von Ladestandorten und Ladezeitpunkten berücksichtigt eine Vielzahl von Parametern wie Investitionsausgaben, Ladeleistung sowie den Energieverbrauch von Elektroautos sowie die üblichen Ladehübe je nach Fahrprofil.
So funktioniert das Essener Planungsmodell
Die Universität Duisburg-Essen hat ein datenbasiertes Modell zur optimierten Planung von Ladeinfrastruktur entwickelt – am Beispiel der Stadt Essen.
Die Methodik:
- Grundlage: Mobilitätsdaten aus der bundesweiten Studie „Mobilität in Deutschland“ (MiD)
- Zielgröße: Bedarfsgerechte Versorgung von 500 Elektrofahrzeugen
- Datenbasis: Realistische Bewegungsprofile (Wohnort, Arbeitsplatz, Freizeit)
- Berechnungsmodell: Gemischt-ganzzahliges Optimierungsmodell (Mixed Integer Programming), entwickelt in Python
- Berücksichtigte Faktoren:
- Standorte und Verweildauer der Fahrzeuge
- Kosten für Infrastruktur und Strom
- Variable Strompreise (inkl. Erneuerbaren-Anteil 2030)
- Ladeverhalten (unkontrolliert vs. gesteuert)
Die Ergebnisse:
- 118 Ladepunkte reichen aus, um 500 Fahrzeuge effizient zu versorgen
- 85 % der Nutzer können am Arbeitsplatz oder in der Nähe laden
- Nur 37 % haben eine Lademöglichkeit in Wohnortnähe
- Optimierte Planung senkt die Gesamtkosten pro Ladepunkt um bis zu 50 %
- Kontrolliertes Laden (z. B. bei viel Sonne oder Wind) verbessert die Netzauslastung
Fazit: Statt mehr oder minder planlos Säulen aufzustellen, lohnt sich eine datengetriebene, ökonomisch sinnvolle Planung.