Fünf Uhr morgens. Langsam schwindet die Nacht. Drei Stunden fahren wir nun schon zu dritt durch diesen Wald. Es ist der 4. Mai 2019 – aber von Frühling keine Spur. Null Grad, Schneeregen, aufgeweichter Boden. Selbst mit unseren E-Bikes ist das Ganze anstrengend. Wir suchen Vögel. Genauer gesagt, sind wir nach einer kurzen Nacht im Wald um zwei Uhr morgens aufgebrochen, um innerhalb von 24 Stunden mindestens 136 Vogelarten zu finden. Klingt wahnsinnig? Heißt „Birdrace“.
Wir jagen einen Rekord und wir verfluchen die Bedingungen. Noch immer haben wir keinen einzigen Vogel gesehen. Später sollten wir erfahren, dass das Gewinnerteam „Cuxland“ zu diesem Zeitpunkt bereits 40 Arten auf der Liste hat. Doch all das hält uns nicht auf. Neunzehn weitere Stunden im Sattel warten. Vom verschrieenen Außenseiterhobby hat sich die Vogelbeobachtung innerhalb weniger Jahre zur trendigen Freizeitbeschäftigung gewandelt. Medien wie „Die Zeit“ oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreiben darüber, Bücher wie das sensationelle „Federnlesen“ von Johanna Romberg schaffen es in die Sachbuch-Charts des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, der vom NABU gekürte „Vogel des Jahres“ ist regelmäßiger Gast in der Tagesschau. Und bei öffentlichen Hobbyzählungen wie der „Stunde der Gartenvögel“ beteiligen sich zehntausende Menschen bundesweit.
Eine dieser Zählaktionen ist das jährliche „Birdrace“ des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA): Jedes Jahr am ersten Sonnabend im Mai – wenn die meisten Zugvögel zurück sind und die Brutsaison begonnen hat. Teams von drei oder mehr Personen zählen innerhalb ihres Landkreises Arten. Eine Art muss jeweils von der Mehrheit der Teammitglieder eindeutig bestimmt worden sein. Das Team, das in Seite 1/6 24 Stunden die meisten Arten „gesammelt“ hat, „gewinnt“ seine Regionalwertung – denn Vogelgucker an der Küste haben bessere Karten als Teilnehmer, deren Umland aus Agrarsteppe besteht.
Mit E-Bike und Sozialbrachvögeln unterwegs
Um im eigenen Gebiet Wald-, Wasser-, Offenland- oder Stadtvögel gleichermaßen entdecken zu können, sind fast alle Teams den ganzen Tag – und meist auch die Nacht – lang „auf Achse“. Das Birdrace befriedigt nicht nur eine auch unter (Hobby-)Ornithologen durchaus verbreitete eitle Sammelwut, es ist, wie das Beobachtungsportal ornitho.de oder Aktionen wie die „Stunde der Gartenvögel“ vor allem ein Anlass, massenweise Daten über Bestandsentwicklung sowie Brut- und Zugverhalten heimischer Vogelarten zu gewinnen. Das dient auch ganz konkret dem Artenschutz.
Zudem ist es ein Spendenrennen, bei dem Spender ihre Teams pro gesammelter Art unterstützen können. So kamen in 15 Jahren Birdrace über 80.000 Euro zusammen. Seit 2008 gibt es eine Extra-Kategorie für Fahrradteams, seit 2014 besteht das ausdrückliche Ziel, CO2-neutral zu bleiben und die Aufforderung an die Teilnehmer, die eigenen Emissionen zu kompensieren. 2019 waren 177 der 347 Teams autofrei unterwegs.
Die „Göttinger Sozialbrachvögel“ existieren als Birdrace-Team in wechselnder Besetzung schon seit 2005 und waren 2019 das zehnte Mal dabei. Ich hatte als Hobby-Orni das Glück, mit Béla Bartsch und Malte Georg zwei der kundigsten und kenntnisreichsten Ornithologen der Region an meiner Seite zu haben. Beide wollten erstens als Fahrradteam starten und suchten zweitens noch einen Teampartner. Die Idee zu einem E-Bike-Birdrace war schnell geboren. Keiner meiner beiden Teamkollegen war zuvor E-Bike gefahren, während ich ihrer Artenkenntnis nicht das Wasser reichen konnte.
