Knapp zehn Milliarden Euro investierte die Mercedes-Benz Group 2023 in Forschung und Entwicklung. Damit zählen sich die Stuttgarter zu den Unternehmen in der Autoindustrie, die für diesen Bereich am meisten Geld aufwenden. Die Ergebnisse werden in den kommenden Jahren in die neuen Fahrzeuge des Konzerns einfließen. Einige der Entwicklungen präsentierte das Unternehmen kürzlich in Workshops für Journalisten in Böblingen – dort, wo man der Zukunft der Mobilität schon weit voraus ist.
„Wir sehen den Pkw immer mehr als Teil des Lebens“, konstatieren die Forscher in Böblingen einhellig. Wie das aussehen kann, erfuhren wir bei einer kleinen Tour in einem Mercedes Maybach. Aber auch im Labor, wo wir in einem virtuellen Wohnzimmer Platz nahmen, um dann via Valet Service in den eigenen Pkw zu steigen – nahtlos. Ob sich die Menschen wirklich in absehbarer Zeit mit ihrer eigenen Google oder iPhone Brille mit individueller Sehschärfe (BYOD – Bring your own device) in der Welt bewegen wollen und Mercedes-Benz diese ins Fahrzeug integriert, bleibt abzuwarten. Der Automobilhersteller sieht solche Szenarien zumindest in den Metropolen von morgen als gegeben, wie die Zukunftsforscherin Marianne Reeb am Beispiel von London, Los Angeles und Shenzhen für die Jahre 2040 und darüber hinaus prognostizierte.
Stylish und emissionsfrei: Innovative Bremse
Innovationen kann man angeblich zählen und auch wiegen. Eine davon ist mit Sicherheit die bahnbrechende neue Bremse aus dem Mercedes-Benz-Forschungslabor. Die sogenannte „In-Drive Brake“ bringt für Autofahrer und Umwelt gewaltige Vorteile. Die Idee zu dieser Bremse basiert auf der Erkenntnis, dass Elektrofahrzeuge 98 Prozent der Bremsvorgänge via Rekuperation leisten. Für gerade mal zwei Prozent der Bremsungen, so berichtet Projektingenieur Christoph Schildhauer, brauche es hier die Reibbremse.
Die „In-Drive Brake“ ist so gut wie wartungsfrei und entlässt keinen Feinstaub, der bei klassischen Scheibenbremen in großem Umfang an die Umwelt abgegeben wird. Denn die Bremsbacken sitzen hier nicht mehr klassisch außen am Rad, sondern sind in die geschlossene Elektromotor-Getriebe-Einheit an Hinter- oder Vorderachse integriert. Der schöne Nebeneffekt für den Autofahrer: Er hat allzeit saubere Felgen. Dazu kommt aber ein weiterer Effekt: Diese Felgen können jetzt geschlossen sein, weil es keine Bremsenkühlung mehr benötigt. Für den intern entstehenden Feinstaub ist eine kleine Aussparung in der Getriebeeinheit vorgesehen, die mehr als ein Autoleben lang den gesamten Feinstaub aufnehmen kann.
Diese Innovation eröffnet dem Fahrzeug-Design neue Möglichkeiten und bringt bringt zudem aerodynamische Vorteile, die sich positiv auf die Reichweite auswirken. In welcher Größenordnung, wurde noch nicht verraten. Insgesamt ist die „In-Drive-Brake“ auch leichter und arbeitet leiser. Sie verschleißt kaum und rostet nicht. Trotzdem, so Schildhauer, sei die Bremswirkung gut zu dosieren. Und sie lasse auch unter hoher Belastung nicht nach.
Mikrowandler lassen E-Autos weiter fahren
Ein weiterer Gamechanger ist sicher auch die Hochvolt-Architektur bei den Elektroautos der nächsten Mercedes-Generation. Kurz gesagt streben die Forscher in dem Zusammenhang eine Parallelschaltung der Batteriezellen an – aktuell sind sie wie eine weihnachtliche Lichterkette in Reihe geschaltet. Die neue Architektur verspricht große Effizienzsteigerungen. Denn an den Zellen liege immer die gewünschte Spannung an – 400 Volt oder 800 Volt. Leistungseinbrüche seien deshalb nicht mehr zu befürchten.
