Es ist ein Schreckgespenst für Politiker wie Autofahrer: Fahrverbote wie in Hamburg und Stuttgart für ältere Diesel, um die Belastung durch gesundheitsgefährdende Stickoxide zu reduzieren. Vor allem weil die Wirkung dieser Sperrungen genauso umstritten sind wie die Höhe des EU-Grenzwertes für Stickstoffdioxid (NO2) von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Als dann noch eine Gruppe von 107 Lungenärzten öffentlichkeitswirksam den gesundheitlichen Nutzen des Grenzwertes in Frage stellte, war die Aufregung groß.
Um die Diskussion zu versachlichen, bat die Bundesregierung deshalb die Wissenschaftsakademie Leopoldina um Hilfe. Die bildete flugs eine Arbeitsgruppe mit 20 Professoren aus zwölf Fachgebieten, vom Mediziner über Statistiker bis hin zum Verkehrsforscher. Die Experten haben jetzt ihre Empfehlungen veröffentlicht – und stellen die Diskussion vom Kopf auf die Füße: Die derzeitige Verengung der Debatte auf Stickstoffdioxid sei nicht zielführend, heißt es in der Stellungnahme. „Denn Feinstaub ist deutlich schädlicher für die Gesundheit.“
Feinstaub ist das größere Problem
Deshalb halten die Wissenschaftler begrenzte Diesel-Fahrverbote auf einzelnen Straßen für wenig hilfreich, um die Luft in den Städten zu verbessern. Sie sprechen von „kurzfristigem Aktionismus“. Die Experten der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina empfehlen stattdessen eine umfassende Strategie und eine grundlegende Verkehrswende – mit einem Ausbau vor allem des öffentlichen Nahverkehrs.
Feinstaub könne die Sterblichkeit erhöhen und Erkrankungen der Atemwege, des Herz-Kreislauf-Systems oder auch Lungenkrebs verursachen. Die Politik solle prüfen, ob die Grenzwerte verschärft werden sollten. Die winzigen Partikel stammen etwa aus Dieselruß, Reifenabrieb oder Abgasen von Industrie, Kraftwerken und Heizungen. Sie können tief in die Lunge eindringen, dort das Gewebe schädigen und sogar in den Blutkreislauf gelangen.
Die Experten bestätigten aber auch die Gesundheitsgefahr von Stickoxiden (NOx). Sie könnten Symptome von Lungenerkrankungen wie Asthma verschlimmern und trügen zur Bildung von Feinstaub und Ozon bei.
Die Politik bleibt gefordert
Damit wies der Expertenrat die Kritik der 107 Lungenärzte in zentralen Punkten zurück. Der Autor des Papiers, Dieter Köhler, hatte Rechenfehler eingeräumt, war aber dabei geblieben, dass Risiken und die Grenzwerte wissenschaftlich nicht hinreichend belegt seien. Martin Lohse, Vize-Präsident der Leopoldina, sagte, Köhler habe sich „vergaloppiert“, obwohl er einen Finger in die Wunde gelegt habe.
Weder für Stickstoffdioxid noch für Feinstaub lässt sich den Wissenschaftlern der Leopoldina zufolge ein exakter Wert nennen, unterhalb dessen keine Gesundheitsfolgen zu erwarten seien. Am Ende seien Grenzwerte eine Entscheidung der Politik.
Um die Luftqualität nachhaltig zu verbessern, seien „lokale Maßnahmen und kurzfristiger Aktionismus“ wenig hilfreich – etwa „kleinräumige und kurzfristige Beschränkungen“, die sich gegen einzelne Verursacher der NO2-Belastungen richteten. „Dies gilt unter anderem für Straßensperrungen und isolierte Fahrverbote, die zu einer Verkehrsverlagerung in andere Stadtgebiete führen“, hieß es.
Selbst moderne Benziner sind keine Alternative
Zudem mahnte die Gruppe, der Kampf gegen NO2 dürfe nicht dazu führen, dass klimaschädliche CO2-Emissionen stiegen. Ein kompletter Austausch der Dieselflotte durch Benziner gleicher Gewichtsklasse und gleicher Motorleistung sei nicht empfehlenswert. Diesel stoßen bei gleicher Motorenleistung mehr Stickstoffoxid aus, aber weniger CO2. Vielmehr seien „neue Mobilitätskonzepte vor allem in städtischen Ballungsräumen“ notwendig, so die Experten.
Sie sprachen sich generell für eine Verkehrswende aus. Dazu zählten alternative Antriebe wie Elektromotoren, ein besseres Verkehrsmanagement und Geschwindigkeitsbeschränkungen auf städtischen Autobahnen sowie ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Der Klimaexperte Ottmar Edenhofer sagte, die Verkehrswende senke beim Feinstaub die Risiken für die Gesundheit der Menschen und beim CO2 die Risiken der globalen Erwärmung.
Minister sehen sich bestätigt
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sagte, die Leopoldina bestätige seine Strategie. Das zwei Milliarden-Paket für saubere Luft etwa zur Umrüstung von Diesel-Bussen und Ausbau der E-Mobilität sei wirksam. Streckenbezogene Fahrverbote seien der falsche Weg. Scheuer forderte außerdem erneut eine Debatte über Schadstoff-Grenzwerte, sie dürften nicht „politisch-ideologisch festgesetzt“ sein.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) fühlte sich ebenfalls bestätigt. Der Bericht zeige, dass Luftschadstoffe im Vergleich mit anderen Umweltfaktoren am stärksten die Gesundheit gefährden könnten, damit sei der Fokus auf Luftqualität „zwingend notwendig“. Die Leopoldina empfehle, den NO2-Grenzwert beizubehalten und die Grenzwerte für Feinstaub zu verschärfen. Da es keinen Schwellenwert für die Gesundheitsgefahr gebe, erscheine es umso wichtiger, sich „eher an schärferen als an schwächeren Grenzwerte zu orientieren“.
Das Umweltbundesamt (UBA) schloss sich der Einschätzung an, dass kleinräumige Fahrverbote auf einzelne Straßen nicht der richtige Weg seien, und empfahl stattdessen „weiträumige Umweltzonen“, die die gesamten Kerngebiete der Innenstädte umfassten.
Die Bundesregierung dankte der Leopoldina für die erbetene Stellungnahme zu diesem Thema, das viele Bürger beschäftige. Die Ergebnisse würden nun im Einzelnen geprüft, sagte eine Regierungssprecherin.