400 Quadratmeter Hallenfläche und 50 Einheiten in zwölf Monate: „Mit dieser Kleinserie sind wir hier in Aachen im Jahr 2012 gestartet,“ erinnert sich Tobias Reil noch gut an das erste Jahr der Fahrzeugproduktion. Reil leitet die Fertigung des Elektrotransporters. Der 38-Jährige ist neben dem Gründervater Achim Kampker ein Mitarbeiter der ersten Stunde in dem Unternehmen, das vor acht Jahren im Dunstkreis der RWTH Aachen entstand. Seit 2014 ist die StreetScooter GmbH ein Tochterunternehmen der Deutsche Post DHL Group.
Die Idee der Aachener Pioniere: Elektromobilität schon mit kleinen Stückzahlen wirtschaftlich werden zu lassen. Kurz gesagt: Grüne Ideen müssen nicht teurer sein als herkömmliche Methoden. „Das kennzeichnet unsere Fahrzeugfertigung“, so Reil.
Der gebürtige Osnabrücker, Maschinenbau-Ingenieur und Betriebswirt, benennt den Unterschied zwischen den etablierten Fahrzeugherstellern und den Streetscootern: „Für die großen Hersteller gilt: Erst ab 80.000 Einheiten jährlich lohnt sich für sie der Aufbau eines eigenen Produktionssystems. Wir beweisen, auch mit 20.000 bis 25.000 Fahrzeugen pro Jahr effizient, produktiv und wirtschaftlich erfolgreich sein zu können.“
Die Beschränkung auf wenige Bauvarianten, das ist einer der Trümpfe dieser Produktion: Streetscooter-Elektromobile werden in Aachen in nur zwei Ausführungen gebaut: Work (Batterie: 20 kWh Li-ion, Höchstgeschwindigkeit: 85 km/h, Gesamtzuladung: 720 kg, 4 Kubikmeter Ladevolumen, Reichweite: 113 km laut Normmessung, NEFZ) und der größere Work L (Batterie: 40 kWh Li-ion, Höchstgeschwindigkeit: 85 km/h (elektronisch begrenzt), Gesamtzuladung: 895 kg, 8 Kubikmeter Ladevolumen, Reichweite: 205 km, NEFZ).
Zwar sind beide Grundmodelle jeweils in drei Ausführungen (Koffer, Pritsche, Fahrgestell) bestellbar, doch selbst das ist im Vergleich zu den viele hundert Varianten etwa eines Ford Transits eine sehr geringe Zahl.
„Streetscooter verknüpft auf sinnvolle Weise die Fabrik 4.0 mit den Grundzügen der Lean Production“, sagt Karl J. Anton über die Aachener Fertigung. Der ehemalige Ford-Topmanager und Leiter der europäischen Fahrzeugproduktion des US-Autoriesen berät heute die Pioniere der Elektromobilität, speziell bei der Organisation der Fabrik. Fertigungsexperte Anton erläutert: „Baufortschritt, Qualitätsdaten und die gesamte interne wie externe Logistik sind im Status jederzeit online abrufbereit. Ebenso sind Entwicklung und Produktion digital miteinander verbunden.“
Dieser Datenaustausch macht die innovative Aachener Autofabrik fix und flexibel: Produktänderungen und sogenannte Facelifts sollen innerhalb von nur zwölf Monaten umsetzbar sein. Größere Hersteller benötigen in ihren Werken durch die Großserienfertigung heutzutage für Planung und Umsetzung vergleichsweise zwei bis drei Jahre. Streetscooter-Fertigungsleiter Reil nennt den Vorteil: „Auf sich wandelnde Kundenwünsche können wir somit schneller eingehen.“
Sieben Themenbereiche in der Fertigung
Wie aber kann trotz des Wachstums vermieden werden, dass einzelne Bereiche der Fabrik irgendwann doch nebeneinander herarbeiten und die notwendige Kommunikation nicht mehr stattfindet? Mit dieser Frage setzten sich die Manager in den zurückliegenden Monaten intensiv auseinander. Die Lösung: Das Fahrzeug wurde in sieben Themenbereiche für Teams aufgeteilt. „Diese Teams beispielsweise aus den Bereichen Chassis und Elektrik haben im laufenden Prozess ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit, so wollen wir der Gefahr einer Erstarrung entgegentreten“, so Fertigungsexperte Anton.
In den Talbot-Hallen, in denen ehemals Eisenbahnwaggons gebaut wurden, läuft die Fertigung des E-Autos auf einer Fläche von derzeit 12.000 Quadratmeter ohne aufwändige Produktionsbänder. Stattdessen werden die Karossen auf Rollwagen im 15 Minutentakt zu den 30 Endmontagestationen weiter bewegt. Die Produktion im Zwei-Schicht-Betrieb kommt auf eine Jahreskapazität von bis zu 10.000 Einheiten.
Zweites Werk in Düren eröffnet
Und wenn die Nachfrage von Drittkunden wie etwa Bäckereien und anderen Handwerksbetrieben – auch aus dem Ausland – weiter steigt? Fertigungsmanager Reil: “ Um die steigende Nachfrage zu befriedigen, haben wir vor Kurzem ein zweites Werk in Düren eröffnet.“ In diesem Werk sollen auf dem rund 78.000 Quadratmeter großen Gelände des Autozulieferers Neapco ebenfalls bis zu 10.000 E-Transporter pro Jahr vom Band rollen. Das entspricht einer Tagesproduktion von 46 Fahrzeugen im Ein-Schicht-Betrieb. Der neue Standort – ehemals ein Komponentenwerk von Ford und später Visteon – bietet bis zu 250 Arbeitsplätze.
Post produziert Streetscooter noch bis 2020 selbst
Damit ist die Erfolgsstory von Streetscooter noch nicht beendet: Zwar hat Post-Vorstandsvorsitzender Frank Appel in einem aktuellen Interview mit der FAZ angekündigt, den Streetscooter noch mindestens zwei Jahre selbst zu produzieren. Ein Autohersteller wolle man aber auf Dauer nicht sein. Daher sei ein Börsengang oder der Verkauf des Tochterunternehmens eine Option. Bis es so weit ist, wollen Deutsche Post DHL und Ford aber gemeinsam den größeren Streetscooter Work XL auf die Straßen bringen.
Auf der Basis des Ford Transit hat dieses Elektromobil ein Ladevolumen von 20 Kubikmetern, ist ausgestattet mit einem modularen Batteriesystem von 30 bis 90 kWh und gut für Reichweiten zwischen 80 und 200 Kilometer. Der Karosserieaufbau wird nach den Vorgaben der Deutsche Post DHL ausgeführt.
Work und Work L, die beiden Elektrofahrzeuge aus Aachen und Düren, sind seit April 2018 bundesweit an über 80 Ford-Vertriebsstandorten für Drittkunden bestellbar – eine Kooperation zugunsten sauberer Luft in den Cities zwischen der Aachener Automanufaktur, den Weltkonzernen Ford Motor Company und Deutsche Post DHL sowie mittelständischen, selbstständigen Vertriebspartnern, die bis vor wenigen Jahren noch undenkbar schien.