Es ist ein paar Monate her, seit wir im Januar 2019 mit Dirk Gratzel gesprochen haben. Mittlerweile ist er in die dritte Phase seines Projektes eingestiegen und will nun die Altlasten von 1175 Tonnen Kohlendioxid (CO2) tilgen, die er im Laufe seines Lebens angesammelt hat. Dazu hat er von der Ruhrkohle AG im nordrhein-westfälischen Marl-Polsum Flächen eines ehemaligen Bergwerks gekauft, die er mit Expertenhilfe ökologisch aufwerten will. „Wenn mir das gelingt, bin ich bei der aktiven Wiedergutmachung angelangt und habe eine gute Chance, in meiner Lebensbilanz bei Null Tonnen CO2 zu enden.“ Was den IT-Unternehmer antreibt, zum Klimapionier zu werden, beschreibt er in seinem Buch „Projekt Green Zero. Können wir klimaneutral werden?“, das jetzt im Ludwig-Verlag München erschienen ist. Hier unser Porträt eines außergewöhnlichen Menschen.
Emil lässt sich nichts anmerken, ihn schützt aber auch ein dickes Haarkleid. Der dreijährige Rüde vom Stamm der bayrischen Gebirgsschweißhunde liegt seelenruhig in seinem Korb und beobachtet aufmerksam, wie sein Herrchen den Kamin anfeuert. Denn es ist kalt geworden in der Nordeifel, auch in Breinig bei Aachen. Erst prasselte tagelang der Regen auf die Steinhäuser und Gutshöfe im alten Ortskern, dann blies ein Nordlandtief eisigen Wind durch die Gassen. Bei einem solchen Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür – und bleibt auch der Mensch gern daheim. So es denn dort warm ist.
Die denkmalgeschützte, zum Wohnhaus umgebaute Scheune aus dem Jahr 1750, die Dirk Gratzel vor zwei Jahren erworben hat, ist bautechnisch immerhin auf dem neuesten Stand. Erst im vergangenen Jahr ließ er neue Holzfenster einsetzen. Bei der Gelegenheit wurde auch noch einmal die Gastherme optimiert. Trotzdem: Gemütlich warm will es an diesem Morgen nicht werden. Normalerweise würde man jetzt mit einem Dreh am Heizungsthermostat die Zimmertemperatur um ein, zwei Grad erhöhen. Aber das würde den Brennstoffverbrauch in die Höhe treiben, würde das Klima belasten und damit die Ökobilanz weiter verschlechtern. Bloß nicht. Da wirft Gratzel lieber ein paar Scheite Holz ins Feuer.
Bohrende Fragen
Denn die persönliche Ökobilanz ist dem 50-jährigen IT-Unternehmer wichtig, sehr wichtig, erzählt er, während es im Kamin leise zu knistern beginnt. „Wenn ich diesen Planeten eines Tages verlasse, möchte ich keinen kapitalen Schaden hinterlassen, sondern eine ausgeglichene ökologische Bilanz.“ Ein ehrenwerter Vorsatz, den der passionierte Jäger vor bald drei Jahren fasste, als er mal wieder mit Emil „auf Ansitz“ war und dabei über sein Leben und die Gespräche mit Frau und Kindern über die Veränderungen in der Natur nachdachte.
„Die Insekten sterben, das Wild nimmt ab, der Wald wird vermüllt – ich gehe ja nicht blind durch die Welt.“ Wie viel trägt man selbst dazu bei? Mit seinem Mobilitäts- und Konsumverhalten, mit seinem Ressourcenverbrauch, mit Fahrten zur Arbeit und Flügen in die Ferien? Nicht nur täglich, sondern jedes Jahr, Zeit seines Lebens. Gute Fragen, bohrende Fragen.