Warum sie bei Mercedes-Benz nicht schon viel früher auf diese trivial anmutende Änderung gekommen sind? Es fehlten ganz einfach die feinteilig mit Milliarden von Informationen gespeisten programmierbaren Mikrowandler, die minimal dicker als der Nagel des großen Daumen des Menschen sind. Dazu bewegen sich die Entwickler weg von der Hardware, hin zum Software gesteuerten Energiewandler (Power Converter). Dieser sehr kleine programmierbare Mikrowandler ist direkt auf der Batteriezellebene angeflanscht, und zwar an eine beliebige Anzahl von Batteriezellen. Jeder einzelne Mikrowandler kann so die einzelnen, parallel geschalteten Zellen individuell regeln und somit auch die Höhe der Ausgangsspannung. Man kann sich vorstellen, dass die Höhe der Ausgangsspannung von Einheit zu Einheit immer mal wieder durchgewechselt wird, was in einer höheren Lebensdauer der Batterie resultieren kann.
„Die derzeitigen Forschungsergebnisse zeigen, dass – unabhängig vom Ladezustand (SoC, State of Charge) und dem Alterungszustand (SoH, State of Health) der einzelnen Zellen – eine konstante Hochvolt-Spannung von 800 Volt am Ausgang bereitgestellt werden kann“, erklären die Entwickler.
Neue Freiheiten für Antriebskonzeptionen
Die Mikro-Technologie optimiert zudem das bidirektionale Laden und könnte auch die Reichweite eines Elektroautos steigern. Und nicht zuletzt ergeben sich dadurch neue Freiheiten für die Modularisierung von Elektro-Antrieben. Denn die programmierbaren Mikrowandler könnten bereits in den Produktionsprozess einbezogen und so die gewünschte „Motorisierung“ erzielen, indem Varianten elektrischer Bauteile je nach Modell reduziert werden. Zellen können nach Bedarf an- und ausgeschaltet werden, müssen nicht unnötig im Einsatz sein – ähnlich der Zylinderabschaltung beim Verbrenner. Zudem können die Bauteile bei Updates leicht umprogrammiert werden. Bei Mercedes-Benz ist man davon überzeugt, dass diese Technologie das Potential dazu hat, die Konzeption von Elektroautos zu revolutionieren.
Ein weiterer positiver Ausblick: Zukünftig will der Hersteller sogar unterschiedliche Batterien miteinander mischen können – um so Hochleistung und Langlebigkeit gut miteinander zu kombinieren. Bis diese Revolution in der Batterietechnologie allerdings ausgereift ist und damit Realität werden kann, ziehen noch etliche Jahre ins Land.
Biotechnologie als Vorbild und nachhaltige Kreislaufwirtschaft
Vorgestellt wurde auch ein neuartiger, besonders leichter und dünner Solarlack auf Nanopartikelbasis, der nach Einschätzungen der Forscher in der Region Stuttgart Strom für 12.000 Kilometer im Jahr produzieren könnte, in sonnenreichen Regionen wie Kalifornien sogar für noch einige Tausend Kilometer mehr.
Und für das hochautomatisierte Fahrens könnte es durch „neuromorphic Computing“ einen kräftigen Schub geben. Rechnerarchitekturen auf der Basis neuronaler Netze nach dem Vorbild menschlicher Gehirne könnten den Energieaufwand für die Berechnungen hochkomplexer Prozesse deutlich reduzieren und schnellere Entscheidungen ermöglichen – wenn das Auto plötzliche Brems- oder Ausweichmanöver vollführen muss.
Auch die Materialforscher konnten in Böblingen interessante Entwicklungen präsentieren. Beispielsweise eine leistungsstarke Kunstseide, die reißfester ist als die natürliche sowie eine hochwertige Lederalternative aus recycelten Kunststoffen (etwa aus Altreifen). Das Kunstleder etwa ist nicht nur leichter als echtes Rindsleder, sondern auch atmungsaktiv und wasserfest. Hier scheint die Zukunft schon ganz nahe zu sein.
„…unabhängig vom Ladezustand (SoC, State of Charge) und dem Alterungszustand (SoH, State of Health) der einzelnen Zellen – eine konstante Hochvolt-Spannung von 800 Volt am Ausgang bereitgestellt werden kann“ Da muten aktuelle EVs wie Oldtimer aus dem letzten Jahrhundert an…