International nahezu unbemerkt tritt in China ein neues automobiles Startup an, das sich als Speerspitze lokaler Innovationstreiber betrachtet: Jidu Auto. Nie gehört? Dann sind Sie nicht allein. Das erst 2021 gegründete Unternehmen verfolgt eine ungewöhnliche Markenstrategie. Denn seine batterie-elektrischen Fahrzeuge besitzen Alleinstellungsmerkmale im chinesischen Markt, die auch international Anklang finden könnten.
Einerseits sind sie hochvernetzt, um chinesische Technikfreaks zu begeistern. Andererseits pflegen sie Fahreigenschaften, die nur Autos aus der „alten Welt“, wie man in China sagt, noch bieten. Über letztere sehen sich chinesische Marken eigentlich längst hinausgewachsen. Präzises Kurvenverhalten, stabile Straßenlage, feinfühliges Ansprechen von Lenkung und Bremsen, kurz: ein enger Kontakt des Fahrers zum Fahrverhalten spielen für chinesische Kunden auf dem Weg zum vollautonomen Fahren kaum mehr eine Rolle. Anders bei Jidu Auto. Wir treffen den CEO Xia Yiping und fragen den von Cadillac abgeworbenen Chefdesigner Frank Wu sowie den für intelligente Fahrfunktionen verantwortlichen Vizepräsidenten Yunpeng Pan, wie das zusammen passt.
Zunächst aber ein paar Worte zum Geschäftsmodell von Jidu Auto. Anders als automobile Traditionsmarken, die sich an internen Transformationsprozessen auf dem Weg zur Elektromobilität gerade die Zähne ausbeißen, fängt Jidu Auto dort an, wo erstere hinwollen. Gut aufgestellte Lieferketten erlauben in China eine weniger stark zentralisierte Entwicklung neuer Fahrzeuge. Akkus, Steuergeräte, E-Motoren, ja, komplette Plattformen können eingekauft, die Fahrzeuge in Auftragsarbeit montiert werden. Deshalb ist es auch branchenfremden Unternehmen möglich, eigene Automarken ins Leben zu rufen. Etwa Xiaomi, Meizu, Huawei und hier das chinesische Google-Pendent Baidu.
Suchmaschinen-Riese kooperiert mit Geely
Auf Initiative des Suchmaschinen-Riesen Baidu wird 2021 das Unternehmen Jidu Auto gegründet. Als Kooperationspartner mit an Bord geht Vielmarken-Großkonzern Geely, dem unter anderem Zeekr, Volvo und Polestar, Lotus sowie Lynk&Co gehören. Am Startkapital von nur 300 Millionen US Dollar hält Baidu 55 Prozent, die restlichen 45 Prozent entfallen auf Geely. Ein Jahr später werden weitere 400 Millionen US Dollar aufgebracht. Doch Jidu Auto erhält die staatliche Genehmigung zum Bau von Autos nicht, so lange Baidu die Mehrheit hält.
Deshalb gründen beide Partner im August 2023 die Premium-Automarke Jiyue, an der Geely mit 64 Prozent die Mehrheit hält und Baidu 35 Prozent. Geely steuert für die Elektroautos von Jiyue seine skalierbare SEA Plattform (Sustainable Experience Architecture) samt 800-Volt-Architektur bei und fertigt die Fahrzeuge in Qian Wan/Zhejiang auf Produktionslinien von Zeekr. Über diese Schleife realisiert Baidu nun seinen Einstieg in die E-Mobilität.
Nur einen Monat später fährt das 4,85 Meter lange lange Mittelklasse-SUV Jiyue 01 (ab 249.000 RMB oder 32.632 Euro) auf den Markt, im September 2024 folgt die Sportlimousine Jiyue 07, die in China zu Preisen ab 199.000 RMB oder 26.100 Euro angeboten wird. CATL steuert seine vergleichsweise langlebigen Qilin (LFP)- Batterien mit Kapazitäten von 71,4 kWh und 100 kWh bei. Damit soll der 400 kW oder 544 PS starke Jiyue 01 bis zu 550 Kilometer weit kommen. Beim 530 kW starken Jiyue 07 sind Reichweiten von über 700 Kilometer drin. Beide Elektroautos überzeugen mit gelungenen Proportionen und schnörkellosen Karosserien. Sie folgen dem aktuellen chinesischen Mainstream-Design.
Fit für das autonome Fahren auf Level 4
Hardwareseitig bieten beide Fahrzeuge kaum Neues. Sie besteht überwiegend aus Massenware. Die Autos von Baidu punkten mit anderen Qualitäten. Insbesondere mit hochinnovativen autonomen Fahrfunktionen auf Level 4, die Projekttreiber Baidu mit seinem Apollo ADFM-System (Autonomous Driving Foundation Model) beisteuert. Das Niveau für autonomes Fahren wird damit bereits bedient, obwohl der Gesetzgeber es noch nicht freigibt und nach wie vor ein haptisches Feedback des Fahrers übers Lenkrad verlangt.
