„Ich bin der, von dem Agag sagt, er mache die ganze Arbeit“, auf diese vermeintlich ironisch-bescheidene, aber letztlich sehr selbstbewusste Art stellt sich Alberto Longo am Rande des Formel-E-Rennens Ende Mai auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin vor. Der Spanier ist gemeinsam mit seinem Cousin Alejandro Agag Gründer der Formula E Holdings, die das elektrische Motorsport-Event organisiert.

Als der stellvertretende CEO und Chief Championship Officer organisiert er das Tagesgeschäft – und hat doch klare Vorstellungen, wie es in Zukunft mit der Rennserie weitergehen soll. Er würde gerne den Rennkalender ausweiten, von heute 12 Städten auf 15 pro Jahr. Mit Strecken in Brasilien, Japan und wieder in China. „In Deutschland könnte ich mir sogar zwei Termine vorstellen, weil hier so viele unserer Sponsoren sitzen“, erzählt er.

Es lohnt sich, Longo genau zuzuhören. Denn der gelernte Jurist gilt im Kreis der Sponsoren als ein heißer Kandidat für den CEO-Posten der Formula E Holdings. Vetter Agag soll sich dem Vernehmen nach auf die Rolle als Aufsichtsratsvorsitzender – Chairman – konzentrieren. Der Führungswechsel könnte noch in diesen Wochen erfolgen, nachdem am Wochenende die fünfte Saison zu Ende gegangen ist.

Als CEO wird Longo – wenn es dazu kommt – einige Herausforderungen meistern müssen. Er braucht überzeugende Ideen und Konzepte, wenn er einmal die bisherige Königsklasse des Motorsports, die Formel 1, überholen will. Das ist nicht unmöglich, wirkt doch die Formel 1 mit ihrem Lärm und Abgasen allmählich aus der Zeit gefallen. Zudem kehren ihr langjährige Verbündete den Rücken wie zuletzt der japanische Autobauer Honda, der stattdessen bei der Formel E einsteigen will.

Nur: Die Formel E selbst hat noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen. Das fängt bei so profanen Dingen wie dem Geldverdienen an. Und geht weiter mit der Frage, wie viel Einfluss die selbstbewussten und mächtigen Autokonzerne bekommen sollen, die hinter den Teams stehen. Und endet mit der grundsätzlichen Diskussion, wie fesselnd und unterhaltsam es ist, 22 weitgehend identische Rennwagen im Kreis herumfahren zu lassen. Nach fünf Jahren Aufbauzeit ist jetzt die Gelegenheit günstig, neue, innovative Wege zu beschreiten. Und sich mächtige Verbündete zu suchen.

Die Formel E Holdings schreibt roten Zahlen

Wirtschaftlich betrachtet, ist die Formel E noch keine Erfolgsgeschichte. So konnte das Unternehmen im vergangenen Geschäftsjahr, das am 31. Juli 2018 endete, zwar kräftig wachsende Umsätze von insgesamt 133 Millionen Euro melden (Vorjahr: 94,5 Millionen Euro). Doch gleichzeitig stiegen auch die Verluste auf 26,4 Millionen Euro (Vorjahr: 20,8 Millionen Euro). Und das, obwohl zum ersten Mal der große Sponsoring-Deal mit dem schweizerischen Energie- und Roboterkonzern ABB in Höhe von 12 Millionen Euro zum Tragen kam. Seit dem Deal mit dem Industriekonzern heißt die Rennserie offiziell ABB Formula E.

Doch sucht ABB gerade einen Nachfolger für den zurückgetretenen CEO Ulrich Spiesshofer, der das Geschäft mit der Formel E vereinbart hatte. Ob der neue Konzernchef das Engagement genauso enthusiastisch fortsetzt oder womöglich den mehrjährigen Vertrag vorzeitig löst, bleibt abzuwarten.