Die optimale Ausrüstung für ein „Birdrace“
Béla und Malte waren mit Doppel-Akku-System bzw. Zweit-Akku auf Touren-Pedelecs von Riese & Müller („Supercharger“ mit GX-Option) und Flyer („Upstreet 5“) unterwegs. Während der Autor sich für ein Riese & Müller „Load 75“ Cargo-Bike mit Doppel-Akku entschied: Biwakausrüstung, Isomatten, Schlafzeug, Essen, Trinken, Regenkleidung und meine Foto- und Beobachtungsausrüstung fanden hier ausreichend Platz.
Wasserdichte Packtaschen sowie eine wasserdichte Bekleidung sind bei Regenwetter von unschätzbarem Wert. Ebenso wie ein gutes Fernglas zur Vogelbeobachtung. Für größere Beobachtungsdistanzen und eine längere Beobachtungsdauer empfiehlt sich aber ein leichtes Spektiv samt Stativ.
Die Rollen im Team waren also klar verteilt: Vogelexperten mit Fahrradkenntnis dort, Fahrradexperte mit Vogelkenntnis hier. Auf die Räder warteten vierstellig Höhen- und dreistellig Kilometer auf nach Dauerregen aufgeweichten Wegen und mit üppiger Zuladung, während sich die Fahrer nicht weniger zum Ziel gesetzt hatten als den Göttinger Birdrace-Rekord von 135 Arten (2013) zu knacken.
Ein früher Start bringt keine Vorteile
Ein Rekordversuch beim Birdrace erfordert neben Arten- und Umgebungskenntnis viel Planung. Schließlich muss man tag-, nacht- und dämmerungsaktive Arten verschiedener Habitate jeweils zur richtigen Zeit am richtigen Ort antreffen. Wir entscheiden uns also für einen Aufbruch am Vorabend und eine Nacht im Wald. Erstens in der Hoffnung, am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang Uhu, Waldkauz oder Waldschnepfe anzutreffen, und zweitens, um noch vom Biwak aus nachts ziehende Arten beobachten zu können.
Die tief stehende Abendsonne, die uns begleitet als wir Göttingen verlassen, könnte kein größerer Hohn sein. Noch am Abend ändert sich das Wetter. Die Temperaturen fallen knapp unter den Gefrierpunkt, Schneeregen und Graupel setzen ein, dazu ein unangenehmer Wind. Nach einer kurzen und eher ungemütlichen Nacht am Rand einer Windwurffläche starten wir gegen zwei Uhr morgens – trotz allem voller Tatendrang – in die Dunkelheit. Mit dem bekannten Ergebnis. Ein denkbar schlechter Auftakt für unseren Rekordversuch und unsere Moral. Kein Uhu ruft am bekannten Nistplatz, kein Waldkauz ist unterwegs – bis kurz nach fünf, als endlich das vertraute „Schuhu“ unsere erste Artbeobachtung markiert. Auch die Morgendämmerung hilft nicht. Normalerweise beginnen zu dieser Zeit die ersten Singvögel damit, das Licht zu begrüßen.
Doch welcher Vogel sich auch immer bei diesem Wetter herauswagt – im prasselnden Regen ist kaum etwas zu hören. Auch das Sperlingskauz-Revier, das wir besuchen, bringt uns nicht die erhoffte kleinste europäische Eulenart. Stattdessen ruft nur ein Habicht, ein Fressfeind des „Spauzes“. Egal, ob also ein Sperlingskauz hier ist oder nicht, er würde sich jetzt nicht bemerkbar machen. Mehr Pech kann man eigentlich nicht haben.
Mit der Sonne geht es bergauf
Als wir gegen 7 Uhr das erste Dorf erreichen und im „Schutz“ einer Bushaltestelle frühstücken, denke ich ernsthaft an Abbruch. Keine Tiere, keine Fotos. Alles „kalt, nass, dreckig und doof“, wie eine Freundin einmal sang. Je näher wir Göttingen kommen, desto besser wird aber das Wetter. Und mit dem besseren Wetter kommen dann auch die ersten Erfolgserlebnisse.
