Herr Spiesshofer, in der Schweiz soll die Elektromobilität schon weiter sein als in Deutschland. Können Sie das bestätigen?
Das kann ich in der Tat. Vor ein paar Jahren wurde die Tiefgarage unter der Oper in Zürich neu gebaut und bei der Gelegenheit wurden dort auch einige Ladesäulen installiert. Anfangs wurden sie wenig genutzt. Heute balgen sich Besitzer von Elektroautos regelmäßig um die Anschlüsse. Die Situation hat sich total gewandelt.

Balgen Sie mit?
Manchmal schon: Ich fahre einen BMW i8 mit Hybridantrieb. Der macht mir großen Spaß.

Aus dem persönlichen Spaß soll ein Spaß für den ganzen Konzern werden: ABB investiert kräftig in die Elektromobilität. Welches Ziel verfolgen Sie damit?
Um die Elektromobilität erfolgreich zu machen, braucht es vier Dinge: Elektroautos, Ladeinfrastruktur, eine Verstärkung des Stromnetzes sowie eine Einspeisung von mehr erneuerbaren Energien. Alle vier Elemente zusammen bilden eine Wertschöpfungskette, die wirklich die Welt verändern kann. Wir sind auf drei dieser Felder Weltmarktführer – seit vielen Jahren bei der Technik zur Einspeisung von erneuerbaren Energien und im Netzbereich mit inzwischen zwölf Milliarden Euro Umsatz. 2011 sind wir mit einem eigenen und einem zugekauften Start-up in das Thema Ladeinfrastruktur eingestiegen. Wir sind damit heute in über 60 Ländern präsent und haben Aufträge für über 7000 Schnellladestationen aus aller Welt erhalten. Auch damit sind wir inzwischen die Nummer eins. Auf der Hannover Messe haben wir gerade unsere Terra HP, die schnellste Ladestation der Welt, in den Markt eingeführt, die mit einer Ladeleistung von bis zu 350 Kilowatt Elektroautos in nur acht Minuten mit Strom für 200 Kilometer Fahrstrecke versorgt, je nach Fahrzeugtyp mit 400 oder 800 Volt Spannung. ABB hat also alles, um die Welt der Elektroautos zu bewegen, weiter nach vorn zu bringen – ohne dabei die Erde zu verbrauchen.

Die Elektromobilität hat also in Zukunft zentrale Bedeutung für ABB?
Umweltbewusste Verkehrsexperten und Politiker auf der ganzen Welt überlegen sich derzeit zwei Dinge: Was passiert mit der Elektromobilität – und wie entwickelt sich unsere Mobilität weiter? Wie schnell erlebt die emissionsfreie Mobilität den Durchbruch und was bedeuten autonomes Fahren und Shared Mobilität für unseren Alltag? Wir sind hier breit aufgestellt. Deshalb engagieren wir uns auch in der Formel E – um das Thema nach innen wie nach außen emotional aufzuwerten und alle Menschen für diese Technologie zu begeistern.

Erhoffen Sie sich einen Technologietransfer von der Rennserie in die Alltagstechnik?
Wir stehen mit unserem technischen Engagement noch ganz am Anfang. Ein E-Rennauto ist auch ein mobiles Energie-Managementsystem. Die Themen Effizienz und Rekuperation, auch die Softwaresteuerung, spielen im Renngeschehen eine Schlüsselrolle. Da können wir eine ganze Menge lernen, aber auch eine Menge einbringen. Unter anderem auch aus dem Projekt Solar Impulse von Bertrand Piccard, der die Welt mit einem Solar-Flugzeug umrundet hat, ohne dabei einen Tropfen Kerosin zu verbrennen. Dieses Projekt haben wir in der öffentlichen Wahrnehmung und im Projektmanagement unterstützt. Auch Elektroloks rüsten wir mit effizienter Technik aus, um den Energieverbrauch signifikant zu reduzieren. Wir bringen aber auch Erfahrungen aus dem Bau von Schiffsantrieben mit: Effiziente Elektromobilität in allen Dimensionen ist eines unserer Kernthemen. Wir sind, was viele nicht wissen, der weltgrößte Hersteller von Elektromotoren für industrielle Anwendungen sowie von Leistungselektronik und Umrichtern.

Wann baut ABB Motoren für Elektroautos?
Wir haben uns bewusst dafür entschieden, uns aus dem Bau von Motoren für Passagierfahrzeuge herauszuhalten. Denn Automotoren haben andere Dimensionen und Anforderungen als solche für den industriellen Einsatz. Wir sind mit unseren Motoren in Straßenbahnen, in Eisenbahnen, unter Kreuzfahrtschiffen und auch in ersten Pilotprojekten in elektrisch angetriebenen Bussen und Lastfahrzeugen vertreten. Wir haben mit „Tosa“ – unserer revolutionären Bustechnik – in Genf eine Lösung vorgestellt, um die Batterien elektrischer Busse an ausgewählten Haltestellen in kürzester Zeit – nämlich in 20 Sekunden – nachzuladen.