Sie ließen Gratzel nicht mehr los. Er begann nach Antworten zu suchen, im Internet, dann – ebenso erfolglos – bei Experten von Umweltverbänden. Hilfe fand er schließlich im Institut für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin. Institutsleiter Matthias Finkbeiner war anfangs skeptisch, erwärmte sich dann aber für die Idee, eine Ökobilanz Mensch zu erstellen: „Das hat es so noch nicht gegeben.“
Es begann eine mühselige Kleinarbeit – für Finkbeiner, aber noch mehr für sein Forschungsobjekt. Den Anfang machte eine Bestandsaufnahme: Gratzel bekam die Aufgabe, zwei Monate lang festzuhalten, was er aß und trank, woher die Speisen und Getränke stammten, wie sie zubereitet oder verpackt waren. Er sollte daheim und im Büro seinen Müll sammeln, sortieren und wiegen. Außerdem hatte er festzuhalten, wie viel Gas, Strom und Wasser er verbraucht. Und obendrein sollte er seinen persönlichen Besitz dokumentieren. Den von heute und auch den von gestern: Den alten Porsche, den er früher mal fuhr, ebenso wie den Jaguar, den er damals noch bewegte. Sämtliche Bücher, jedes Hemd, alle Hosen und, ja, auch den Hund – wirklich alles und alles, haarklein.
„Das Ergebnis hat mich geschockt.“
Man kann sich ausmalen, was damals los war im Haus in Breinig und im Büro in Aachen. „Das hat den einen oder anderen schon irritiert“, deutet Gratzel intensive Gespräche im Familienkreis an. Aufhalten ließ er sich nicht. Er durchstöberte die Kleiderschränke, sichtete über Tage hinweg den Inhalt des Kühlschranks und notierte, wie viel Kekse er während Konferenzen vertilgte. Er kramte alte Fahrtenbücher hervor und zählte die Flugkilometer seiner Geschäftsreisen. Er stoppte, wie lange er duschte. Auch Emils Fressverhalten wurde studiert: Ein Jagdhund putzt ebenfalls ganz schön was weg.
Die Excel-Tabellen wurden darüber immer länger, die Datensätze, die nach Berlin zur Analyse geschickt wurden, immer größer. Gratzel: „Das möchte ich nicht noch einmal machen.“ Aber dann war Teil Eins geschafft – und kurz darauf wusste er, wie er sich versündigt hatte. Nicht nur am Weltklima, sondern auch durch die Versauerung der Böden, die Schädigung der Ozonschicht und die Eutrophierung der Gewässer unter anderem durch den Eintrag von Waschmitteln und Kosmetika. Gratzel: „Das Ergebnis hat mich schon geschockt.“
Fast 27 Tonnen CO², erfuhr er, hatte er bis dahin jedes Jahr zur Klimaerwärmung beigetragen. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Bundesbürger kommt auf etwa 11 Tonnen im Jahr. Der größte Teil der Klimaschuld, förderte die Detailanalyse zutage, ergebe sich aus dem Mobilitätsverhalten: 40 000 Kilometer mit dem dieselgetriebenen Luxusauto und 30 000 Flugkilometer summieren sich in einem Jahr zu knapp 18,4 Tonnen Kohlendioxid. Summa summarum, ergab die Studie der TU Berlin, habe Gratzel seit seiner Kindheit mit einem aufwändigen Lebensstil eine Klimaschuld von 1175 Tonnen angehäuft.
Auch Emil trug seinen Teil dazu bei: Aus dem Verzehr von täglich einem Kilogramm Futter errechneten die Forscher eine Belastung des Weltklimas durch fast eine Tonne CO² pro Jahr. Finkbeiner hatte deshalb vorgeschlagen, den Hund zu erschießen. Emil hat die Stunde der Wahrheit überlebt, na klar. Aber seitdem kriegt er kein Fertigfutter mehr, sondern nur noch Fleisch von geschossenem Wild. Das ist klimaneutral – „die Tiere werden nicht gezüchtet, nur der Natur entnommen“.
Noch mehr als für den Hund hat sich das Leben für seinen Herrn verändert. Der Diesel wurde verkauft, gegen einen Mitsubishi Plug-in-Hybrid getauscht. Der wird mit Ökstrom geladen und auch nur dann genutzt, wenn es für das Fahrrad zu weit, zu nass oder zu kalt ist. Flugreisen wurden komplett gestrichen, Milchprodukte aus dem Kühlschrank genommen – nur Gäste kriegen seitdem noch einen Klecks Butter ins Kartoffelpüree. Ausgemistet wurde auch der Kleiderschrank.
