Chinesen verbringen viel Zeit im Auto, deutlich mehr als wir. Weil trotz steten Ausbaus des Straßennetzes in den Millionenstädten sich immer wieder kilometerlange Staus bilden. Aber auch, weil bezahlbarer Wohnraum knapp ist und viele junge Männer bei ihren Eltern wohnen, bis sie nach Ausbildung und Studium einen gutbezahlten Job gefunden haben. Das eigene Auto ist da eine Art mobiler Wohnraum, in der man es sich gerne gemütlich macht. Auf bequemen Sitzen, die sich leicht in Liegeflächen verwandeln lassen. Mit Reiskochern und Espressomaschinen, die sich in der Mittelkonsole oder im Kofferraum verstecken. Und natürlich mit großen Displays, um den Innenraum des Autos in eine Erlebniswelt verwandeln zu können, wenn der Verkehr mal wieder stundenlang steht oder gerade bei den Eltern dicke Luft herrscht. Minivans wie der neue Zeekr Mix erfreuen sich deshalb in China gerade großer Beliebtheit.
Der Trend fordert aber nicht nur die Fahrzeughersteller, sondern auch Autozulieferer wie Forvia, die sich auf Innenraumsysteme spezialisiert haben. Der französische Konzern, mit einem Umsatz von rund 27 Milliarden Euro und nach dem Zusammenschluss mit Hella siebtgrößte Autozulieferer weltweit, beliefert Autohersteller in China und Europa nicht nur mit Sitzen und Lichtsystemen, sondern macht sich im Technologie-Zentrum Hannover auch intensive Gedanken darüber, wie der Innenraum des Autos für das Zeitalter des hochvernetzten und vollautomatisierten Fahrens zu Wohn- und Erlebnisräumen auf Rädern umgestaltet werden könnte.
Auf der Tech-Messe CES in Las Vegas präsentiert der Konzern dazu unter anderem eine Reihe neuer Apps und Bezahldienste für neue Nutzererlebnisse in automobilen Ökosystemen, wie es in einer Pressemitteilung heißt.
Aber für solche „Erlebnisse“ braucht es natürlich zunächst einmal neue Hardware – vielfältig elektrisch verstellbare Sitze etwa, die sich nicht nur kühlen und heizen lassen, sondern darüber vielfältige Massagefunktionen bieten. Oder vielleicht auch eine Sensorik, um den Herzschlag und Blutdruck des Fahrers und seiner Passagiere zu messen. Die Möglichkeiten sind schier unendlich – auch für die Autobauer, daraus neue Einnahmequellen zu machen.
Fische schwimmen durchs virtuelle Aquarium
Was so alles möglich ist, demonstrierte Forvia schon auf der CES 2024 mit dem Technologieträger „Horizon“ – eine Art Sitzkiste mit der Innenraum-Größe eines VW Tiguan, aber viel mehr Freiraum und einem großzügigeren Raumgefühl als in jenem Kompakt-SUV aus Wolfsburg. Mit vier hochvariable einstellbaren Einzelsitzen mit integrierten Laufsprechern, einer Mittelkonsole, die sich auch als Tisch nutzen oder gegen einen Kühlschrank austauschen ließe. Und einem Cockpit, das den Insassen gewissermaßen seine Wünsche von den Augen abliest – und darauf reagiert. Der Demonstrator steht heute in Hanover- um Kunden aus der Autoindustrie zu zeigen, was heute schon möglich ist.
Auf großes Interesse stößt dort auch das sogenannte „Skyline Immersive“-Display von Forvia – ein innovatives, von den Hella-Lichtexperten entwickeltes Display, das sich unter der Windschutzscheibe über die gesamte Fahrzeugbreite ziehe. Sämtliche Informationen, die für den Fahrer von Bedeutung sind – oder was die Insassen während des lautlosen Dahingleitens im vollautonom fahrenden Robotaxi interessieren oder unterhalten könnte – lässt sich hier auf einem hochauflösenden Display darstellen. Auf Wunsch auch mit 3D-Effekten: Fische schweben da wie in einem virtuellen Aquarium durchs sanft beleuchtete Sichtfeld.
Klimaschutz-Programm lässt Leder keine Chance
Manche hierzulande mögen das als Spielerei abtun – in China hingegen, wissen die Forvia-Experten, kann von solchen Features der Verkaufserfolg eines neuen Autos abhängen. In Europa aber haben für die Autohersteller derzeit ein anderes Thema einen höheren Stellwert: Nachhaltigkeit. Die ehrgeizigen Klimaziele, die sich die Europäische Union im Zuge ihres Programms „Fit for55“ für den Straßenverkehr gesetzt hat, lassen sich nicht allein mit emissionsfreien Elektroantrieben erzielen. Sie erfordern auch Öko-Innovationen an vielen anderen Stellen im Auto. Bei der Beleuchtung und bei der Auswahl der Materialien für den Fahrzeug-Innenraum.
Sitze, die mit feinem Rinderleder bezogen sind, gehen da gar nicht mehr. Denn die Methan-Emissionen einer Kuh während des Verdauungsprozesses würden nach den neuen Regularien der EU auf die CO2-Werte des Autos einzahlen. Das will wegen der Milliardenzahlungen, die bei einer Überschreitung der Flottenziele drohen, heute kaum ein Einkäufer der Autoindustrie mehr riskieren. So nachhaltig langlebiges Nappaleder auch sein mag.
Neue Bezugsstoffe und Schaum-Kreationen
Also wird bei Forvia in Hannover intensiv an neuen Bezugsstoffen für die Sitze gearbeitet, die aus Plastikabfällen gewonnen werden. An neuen Mischungen aus Naturfasern wie Hanf und Kunstfasern, die aus ehemaligen Fischernetzen und Plastikflaschen gewonnen werden. Auch an neuen Kunstleder-Kreationen, die zu 100 Prozent als nachhaltig gelten und auch komplett recycelbar sind – aktuelle Plastik-Bezüge erfüllen den Anspruch heute noch nicht vollständig. Das gilt auch für die Schäume, mit denen die Sitze heute gepolstert sind.
Und natürlich dürfen die neuen Materialien nicht teurer werden als heute schon. Und das Ganze soll obendrein auch wenigstens 15 Jahre halten: In Hannover geht den 250 Spezialisten von Forvia die Arbeit so schnell nicht aus.