Minustemperaturen, Schnee oder Regen, das alles ist nun wirklich kein Problem für Alexander Hanisch. Der 37-Jährige lebt mit seiner Familie im schwäbischen Esslingen und arbeitet als Ingenieur im Stuttgarter Ortsteil Vaihingen. Um mit dem Auto ins Büro zu gelangen, müsste er zweimal täglich 33 Kilometer um die Stadt herumfahren. Darauf hat er schlicht keine Lust. „Autofahren ist in Stuttgart eine Zumutung. Lange Staus auf den Straßen sind hier Alltag.“ Die Strecke mit dem Rad ist mit 21 Kilometern deutlich kürzer. Und Staus auf den Radwegen gibt es nicht. Allerdings gilt es auch, typisch Schwabenländle, 500 Höhenmeter zu bewältigen. Das hält einerseits fit, sorgt aber je nach Wettersituation auch für ordentlichen Schweißfluss. Im Frühjahr 2015, als sich die Bahn gerade im Dauerstreik befand, legte sich Hanisch deswegen ein Mountainbike mit elektrischem Antrieb zu. Heute findet er: „Die einzig vernünftige Lösung.“
Egal, ob Regen oder Sonnenschein: Hanisch fährt nun mit dem Rad – jeden Werktag. Bisher hat er so rund 19.500 Kilometer zurückgelegt. Im Frühherbst, bevor es so richtig kalt und nass wird, gibt der Ingenieur sein Rad noch einmal zur Inspektion. Dann beginnt so langsam die Zeit für seinen speziellen Winter-Radel-Look. „Im Winter sehe ich aus wie das Michelin-Männchen“, lacht er. Andere würden von Zwiebeltechnik reden: Direkt auf der Haut trägt Hanisch eine erste, dünne Lage Funktionskleidung, darüber Wollsachen und eine bequeme Jogginghose und schließlich – als letzte Schicht – einen Windbreaker, eine Jacke gegen den kalten Fahrtwind. Dazu kommt ein Gesichtsschutz aus Baumwolle, wie ihn auch Motorradfahrer verwenden. Über die Schuhe zieht Hanisch wasserabweisende Gamaschen. Und wenn es schneit, trägt er statt des normalen Fahrradhelms auch schon einmal Skihelm und Skibrille. Sicher ist sicher.
„Am Anfang haben mich die Kollegen komisch angeguckt, wenn ich so ins Büro kam. Inzwischen sprechen sie mich eher darauf an, wenn ich mal ohne mein Rad-Outfit erscheine.“ Hanisch hält für sein Unternehmen oft Seminare und Lehrgänge ab. Auch zu diesen Kundenbesuchen fährt er, wann immer möglich, mit dem Rad. „In dem Fall nutze ich einen Radanhänger, in dem ich meinen Anzug aufhänge. In den Tiefgaragen der Hotels, in denen die Seminare stattfinden, ziehe ich mich um. Das hat bisher immer gut geklappt.“
Hanisch kann sich nur wundern über den weitverbreiteten Irrglauben, Pedelecfahren sei nicht sportlich, nur etwas für alte Leute oder Menschen ohne Kondition. „Ich bin an der frischen Luft und muss mich in der Grippezeit nicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln anhusten lassen.“ Und natürlich trainiere das Radeln auch seine Muskeln und sei gut für die Kondition: „In der Ebene trete ich selbst, aber am Berg nutze ich das tolle Gefühl des Motors.“ Duschen gibt es in seinem Büro zwar keine, aber das sei auch kein Problem. Um nicht allzu verschwitzt am Ziel anzukommen, hat er eine eigene Fahrstrategie entwickelt: „Auf dem Hinweg fahre ich gemächlich, auf dem Rückweg gebe ich Gas.“
Pedelecs brauchen im Winter Extrapflege
So hält er es das ganze Jahr. Aber im Winter unterliegen Radfahrten mit einem Pedelec eigenen Regeln. Moderne E-Bikes beziehen ihre Energie aus leistungsstarken Lithium-Ionen-Akkus. Am wohlsten fühlen sie sich bei Außentemperaturen zwischen 5 und 30 Grad Celsius. Fällt die Temperatur unter den Gefrierpunkt, kann die Leistung des Energiespeichers und damit die Reichweite jedoch auf bis zu 70 Prozent des Gewohnten zurückgehen, wie Anja Knaus vom schweizerischen E-Bike-Pionier Flyer erklärt. „Die verkürzte Reichweite erfordert dann eventuell ein neues Akkumanagement oder eine andere Ladestrategie.“
Dann könnte es beispielsweise für Pendler sinnvoll sein, ein zweites Ladegerät am Arbeitsplatz zu stationieren. Bei Temperaturen unterhalb des Gefrierpunkts sollte der Besitzer seinen Energiespeicher nach Fahrtende auch immer mit in die Wohnung oder ins Büro nehmen, damit er nicht zu sehr auskühlt. Während des Fahrens wiederum hält sich der Akku durch die Stromentnahme dann selbst warm. Spezielle Akkuhüllen aus Neopren verstärken diesen Effekt, was wiederum der Reichweite zugutekommt.