Drei Hemden müssen reichen
20 Oberhemden besaß Gratzel früher, 18 Paar Socken, 16 T-Shirts, mehrere Anzüge und einen Smoking. Der Smoking ist geblieben („für festliche Anlässe und Beerdigungen“) sowie die Funktionskleidung für die Jagd. Im Schrank finden sich ansonsten noch ein Jacket und vier Hosen, drei weiße Hemden, zwölf Paar Socken für Business und Sport, dazu ein paar Shirts und Pullover – „alles aus nachhaltiger deutscher Produktion“.
Den Rest hat er verschenkt oder in die Kleidersammlung gegeben. Da er in der IT-Branche arbeitet, komme er mit dem knappen Sortiment gut zurecht. Reibereien gibt es gelegentlich nur mit seiner Ehefrau, die „andere modische Vorstellungen hat als ich“ – und löchrige Shirts nicht cool findet.
Gratzel hat früher intensiv Tennis gespielt und ist Marathon gelaufen, war schon immer ein sportlicher Typ. Inzwischen wirkt er noch drahtiger, was nicht nur der Jagd und den Fahrradtouren, sondern auch der neuen Speiseordnung zuzuschreiben ist: Kartoffelchips und Pommes sind komplett gestrichen, ebenso Fleisch vom Metzger. Schokolade gibt es nur noch sporadisch, Obst umso mehr. Auch der Konsum von Bier ist gestiegen – von 95 auf über 143 Liter im Jahr. Gratzel stutzt, kramt in den Unterlagen, muss dann aber feststellen: stimmt.
Die Maßnahmen zeigen Wirkung. Sein CO²-Austoß ist von 26,6 Tonnen im Jahr auf 7,8 Tonnen zurückgegangen. Um je 61 Prozent sank sein Beitrag zur Versauerung der Böden und zum Schadstoffeintrag ins Wasser. Da sollte das eine oder andere Glas Bier doch erlaubt sein. Viel mehr als der Bierkonsum beschäftigt Gratzel denn aktuell auch die Frage, wie er jemals bis zu seinem Tod die Klimaschuld von 1175 Tonnen wieder abtragen kann. Gratzel: „Der spannendste Teil des Projekts beginnt jetzt erst.“
Seine Kinder werden nichts erben
Das sieht auch Finkbeiner im fernen Berlin so. Erste Ideen hat er zusammen mit seinem Team bereits entwickelt. Die bequemste Lösung wäre eine finanzielle Kompensation über den Kauf von CO²-Zertifikaten. Aber das ist Gratzel zu billig: „Ich will keinen Ablass.“ Interessanter findet er den Ansatz, die Klimaschuld durch das Pflanzen von Bäumen zu tilgen. Ein ordentlicher Buchenwald würde darüber entstehen, so groß wie 16 Fußballfelder. Aber wo soll der wachsen? Alternativ könnte er Wiesenflächen gezielt versumpfen oder durch technische Maßnahmen CO2 wieder aus der Atmosphäre holen. Man ahnt: Das wird teuer. Gratzel ist sich darüber im Klaren: „Die Investitionen in die Kompensationsmaßnahmen werden alles aufzehren, was ich ökonomisch aufgebaut habe.“ Heißt: Für seine Kinder wird es nichts zu erben geben.
Aber bis dahin ist noch viel Zeit: „Statistisch bleiben mir noch 34 Lebensjahre.“ Drängender sind aktuelle Fragen: Das Feuer im Kamin ist ausgegangen. „Soll ich es noch einmal anmachen?“ Bevor die Frage beantwortet ist, klingelt es an der Tür. Es ist der Postbote, der ein großes Paket für Gratzels Frau bringt. Drinnen steckt eine mollige Daunenbettdecke.
Nachts scheint es in Alt Breinig noch kälter zu sein.