Gutes Stichwort. Der Aufbau der Ladeinfrastruktur leidet in Deutschland immer noch an Kinderkrankheiten. Es gibt bis heute keinen Generalplan, keiner vermag zu sagen, wie viele Ladestationen nötig sind – und welcher Art sie sein sollten. Können Sie da helfen?
Wir haben das kürzlich in einer Studie der TU München untersuchen lassen. Diese geht von einem Nutzerverhalten aus, das ähnlich ist, wie wir es heute bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor haben. Auf dieser Basis haben sie dann eine Hochrechnung für die kommenden Jahre erstellt.

Demnach besteht in Deutschland bis 2020 ein Potenzial von 62.000 Normalladesäulen und 6.900 Schnellladesäulen. Bei solchen Zahlen dürfte einem Hersteller von Ladesäulen aber das Herz im Leib hüpfen.
Wenn das Szenario denn so Realität würde, ja. Aber derzeit ist die weitere Entwicklung nur schwer abzuschätzen. In den nächsten Jahren wird es erst einmal sehr wichtig sein, die lokalen Netze fit zu machen für die neue Welt. Eine 350 KW-Schnellladestation mit sechs Ladepunkten hat einen Strombedarf von über zwei Megawatt. Das ist so viel, wie ein kleines Dorf an Strom braucht – oder wenn sie 2.000 Haartrockner auf einmal anschalten. Da kriegen Sie ruckzuck einen Blackout, wenn Sie das Verteilnetz nicht stärken oder besser steuern. An den Abnahmepunkten muss also ein stabiles Netz existieren. Und dann müssen wir uns den Alltag der Elektromobilität genauer ansehen.

Was erkennt denn da ein Fachmann?
Viele Autofahrer verlassen nur selten die Stadt. Schnellladetechnologie brauchen üblicherweise nur Taxi- und Kurierfahrer sowie Menschen auf der Durchreise. Das heißt, wir werden noch eine ganze Weile eine Koexistenz haben zwischen klassischen, langsamen Normalladestationen und Gleichstrom-Schnellladestationen. Wie sich die Relation entwickelt, hängt von einer Reihe anderer Faktoren ab.

Nämlich welchen?
In welchen Segmenten werden Elektroautos zuerst gefragt sein? Werden sie zuerst von Langstreckenpendlern gekauft oder von Stadtbewohnern? Dann: Was macht der Gesetzgeber? Einige Städte werden möglicherweise schon bald keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr reinlassen; Hamburg hat ja zum Beispiel als erste Stadt in Deutschland jetzt Fahrverbote für Dieselfahrzeuge erlassen.

All das will beim Aufbau einer Ladeinfrastruktur bedacht sein?
Und noch einiges mehr. Es wird in den kommenden Jahren auch darum gehen, die Elektromobilität mit der Entwicklung des Stromnetzes und Künstlicher Intelligenz zur Steuerung der Ströme zusammenzubringen. Bei den Fahrzeugen, die überwiegend in einer Großstadtregion im Kurzstreckenverkehr unterwegs sind, könnte man so beispielsweise durch ein intelligentes Tarifsystem das Ladeverhalten steuern. Und da häufige Schnellladevorgänge die Lebensdauer einer Batterie beeinflussen, könnte es Leasingmodelle geben, die für die Ermittlung des Restwertes das Ladeverhalten reflektieren.

Wo lassen sich aus Ihrer Sicht die Fahrzeuge noch optimieren?
Das Ziel muss sein, die Wechselstrom-Gleichstrom-Umwandlung im Fahrzeug zu minimieren und die Fahrzeuge direkt mit Gleichstrom zu laden. Also: Der Wandler muss aus dem Elektroauto raus, um es leichter und preiswerter zu machen. Die nächste Generation von Elektroautos wird in etwa nur noch so viel kosten wie Fahrzeuge mit herkömmlichen Verbrennungsmotoren. Mittelfristig werden sie sogar kostengünstiger sein aufgrund der niedrigeren Betriebskosten.

Das bedeutet aber, dass im Gegenzug die Ladesäulen noch leistungsfähiger und damit teurer werden als heute schon?
Die Kosten für eine Ladestation setzen sich aus mehreren Faktoren zusammen: neben den Kosten für die Säulen noch die Kosten für die Installation und für die Netzverstärkung. Mit größeren Stückzahlen werden die Preise attraktiver werden.

Wo liegen denn die Kosten für eine 350 KW-Anlage aktuell?
Diese Ladesäule haben wir gerade erst am Markt positioniert und noch nicht eingepreist.