Und natürlich brauchen Pedelecs im Winter auch mehr Aufmerksamkeit und Pflege als Räder ohne Hilfsantrieb. „Das Straßensalz ist unheimlich korrosionsfördernd“, sagt René Filippek, Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Er rät dazu, die Fahrradkette in der kalten Jahreszeit regelmäßig mit Kettenfett zu schmieren und die Kontakte der Akkus mit etwas Feinmechanikeröl zu polieren. Besser dran sind Besitzer von E-Bikes mit Riemenantrieb – die Carbonriemen kommen ohne Schmiermittel aus und ziehen keinen Dreck an.
Sicherer Halt mit Spikereifen
Hanischs Weg zur Arbeit führt ihn über Wald- und Feldwege, echte Radwege und reine Autostraßen. Auf den Strecken zwischen den einzelnen Stadtteilen sind Geh- und Radwege seiner Erfahrung nach oft gar nicht geräumt. Zweimal ist er in den vergangenen Wintern gestürzt. „Da war unter dem Schnee Eis und in der Kurve hat es mich hingelegt. Zum Glück ist nichts passiert.“
Gerade in der Übergangszeit, wenn es ständig taut und wieder friert, kann es schnell gefährlich werden. Um das Unfallrisiko zu mindern, wird Hanisch sein Mountainbike nun mit Spikes, also Reifen mit kleinen Metallstiften in der Lauffläche, nachrüsten. „Anders als für das Auto sind Spikereifen für Fahrräder erlaubt. Damit kann man auch auf vereisten Flächen lenken und bremsen“, sagt ADFC-Experte Filippek. Eine preisgünstige Alternative sind Ganzjahresreifen mit Lamellenstruktur und einer weicheren Gummimischung. Sie sorgen, ähnlich wie beim Autoreifen, für ordentlich Grip bei niedrigen Temperaturen.
Auch Benjamin Görlach denkt über Spikereifen nach. Sein Weg zur Arbeit führt den 40-jährigen Berliner täglich rund 15 Kilometer vom Stadtteil Spandau nach Wilmersdorf. „Das wäre eigentlich eine sehr attraktive und schnelle Route. Die Radwege hier werden aber im Winter meist nicht geräumt.“ Berlin halt. Oft muss er dann auf die Straße ausweichen. Das ist durchaus erlaubt. „Radwege sind nur dann benutzungspflichtig, wenn dies zumutbar ist. Türmt sich feuchtes Laub oder werden Radwege nicht vom Schnee befreit, darf man auf der Straße fahren“, erklärt Filippek. Er rät auch dazu, im Rathaus oder bei Lokalzeitungen anzurufen, wenn sich die Situation nicht bessere. „Das führt wahrscheinlich nicht unmittelbar zu einer Lösung, hilft aber, das Problem sichtbar zu machen und zu zeigen, dass das Rad nicht nur ein Schönwetter-Vehikel ist.“
Schneller am Ziel als mit dem Auto
Der Umweltökonom Görlach hat weniger Angst vor einem Sturz mit dem Rad. Größer ist seine Sorge, von einem Auto erfasst zu werden, das nicht mehr rechtzeitig bremsen kann. Genau wie viele andere Berliner auch hofft er darauf, dass die rot-rot-grüne Landesregierung für eine bessere Radinfrastruktur sorgt. Doch bis dahin lässt er sich von Väterchen Frost nicht davon abhalten, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Rund 40 Minuten Fahrstrecke liegen zwischen seinem Wohn- und Arbeitsplatz – einem Institut, das sich der Wissenschaft und Forschung für eine nachhaltige Welt verschrieben hat.