Wir können unser Glück kaum fassen, als wir uns am Wendebachstausee nahezu zeitgleich in Richtung dieses charakteristischen Gesangs umdrehen und grinsen, bis jemand endlich ausspricht: „Pirol“ – und alle nicken. Unser erstes Highlight steht auf dem Zettel. Ein wunderschöner Vogel, der leider wegen der Zerstörung seines bevorzugten Lebensraums – Flussauen und alte Laubwälder – hierzulande zu einer recht seltenen Erscheinung geworden ist.
Wir sind im Leinetal und fliegen nur so über die flachen Schotterwege und mit den Sichtungen geht es steil bergauf. Neben den häufigeren Arten notieren wir auch etliche, mit denen wir nicht unbedingt gerechnet hatten: Feldschwirl, Schwarzkehlchen, Wiesenweihe, Wespenbussard. Das macht das morgendliche Eulen-Fiasko fast vergessen. Als wir den Göttinger Kiessee erreichen – ein beliebtes Naherholungsgebiet am Stadtrand –, kommt die Sonne heraus und beginnt, uns zu wärmen und zu trocknen. Ich kann nicht fassen, dass ich noch vor drei Stunden aufgeben wollte.
Immer weiter fahren wir Orte an, die wir als gute Vogelhabitate kennen. Kilometer um Kilometer spulen wir ab: Kiesgruben, Flussläufe, Friedhöfe, Kirchtürme, Industriebrachen – es gibt kaum einen Ort, den sich Vögel nicht als Lebensraum erschlossen haben. Das ist einer der Gründe, warum „Ornis“ ihr Hobby so lieben. Es gibt viele verschiedene Arten direkt vor der eigenen Haustür. Wer sich für europäische Großkatzen oder wildlebende Säugetiere interessiert, muss in jedem Fall wesentlich mehr Frustrationstoleranz mitbringen.
Das Fahrrad hat hier als Fortbewegungsmittel gegenüber dem Auto gewaltige Vorteile, denn man kommt viel näher an die spannenden Orte heran. Während bei uns die Stimmung steigt, leisten unsere Räder Schwerstarbeit. Dicke Lehmklumpen haben sich in die hintersten Winkel der Räder geschlichen, die sandigen Ketten mahlen vernehmbar, die Bremsen schleifen. Vorteil für den Gates-Carbonriemenantrieb an Bélas Rad, dem der ganze Dreck gar nichts ausmacht. Aber auch alle anderen Räder und ihre Teile halten bravourös durch und eine abschließende Grundreinigung offenbart keinerlei Schäden am Material.
Zum „Auge des Eichsfeldes“
Wir gönnen uns eine Pausenpizza in der Göttinger Innenstadt, bevor wir zur letzten Etappe starten. Durch den Stadtwald geht es auf das Kerstlingeröder Feld (ein ehemaliger Truppenübungsplatz und ein Kleinod für viele Tier- und Pflanzenarten) und von dort weiter in Richtung Seeburger See. Das „Auge des Eichsfeldes“ ist der größte See der Region. Hier und auf den umgebenden Feuchtflächen hoffen wir, viele Wasser- und Watvögel zu sehen. Auch wenn wir alle enttäuscht sind, dass wir keine Zeit mehr haben, auf dem Kerstlingeröder Feld einfach eine Stunde in der inzwischen kräftig scheinenden Sonne zu dösen, mobilisieren der Endspurt und die Aussicht auf die ganz andere Tierwelt der Seenlandschaft unsere Kräfte.
Das ist auch bitter nötig, denn der Hin- und Rückweg verheißt allein etwa 700 weitere Höhenmeter und ich greife in Anbetracht meiner schwindenden Energie immer mal wieder heimlich zum „Turbo“-Modus. Doch die Vogelwelt rund um den Seeburger See spiegelt das gemischte Birdrace-Ergebnis. Wir freuen uns über einige Seltenheiten wie Baumfalke, Temminck-Strandläufer oder Uferschnepfe, vermissen aber etliche bekannte Wasser- und Watvögel. Als wir mit dem letzten Licht des Tages auf dem Steg am Seeburger See stehen und durch unsere Spektive schauen, wollen wir noch nicht klein beigeben. Unsere Akkus und die unserer Räder haben noch etwas Restkapazität. Also warten wir erneut die Abenddämmerung ab, um unser Eulen-Fiasko vom Morgen wettzumachen. Ohne Erfolg.