Der Elektro-Rennzirkus steht damit am Scheideweg. Longo und Agag müssen sich entscheiden, ob sie die Erfolgsrezepte der Formel 1 übernehmen. Und Helden unter den Fahrern aufbauen, mit denen sich die Zuschauer identifizieren können. „Moderne Gladiatoren“, wie sie Nico Rosberg im Gespräch nennt, einst selbst Formel-1-Weltmeister und heute Anteilseiger der Formel E. Die das Publikum locken – an den Rennstrecken und vor den Bildschirmen. Was wiederum die Sponsoren anzieht.

Nico Rosberg war einst König der Motorsportler. Heute ist er Investor, Geschäftsmann und Gründer des Greentech Festivals, das am Rande des Formel-E-Rennens in Berlin stattfand – eine große Bühne für nachhaltige Innovationen. Im Gespräch erzählt er, was er mit der Veranstaltung künftig noch vorhat und was das eigentlich Besondere an der Formel E ist. Formel E

Namen wie Niki Lauda oder Michael Schumacher kannte und kennt jeder. Auch die aktuellen Stars der Formel 1 wie den Briten Lewis Hamilton oder den Deutschen Sebastian Vettel sind sehr vielen Menschen ein Begriff. Dagegen wird kaum jemand etwas mit dem Franzosen Jean-Eric Vergne anfangen können, der diese Saison in der Formel E für den Rennstall DS Techeetah den Titel holte.

Alberto Longo verteidigt es als Stärke der Serie, dass in 13 Rennen neun verschiedene Fahrer gewonnen haben. Bei insgesamt elf Teams. Dagegen standen in der Formel-1-Saison 2018 bei 21 Rennen der spätere Weltmeister Hamilton elfmal auf dem Siegerpodest und sein Verfolger Vettel fünfmal. Da die Elektromobile in der Formel E weitgehend baugleich sind, hat fast jeder Rennstall mal die Chance auf einen Sieg. Das macht es aber heute für Audi, BMW oder Jaguar und ab der nächsten Saison für Porsche oder Mercedes schwerer, sich abzuheben.

Zugegeben, das Konzept fast baugleiche Fahrzeuge einzusetzen, senkt die Kosten für die Rennställe. So hat etwa Jaguar in seine Motorsportabteilung 2017 laut Bilanz rund 36 Millionen Euro investiert. Siegerteams in der Formel 1 geben dagegen im Schnitt um die 250 Millionen Euro aus. Auch deshalb drängen sich ab der kommenden Saison insgesamt neun Autohersteller in der Rennserie – „so viel wie in keiner anderen“, versichert Longo stolz. Die Hersteller werden aber auch sehr genau beobachten, wieviel Aufmerksamkeit und Imagegewinn ihnen das Engagement in der Formel E – im Vergleich zur Konkurrenz – bringt.

Um das Rennen für das Publikum spannender zu machen, hat Longo bereits einige Ideen. So soll es womöglich mit der dritten Generation von Fahrzeugen ab 2022/2023 einen oder zwei Boxenstopps geben, bei dem die Teams den Akku der Rennwagen in nur einer Minute mit bis zu zehn Prozent der Kapazität wieder aufladen können. Wer diesen Energie-Booster geschickt einsetzt, kann sich einen Vorteil erkämpfen. Dadurch soll die Strategie wichtiger werden, als die Technik unter der Haube der bis zu 280 Kilometer pro Stunde schnellen Rennwagen.

Vom E-Sport-Boom profitieren

Solche Änderungen des Reglements können ein Rennen tatsächlich abwechslungsreicher machen. So ähnlich wie der Angriffsmodus, den es seit dieser Saison gibt. Dazu können die Fahrer über eine spezielle Aktivierungszone am Rande der Strecke fahren und erhalten dann zusätzlich 25 Kilowatt Leistung. Sie verlassen dafür kurz die Idealline – bekommen dafür aber mehr Power zum Überholen.