„Ich mag das puristische Gefühl, mich mit der Kraft meiner Muskeln voranzubewegen.“ Er und seine Frau haben sich entschieden, auf ein eigenes Auto zu verzichten. Für das umweltbewegte Paar ist das Rad einerseits ein klimaneutrales Verkehrsmittel, andererseits ein Trimmgerät. „Das Radfahren ist die Kombination des Nützlichen mit dem, was gemacht werden muss. Und außerdem schneller als Bahn oder Auto.“
Görlach kommt, wenn er über sein Rad spricht, mit dem er in der Freizeit gerne durch den Grunewald saust, regelrecht ins Schwärmen: „Ein klassisches leichtes Reiserad mit schlankem Stahlrahmen und Rennlenker. Schlicht, elegant und außerordentlich hübsch.“ Zusätzlich zu der am Fahrrad montierten Lampe hat sich Görlach für die Fahrten in den Wintermonaten einen Helm mit integriertem LED-Rundum-Licht angeschafft. Und eine grellgelbe Funktionsjacke, obwohl die nicht mit dem Rad harmoniert. „Aber Sichtbarkeit geht vor Schönheit“, weiß Görlach.
Die Erkenntnis ist leider noch nicht bei allen Radlern angekommen. Helm, Schutzbekleidung, Neonstreifen – all das braucht Verena Stürzer nicht. „Ich trage auf dem Rad die gleichen Sachen wie bei einem Winterspaziergang“, erzählt die junge Mutter. Seit rund vier Jahren absolviert die Münchnerin sommers wie winters praktisch alle innerstädtischen Fahrten mit einem Christiania Bike, einem robusten Lastenrad aus dänischer Produktion, mit Nabenschaltung und elektrischem Hilfsantrieb. „Das ist so praktisch. Ich kann viele kleine Läden abklappern, ohne lange einen Parkplatz suchen zu müssen“, erzählt die 38-Jährige.
Drei Räder sorgen für Stabilität beim Lastenrad
Das Rad, das in einer großen Kiste vor dem Lenker bis zu 150 Kilo laden kann, kam kurz nach der Geburt des zweiten Kindes in die Familie: Auf der Ladefläche haben bis zu vier Kinder in Schalen und auf Sitzen Platz. Hinzu kommt: „Durch die drei Räder fühle ich mich im Winter genauso sicher. Ich komme damit auch auf glatten Wegen nicht ins Rutschen“, sagt Stürzer. Ihre Kinder, die sechsjährige Mathilde und der vierjährige Anton, lieben es, im Lastenrad durch die Isarmetropole kutschiert zu werden. Im Winter gibt es für sie eine zusätzliche Decke, in die sie sich vorne im Transportkasten einkuscheln können. Ein Plastikverdeck schützt sie außerdem noch vor unangenehmen Regentropfen. „Fahren wir doch mal mit dem Auto in den Kindergarten, sind die beiden immer ganz enttäuscht. Die lassen sich am liebsten im Rad mit offenem Verdeck herumchauffieren.“
Profis – Postboten, Essenslieferanten oder Radkuriere – haben in diesem Punkt keine Wahl: Sie müssen auch bei Regen, Schnee und Matsch hinaus auf die Straße. Laurin Schwarz findet das nicht schlimm, im Gegenteil: „Ich mag die Stimmung im Winter, wenn ich morgens im Dunkeln aufs Rad steige und so lange fahre, bis es irgendwann hell wird. Und ich mag es auch, abends in die Dunkelheit hineinzufahren.“ Der 25-Jährige liefert für VeloKurier in Freiburg bereits im vierten Winter Waren aller Art aus – entweder mit dem Rennrad oder einem E-Cargobike des Anbieters Riese & Müller, mit dem er sogar Europaletten transportieren kann.
Eine Arbeitsschicht in der Kälte dauert für ihn etwa fünf Stunden. Seinen unerfahrenen Kollegen rät er bei der Kleidung zum Zwiebelsystem. „Aber man sollte sich auch nicht zu warm anziehen, sonst fängt man an zu schwitzen. Und wenn man dann irgendwo länger steht, ist man sofort krank.“ Richtig wichtig sind für Kurier Schwarz gute Handschuhe: „Wenn man an den Fingern friert, macht das alles überhaupt keinen Spaß.“ Er schwört zudem auf Wollsocken: „Von Oma gestrickt.“