Das Fazit: technisch und ornithologisch
Auf dem Rückweg nach Göttingen, etwa acht Kilometer vor der Stadt, kapituliert mein Akku. Gut, dass wir mit dem E-Bike und nicht mit dem E-Auto unterwegs sind, denn so kann ich langsam, aber sicher nach Hause pedalieren. Béla und Malte kommen beide mit Rest-Energie in Göttingen an. Nach etwa 20 Stunden Fahrzeit, über 110 Kilo- und etwa 1.300 Höhenmetern mit viel Gepäck bei widrigen Bedingungen, kann sich das mehr als sehen lassen. Die E-Bike-Neulinge ziehen dann auch ein sehr positives Fazit: Malte ist überrascht, dass E-Bike fahren wie Fahrradfahren ist, „nur mit weniger Muskelkater“. Béla ist sogar richtiggehend begeistert: „Es macht einfach nur Spaß, jede Steigung ohne großen Aufwand zu überwinden und nicht anschließend die Kleidung wechseln zu müssen!“
Ich denke schlicht, dass diese Route in derselben Zeit mit den ständigen Beobachtungspausen ohne Elektrounterstützung ein kaum zu bewältigender Höllentrip gewesen wäre. Stattdessen konnten wir unsere Fahrt weitestgehend genießen und auch noch nach links und rechts schauen. Und ornithologisch? Mit 121 Arten verfehlen wir den Regionalrekord klar und haben trotzdem ein sehr beachtliches Ergebnis erzielt: Platz 61 bundesweit, Platz 31 in der Fahrradwertung.
Mit 70 Singvogelarten auf Platz 7
Am Ende ist niemand von uns enttäuscht. Das Wetter am Morgen war einfach zu ungünstig, als dass wir das noch hätten kompensieren können. Zusätzlich war wegen des milden Wetters der Vorwochen ein Großteil des Vogelzugs schon abgeschlossen. Außerdem steht uns mit 70 Singvogelarten bundesweit Platz Sieben in der Singvogel-Sonderwertung zu Buche: Ein Top-Ergebnis für drei Brachvögel. Béla und Malte wissen, wie ambitioniert das Ziel war und hatten den Rekord bereits früh abgeschrieben: Wir alle freuen uns über einige Highlight-Arten. Für mich der späte Baumfalke am Seeburger See, Malte hebt vor allem Wiesenweihe und Pirol hervor: „Beide Arten sind in der Region recht selten und der Pirol hat nach dem ernüchternden Start einen großen Motivationsschub gegeben.“
Für Béla sticht die Uferschnepfe heraus: „Ein leider inzwischen großflächig ausgestorbener Brutvogel der Feuchtwiesen, der auch dort, wo er noch vertreten ist, immense Bestandsrückgänge erlebt. Sie zu sehen freut mich immer, erinnert mich aber auch an den immensen Verlust, der mit dem intensiven Eingreifen in die früher artenreichen Kulturlandschaften einhergeht.“
So ist das für uns Ornis – der Freude über das Naturerlebnis steht immer auch das Wissen um die drastischen Bestandsrückgänge vieler Arten speziell der Offenlandschaft gegenüber. Gut, wenn man seiner Leidenschaft immerhin häufiger auch ohne Auto nachgehen kann. Einen richtigen Brachvogel haben wir leider nicht gesehen: Der ist in Niedersachsen seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgestorben.
Aktuelle Info: Birdrace 2020 unter der Corona-Wolke
Der Autor nahm am Birdrace 2019 teil – noch ganz ohne Corona-Sorgen. Anders als die meisten Veranstaltungen ist das Birdrace in diesem Jahr nicht abgesagt, sondern hält an seinem Termin am 2. Mai 2020 fest, allerdings unter stark veränderten Bedingungen. Sofern es die lokalen Regelungen erlauben, zieht man in diesem Jahr allein los, kann sich aber in sogenannten virtuellen Teams zusammenschließen. Alle weiteren Details gibt es auf der Website des DDA.