All diese Tricks und Maßnahmen wirken ein wenig die Ereigniskarten beim Monopoly – nett gemeint, aber eher konventionell. Denn mittlerweile sind die Voraussetzungen da, für eine andere, viel modernere und innovativere Strategie: Die Formel E könnte sich mit der boomenden E-Sports-Szene verbünden, sie zum aktiven Teil des Renngeschehens machen. Virtuelle Realität mit dem echten Leben verbinden. Gemischte Teams aus Fahrern auf der Strecke und E-Sportlern vor den Computern könnten gemeinsam um den Sieg kämpfen.

Das würde Abermillionen Computerspielern in Asien und dem Rest der Welt glaubhaft das Gefühl vermitteln, Champion werden zu können, wenn sie nur hart genug vor dem Monitor trainieren.

Natürlich kämpft der E-Sports noch um Anerkennung. Der Deutsche Olympische Sportbund will ihn etwa offiziell nicht als Sport anerkennen. Denn er verfolge vor allem kommerzielle Verwertungsinteressen. Als ob das im Profifußball anders wäre. Aber immerhin signalisieren die Funktionäre Wohlwollen bei Games die Sportarten in die virtuelle Welt holen wie „Fifa“ (Fußball) oder „F1 2018“ (Motorrennen).

Die Bedenken der Funktionäre stoppt aber nicht den Boom des E-Sports. So wächst seit Jahren die Zahl derjenigen zweistellig, die auf Plattformen wie Youtube oder Twitch anderen Gamern beim Computerspielen zuschauen. 2019 werden das beeindruckende 443 Millionen Menschen sein. Große Turniere locken zehntausende Besucher in die Hallen. Insgesamt setzt die Computerspielbranche dieses Jahr voraussichtlich weltweit etwas mehr als 150 Milliarden Dollar um. 3,3 Milliarden Menschen daddeln wenigstens gelegentlich auf ihrem Smartphone.

Das zeigt: Die Digitalisierung schafft neue Sportformen. Und der Sport muss sich digitalisieren, will er nicht abgehängt werden. Longo und Agag haben das schon früh erkannt. So können die Fans für ihre Lieblingsfahrer bis kurz vor dem Rennen per App oder Twitter stimmen und ihnen einen fünfsekündigen Leistungsschub verschaffen. Und es gibt das E-Race am Rande der Strecke: In Simulatoren fahren Gamer den Rundkurs nach. Wer es unter die besten drei schafft, darf gegen die drei schnellsten Fahrer antreten.

Seit April ist das sogar in Echtzeit möglich. Das Spiel „Ghost Racing“ vom Entwicklerstudio Virtually Live ermöglicht, live mit den echten Champions auf der Strecke mitzufahren – in einer App auf dem Smartphone. Dazu überträgt das Spiel Tempo, Position und Bewegung der Fahrzeuge in eine realistisch wirkende Darstellung des Rennkurs. Wer mag, kann dem Geschehen auch einfach nur zuschauen. Die Grenzen zwischen echter und virtueller Welt beginnen zu verschwinden.

In der kommenden Saison soll es dann eine eigene E-Sports-Serie geben. Damit wäre es nur konsequent, im nächsten Schritt gemischte Teams zu bilden. Die gemeinsam um den Sieg kämpfen. Für die Autohersteller in der Formel E wäre es eine Chance, an eine jüngere Zielgruppe heranzukommen, für die womöglich der Besitz eines eigenen Autos gar nicht mehr spannend ist. Und Konzerne wie die Rennserie würden ein Zeichen setzen, dass sie den E-Sport und seine Spieler ernst nehmen.

Angesprochen auf solche Ideen, verweist Alberto Longo auf die FIA, den mächtigen Rennsport-Verband Fédération Internationale de l’Automobile, der über Formel 1 und Formel E wacht. Der muss eine solche Änderung des Reglements genehmigen. Was die Funktionäre mit dem Präsidenten Jean Todt an der Spitze durchaus wagen sollten.

Denn der Formel E könnte es endgültig zum Durchbruch verhelfen.

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