Könnte mit Smart Charging, mit einer intelligenten Steuerung der Ladeströme, der Bedarf an Ladestationen nicht insgesamt sinken?
Ganz klar: Wenn man Smart Charging mit einem Smart Grid verbindet, kann man sicher den Aufwand reduzieren. Im Labor haben wir gerade ein Modell erstellt, bei dem wir mit der Künstlichen Intelligenz von IBM Watson präzise Wettervorhersagen treffen. Dies kann man mit Vorhersagen, die das Verhalten von Fahrzeugflotten prognostizieren, kombinieren und durch ein smartes Tarifsystem sicherstellen, dass ein Elektromobilist dann sein Auto lädt, wenn die Sonne scheint oder der Wind bläst. Wenn man das Gesamtsystem aktiv gestaltet, gibt es viele Möglichkeiten, Lasten zu optimieren. Es ist deshalb ganz wichtig, dass wir die Möglichkeiten, die sich aus der Elektromobilität auch für die Systemgestaltung ergeben, ernsthaft wahrnehmen und nicht Verhaltensmuster aus der Vergangenheit 1:1 in die Zukunft projizieren.

Woran denken Sie da?
Wenn Sie eine Tankstelle in der Garage hätten, würden Sie wahrscheinlich nicht immer mit einem vollen Benzintank durch die Gegend fahren – denn das bedeutet ja zusätzliches Gewicht. Mit der Elektromobilität wird das Thema „Tanken“ zur Gewohnheitssache: Sie hängen Ihr Auto einfach abends an eine Steckdose.

Sofern das möglich ist. Viele Bewohner von Mehrfamilienhäusern haben da ein Problem – es gibt bei ihnen im Haus keine Steckdose vor dem Haus oder in der Tiefgarage.
China hat deshalb ein sechs Milliarden-Dollar-Programm zur Nachrüstung von Wohnanlagen gestartet.

Deutschland fördert vor allem die Anschaffung von Elektroautos. Setzt die Regierung damit den falschen Akzent?
Ich habe mich gefreut, dass im Koalitionsvertrag das Ziel von 100.000 Ladepunkten bis zum Jahr 2020 postuliert wurde. Das ist schon mal gut. Wir haben in Deutschland eine interessante Situation: Mit der Förderung der erneuerbaren Energien hat das Land einen großen Schritt nach vorne gemacht. Die Energieversorger haben während der anspruchsvollen Energiewende bewiesen, dass sie das Netz auch in schwierigen Situationen – unter Nutzung unserer führenden Technologie – stabil halten können. Wir tragen gerne dazu bei, eine leistungsfähige Ladeinfrastruktur für Elektroautos aufzubauen. Und auch die Autoindustrie gibt gerade Vollgas. Wenn ich sehe, was in den nächsten Jahren so alles an Elektroautos kommt, dann freue ich mich jetzt schon darauf. Ich gehe also davon aus, dass wir in den nächsten zwei Jahren einen großen Schritt nach vorne gehen werden.

Für die ABB fügt sich damit zum richtigen Zeitpunkt alles zum Guten?
Wir haben ABB in den vergangenen Jahren komplett neu aufgestellt. Wir haben den Konzern entschlackt, vereinfacht, neu orientiert. Wir machen heute zwei Dinge: Wir haben die Technologie, um den Strom von jedem Kraftwerk zu jedem Verbrauchspunkt zu bringen. Und wir automatisieren die Industrie vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt. Damit liegen wir weit vor unseren Wettbewerbern bezüglich Klarheit und Einfachheit des Portfolios. Auf der Einspeiseseite haben die Erneuerbaren Energien zu einer enormen Dynamik geführt. Und auf der Abnahmeseite wird immer mehr Energie konsumiert, von Datenzentren, von smarten Gebäuden oder von Elektroautos. Wir haben ein Netz, in dem der Strom nicht nur in eine, sondern in alle Richtungen geht. Damit ist bei der Steuerung der Netze die Herausforderung größer geworden. Man muss heute nicht nur schnell reagieren, sondern mithilfe von Künstlicher Intelligenz auch proaktiv eingreifen.

Sie glauben also noch an das Smart Grid, das intelligente Stromnetz?
Aber sicher, wir arbeiten ja täglich damit.

Einige Energieversorger glauben aber nicht mehr daran.
Es gab vor einigen Jahren einen großen Hype um das Thema. Aber dann ist erst einmal wenig passiert. Zwischenzeitlich hat man die Technologie sorgfältig entwickelt – und jetzt haben wir sehr gute Wirkungsgrade. Wir sind damit weltweit sehr gut unterwegs, in der Mongolei wie in Singapur. Das wird kommen. Letztendlich müssen wir alle eines erreichen: die Welt bewegen, ohne die Erde zu verbrauchen. Mit einer gut geplanten Steigerung der Elektromobilität können wir hierzu einen erheblichen Beitrag leisten.

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