Mit dem System, in das Baidu in mehr als 10 Jahren umgerechnet 20 Milliarden Euro investiert hat, können andere chinesische Fahrzeuge nur schwer mithalten. Es basiert auf Praxiserfahrungen von sechs Generationen Robo-Taxis, die Baidu mit Sondergenehmigungen etwa in Wuhan und Beijing betreibt. Das System ist nun in vergleichsweise preiswerten Jiyue Autos verbaut, was einen deutlichen Wettbewerbsvorteil auf dem hart umkämpften Heimatmarkt schafft. Es geht um nicht weniger als ADAS-Funktionen, die aktuell den Spitzenplatz in der Autoindustrie weltweit einnehmen.
Europäer sind längst abgehängt
Eine Studie der Software-Entwicklungsgesellschaft P3 aus Stuttgart belegt diesen Anspruch in einem Index vom April 2024 an Hand des Jiyue 01. Die von Baidu Software gesteuerten Funktionen besitzen demnach eine Reifegrad, den nur die von Huawei marginal übertrifft. Das Ranking folgt Praxiserfahrungen im quirligen chinesischen Stadtverkehr, auf Autobahnen, es umfasst Remote Einpark-Manöver und bewertet die zuverlässige Arbeitsweise von Sicherheitsassistenten. Besonderes Augenmerk legten die Analysten auf die detaillierte Darstellung der Fahrumgebung in HMI-Displays sowie auf vorausschauende, akustisch unterstützte Feedbacks zu eingeleiteten und beabsichtigten Manövern. Dieses Piepen, Läuten und Klingeln mag uns Europäer nerven. Chinesen hingegen schätzen die Warn- und Hinweistöne als Stimulanz ihrer Aufmerksamkeit. Westliche, koreanische und japanische Marken bleiben der Studie zufolge abgehängt.
Seit September liefert Jiyue seine Limousine 07 mit der jüngsten Version der Baidu V2.0 Apollo Software aus. Ihr Kernmodul mit Qualcomm Snapdragon 8295P-Chips sorgt für eine extrem schnelle Rechnerleistung. Gesammelt werden Daten fürs Jiyue ASD (Autonomous Self Driving) analog zum Tesla FSD (Full Self Driving) ausschließlich visuell von Kamerasystemen – unterstützt von Nahbereich-Radarsystemen sowie Ultraschallsensoren. Dadurch können die Fahrzeuge unabhängig von hochauflösenden Straßenkarten und teurer LiDAR Lasertechnik navigieren. Entscheidungen über Fahrmanöver werden situativ getroffen und von Daten gestützt, die in mehreren hundert chinesischen Städten erhoben wurden. Auch das ein Rekord.
Selbstlernende Software von Baidu
Für den chinesischen Markt räumt die Baidu-Software Jiyue einen erheblichen Wettbewerbsvorteil insbesondere gegenüber Tesla ein, dessen einstufiges System fehleranfällig sei, wie Jiyues IT-Chef Yunpeng Pan erklärt und auf die hohe Unfallhäufigkeit der Tesla-Stromer verweist. Die neuste Apollo-Software dagegen arbeite zweistufig, trenne Wahrnehmung und Entscheidungsfindung voneinander, wodurch beide Segmente schneller und kostengünstiger optimiert werden können. „Damit zahlen wir in ein stabileres Gesamtsystem ein“, glaubt Yunpeng. Wen wundert’s: das 07 Premierenmodell ging in Besitz des CATL-Chefs Robin Zeng.
Mit dem gerade auf der Guangzhou Automesse vorgestellten Prototypen Robo X (Studien und Vorserienmodelle der Marke tragen die Bezeichnung Robo) möchte Jiyue alle Konkurrenz abhängen. Yunpeng Pan verspricht für die Serienversion des spektakulären Supersportwagens eine nochmals verfeinerte IT- Technik auf Basis der ständig dazu lernenden Baidu-Software.
Display im Lenkrad steuert alle Funktionen
Die Serienversion des Robo X führe diese erstmals im Segment der Supersportwagen ein. Ab Auslieferung in 2027 könne sie nochmals komplexere Aufgaben lösen als gegenwärtig, verspricht er. Doch der Robo X bietet mehr, womit wir zum nächsten Alleinstellungsmerkmal kommen. Während andere chinesische Hochleistungs-Sportwagen wie der Yangwang U9, Zeekr 001FR, Lotus Evija und Xiaomi SU7 und XPeng P7+ auf Interieurs mit standardisiertem Grund-Layout setzen – Multifunktionslenkrad, Kuchenblech großes Zentraldisplay für nahezu alle Funktionen vor verödeter Armaturenträger-Landschaft -, realisiert der Robo X getrennte, designintegrierte Funktionsbereiche nach dem Vorbild klassischer Verbrenner-Boliden – hier natürlich voll digitalisiert.
