Auf die Idee muss man erst einmal kommen: Nach dem Vordiplom mal kurz nach Afrika, um auf einer Radtour 3000 Kilometer weit und vier Wochen lang zu grübeln, wie sich die Geländegängigkeit von Zweirädern verbessern lässt. Ursprünglich sollte es in den Himalaya gehen. Aber Freund Heiko hatte Kumpel Markus überzeugen können, dass sie im unwegsamen Hochgebirge die Räder häufiger tragen müssten als fahren könnten. Also Tunesien statt Tibet.

Auf die Idee muss man auch erst einmal kommen: Ein vollgefedertes, faltbares Fahrrad, das die Federung mit dem Klappmechanismus kombiniert. „Die Lager für die Aufhängungsanordnung dienen gleichzeitig für den Faltvorgang und sind so angeordnet, dass auf das Schwenklager im Hauptrahmen verzichtet werden kann“, heißt es in der Offenlegungsschrift des Deutschen Patentamts vom 3. November 1994.

Das war so etwas wie die Geburtsstunde des inzwischen legendären vollgefederten Faltrads Birdy. Von da bis zur Gründung der Fahrradmanufaktur Riese & Müller in der elterlichen Garage sollte es zwar noch ein steiniger Weg sein. Aber der Anfang war immerhin gemacht. Dank Inspiration und Ingenieurskunst.

Der Riese von Müller

Aber auch mit „viel Trials and Error“, wie Markus Riese einräumt, den wir an einem heißen Sommertag in Weiterstadt bei Darmstadt treffen, in einem ehemaligen Auslieferungslager des Sportartikelherstellers Nike.

Hier entstehen die Räder
Blick in die Montagehalle von Riese & Müller
© Copyright Ramon Haindl

In dem montiert Riese & Müller heute bis zu 260 Fahrräder am Tag – immer noch das Birdy, aber auch eine ganze Palette von E-Bikes sowie E-Lastenräder mit ähnlich hohem technischen Anspruch und einer Reihe origineller Ideen.

Der Maschinenbauingenieur ist nach wie vor der kreative Geist der Firma, als Tüftler und Bastler, aber auch als Fahrrad-Verrückter und „Grandmaster des Speed“ – Kämpfer gegen die Diskriminierung von schnellen E-Bikes durch die Bürokraten in Berlin und Brüssel.

Das Geschäftliche, Marketing, Vertrieb und Finanzen, überlässt er nur zu gerne seinem Freund – dem aus Afrika – und Kompagnon Heiko Müller und dessen Partnerin, der Kauffrau Sandra Wolf, die seit 2013 die Unternehmensstrategie verantwortet. Die Aufgabenteilung zahlt sich aus: Das Geschäft wächst seit Jahren rasant. Mit einem Absatz von rund 50.000 hochpreisigen Fahrräder pro Jahr ist R & M heute bereits einer der größten Hersteller von Premium-E-Bikes.

Am neuen hochmodernen Firmensitz in Mühltal, den die Firma planmäßig im Januar 2019 beziehen wird, ist theoretisch sogar eine Fertigung von 80.000 Rädern möglich.

Immer neugierig

„Wahnsinn, wie sich das Unternehmen entwickelt hat“, findet der Co-Gründer, der mit viertelstündiger Verspätung in der werkseigenen Cafeteria eintrifft, wo wir uns verabredet haben. Beim Gang durch die weitläufige Produktionshalle hatte er sich in Gesprächen mit Monteuren mal wieder ein wenig verquatscht: „Es gibt immer was zu verbessern.“ Das Hemd hängt ihm locker aus der Hose, an den Füßen trägt er Arbeitsschuhe, das lichte Haar ist etwas verstrubbelt. Und vermutlich hat er ein Multitool irgendwo in den Taschen seiner verwaschenen Jeans stecken: Das schmächtige Kerlchen, das sich uns gegenüber auf einen Plastikstuhl setzt, sieht trotz seiner inzwischen 50 Jahre mehr nach Student denn nach Unternehmenslenker aus. Ölreste an einem Finger belegen, dass er immer noch gerne selbst Hand anlegt.

Immerhin ist er da. „Markus“, erzählt ein Mitarbeiter, „verschwindet“ gerne einmal für ein paar Tage im Entwicklungslabor, wenn er „eine seiner Ideen“ hat. „Er hat nie seine kindhafte Neugierde und seine Freude am Tüfteln verloren“, sagt Sandra Wolf einige Wochen später auf der Fahrradmesse Eurobike, teils bewundernd, teils belustigt. Gelegentlich müsse Heiko den Erfinder sachte einbremsen – nicht jede Idee sei gleich marktfähig.