Besonders interessant: das hochauflösende Display im Multifunktionslenkrad, über das alle Fahrfunktionen angesteuert werden. Wem das im hochdynamischen E-Zweisitzer zu riskant erscheint, der in atemberaubenden 1,9 Sekunden auf 100 km/h sprintet, nutzt besser den Sprach-Roboter SIMO. Mit dessen Hilfe können während schneller Runden Feinabstimmungen am Kraftfluss, Fahrwerk und Aerodynamikhilfen vorgenommen werden.
SIMO liest die Wünsche von den Lippen ab
Die jüngste Version SIMO 2.0 nutzt eine integrierte Lippen-Erkennung, die das Sprachverständnis insbesondere in lauter Umgebung um 90 Prozent verbessert. Eine Weltneuheit. Sie führt nicht nur Fahrzeug bezogene Befehle aus, sondern fungiert AI-unterstützt (analog zu ChatGPT) auch zu universellen Themen als allwissender Unterhalter. So spult der Avatar auf Wunsch Witze ab oder vorbestellt im Restaurant scharfe Sechuan-Gerichte. Auch über die Vorzüge von Bordeaux-Weinen kann er referieren, kein Problem.
Einzigartig für ein chinesisches Auto ist zudem das Entwicklungsziel, dem Supersportwagen europäische Fahreigenschaften einzuweben und es am Ende tatsächlich auch zu verwirklichen. Anders als etwa der Xiaomi SU7, dessen Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Robo X mit neuer Feststoffbatterie von CATL
Frank Wu ließ dem Robo X eine 4,65 Meter lange und nur 1,19 Meter flache Kohlefaser-Karosserie schneidern und auf hochfeste Aluminiumstrukturen mit 2,70 Meter Radstand. Das Design der Elektro-Flunder könnte durchaus von Pininfarina stammen. Der Supersportwagen wiegt nur 1.850 Kilo bei einer Gewichtsverteilung zwischen beiden Achsen von 50:50. In seiner SEA-Plattform soll zur Serienreife 2027 die kürzlich von CATL angekündigte Feststoffbatterie (ASSB = All Solid State Battery) sitzen. Sie soll eine Energiedichte von rund 500 Wattstunden pro Kilogramm (Wh/kg) besitzen – das wären etwa 150 Wh/kg mehr als bei den besten Lithium-Ionen-Akkus heute. Aufgrund der angepeilten Reichweite von 650 Kilometer nach chinesischer Messweise (nach der WLTP-Norm wären das etwa 500 Kilometer), sollte der Stromspeicher recht klein ausfallen und leicht bauen – sowie ultraschnell nachgeladen werde können.
Die Serienversion des Jiyue Robo X werde liefern, verspricht Frank Wu. Und ein von uns exklusiv einsehbares Dokumentationsvideo einer Prototypen-Abstimmungsfahrt auf einer Rennstrecke lässt vermuten, dass er Recht behält. Beim Hecktriebler sind in hochdynamisch genommenen Kurven keinerlei Karosseriebewegungen zu erkennen. Auch sind nur knappe Lenkkorrekturen nötig, um die Ideallinie zu halten. Die auf der Messe in Guangzhou gezeigte Allradversion verfügt über vier radnah verbaute, flüssigkeitsgekühlte Elektromotoren, die zusammen auf eine Antriebsleistung von mindestens 1.000 kW oder 1.360 PS kommen dürften. Technische Daten bestätigt Firmenchef Xia Yiping aber noch nicht.
Export nach Europa startet 2025
In China haben bereits mehrere hundert Interessenten für die Serienversion eine Anzahlung von umgerechnet 6.500 Euro geleistet. Erwartete wird ein Marktpreis in China von umgerechnet 150.000 Euro. Der könnte den Sportwagen auch für Kunden in Europa interessant machen – trotz der Strafzölle der EU. „Ab 2025 gehen wir in internationale Märkte“, kündigt Firmenchef Xia im Gespräch mit EDISON an. Zunächst sei aber nur an den Export des Jiyue 01 und 07 gedacht.
Das Jahr 2024 werde in die Geschichte eingehen, schwärmt er – als das Jahr, in dem hochautonom fahrende Autos den Durchbruch schafften. JiYue verstehe sich auf dem Gebiet als treibende Kraft. Vermutlich unter dem Markennamen Jidu will er die ADAS-Systeme schon bald auf den Weltmarkt bringen.