Der Chef blickt einem Mitarbeiter über die Schulter
Markus Riese (rechts) im Werk.
© Copyright Ramon Haindl

Andere waren so erfolgreich, dass selbst der Erfinder staunte. Beispielsweise die Ohrenwärmer für den Fahrradhelm, die er noch während des Studiums in Darmstadt erdachte und die unter dem Namen Hot Ears zum Kassenschlager wurden.

„Meine Leidenschaft brennt für Technik und für das Thema Mobilität“, gibt Riese offen zu, während er unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrutscht und dabei die Firmengeschichte in Schlagworten Revue passieren lässt.

Er erzählt vom Vertrauen seiner Eltern in den eingeschlagenen Weg („Auch wenn Papa deshalb oft keinen Schlaf fand.“), von den Schweiß- und Lackierarbeiten am ersten Prototypen des Birdy in der Garage und unter Bäumen, der Konstruktion eines ersten Cargo-Bikes schon während der Schulzeit und vom Scheitern des ersten Versuchs im Jahr 2001, Käufer für ein solches Lastenrad zu finden. („Es war ein totaler Flop.“)

Umso mehr freut den „Überzeugungstäter“ (Riese über Riese) die wachsende Akzeptanz des Fahrrads als Verkehrsmittel – und die Bereitschaft der Käufer, Ingenieurskunst auch im Fahrradbau zu honorieren: Der Spaß am E-Bike fängt bei Riese & Müller erst oberhalb von 3000 Euro an. „Billig können wir nicht“, sagt Markus Riese, plötzlich ganz Verkäufer.

Funktional und technisch spielten sie in einer ganz anderen Liga als die meisten anderen Hersteller. „Der Fahrkomfort und das Bremsen, die Sicherheit und Reichweite haben für uns höchsten Stellenwert. Niemand sollte sich bergab mit Tempo 50 vor einem Schlagloch in der Straße fürchten müssen.“

Das schlug sich lange auch im Design der Räder nieder, das dem klassischen Form-follows-function-Prinzip folgte: Dem deutschen Ingenieur ist die Sicherheit traditionell wichtiger als die Schönheit. Riese hat inzwischen aber vier junge Designer „mit hohem technischen Verständnis“ eingestellt. Das lässt vermuten, dass er selbst einen gewissen Korrekturbedarf in puncto Ästhetik erkannt hat.

E-Bikes als Auto-Ersatz

Der Boom der Pedelecs freut ihn sehr, nicht nur als Geschäftsmann, sondern als Fahrrad-Fanatiker und Umwelt-Aktivist. „E-Bikes“, doziert er, „sind kein Ersatz für Fahrräder, die allein mit Muskelkraft angetrieben werden, sondern eher ein Ersatz für das Auto.“ Der Vater von drei Kindern im Alter zwischen ein und acht Jahren besitzt zwar noch einen Campingbus von Volkswagen, legt aber wie seine Frau Heike in der Woche die meisten Strecken mit einem Fahrrad zurück.

Und davon gibt es in der Familie Riese einige – mit und ohne Elektroantrieb, aber immer voll gefedert. Auch Kompagnon Heiko chauffiert seinen Nachwuchs gerne mit dem Lastenrad zum Kindergarten, nutzt nebenbei aber auch ein Tesla Model X für Dienstfahrten: Elektromobilisten sind sie alle, durch und durch.

„Wir wollen ein Mobilitätskonzept für urbane Bedürfnisse entwickeln, in dem das E-Bike eine zentrale Rolle einnimmt und das Auto weitgehend überflüssig ist“, formuliert Riese seine Vision. Gerne würde er seinen Rädern stärkere Motoren verpassen und die Begrenzung der Unterstützung bis 25 Kilometer pro Stunde aufgehoben sehen.

Dass die schnelleren S-Pedelecs nach EU-Recht keine Radwege benutzen, nur mit Führerschein bewegt werden und auch keinen Anhänger ziehen dürfen, bringt ihn auf die Palme. „Die Potenziale der Technik, Autoverkehr zu verringern, werden so nicht genutzt und die Radfahrer unnötigerweise in die Illegalität gedrängt.“ Nachvollziehen könne die strengen Regeln kaum jemand. Das gelte erst recht für den Ruf einiger Politiker nach einer Versicherungspflicht auch für langsamere E-Bikes: „Was für ein Wahnsinn.“

Viel lieber würde er über seine neuesten Ideen sprechen, über einen ordentlichen Wetterschutz für Fahrradfahrer, eine elektrische Sattelheizung oder beheizte Lenkergriffe – alles Ideen, auf die man erst einmal kommen muss.

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Mehr zum Thema:

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