Von Null auf 100 vergehen nur 3,5 Sekunden, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 260 km/h. Angetrieben sind alle vier Räder, mit einer Gesamtleistung von 585 Pferdestärken und einem maximalen Drehmoment von 740 Newtonmeter.
Der eine oder andere mag bei der Aufzählung dieser Leistungsdaten hier jetzt einen Fahrbericht über einen Porsche 911 Turbo erwarten. Oder zumindest über den vollelektrischen Porsche Taycan GTS – beide sind ähnlich stark oder ähnlich schnell. Aber nein. Beschäftigen wollen wir uns hier mit dem neuen Kia EV6 GT. Dem Topmodell der koreanischen Automarke, die bei ihrem Markteintritt in Deutschland vor 30 Jahren in erster Linie mit niedrigen Preisen und großzügigen Garantieversprechen auf sich aufmerksam machte. Innovationen boten die Fahrzeuge des Neulings damals nicht, immerhin stimmte die Qualität.
Lang, lang ist’s her. Mittlerweile nähert sich Kia in Deutschland mit zweistelligen Zuwächse bei den Neuzulassungen einem Marktanteil von drei Prozent. „Ki“ – im koreanischen Schriftsystem gleichbedeutend mit Aufstieg – macht ernst und lehrt inzwischen nicht nur Volkswagen und Opel, die einstigen Platzhirsche im Volumengeschäft, das Fürchten. Auch Porsche und andere Premiumhersteller müssen sich warm anziehen. Die Antriebswende und die Expertise der Koreaner bei Elektroantrieben könnten dafür sorgen, dass die Karten schon bald neu gemischt werden.
Stärkster Kia aller Zeiten
Der neue EV6 GT setzt jedenfalls ein Ausrufezeichen. Es ist das stärkste Auto, das Kia jemals gebaut hat. Und diesmal geht es nicht um das Massengeschäft und große Stückzahlen, sondern darum, das Image der Marke auf ein neues Level zu heben – auf Augenhöhe mit Audi, BMW und Mercedes.
Die technischen Voraussetzungen dafür sind gut. Schon das Basismodell des vollelektrischen EV6 trug der Marke allerlei Lorbeeren ein – unter anderem die renommierten Titel „Car of the Year“ und „German Premium Car of the Year„. Die Fähigkeit, dank einer 800-Volt-Architektur den Akku mit bis zu 240 kW ultraschnell laden zu können, eine große Reichweite von über 500 Kilometern, ein enormes Platzangebot und vergleichsweise moderate Preise ab rund 45.000 Euro überzeugten nicht nur die Juroren. Auch die Autokäufer in Deutschland: Die Auftragsbücher sind derzeit gut gefüllt. Aktuell betragen die Lieferzeiten für das Modell zwischen zehn und zwölf Monate. Und die GT-Version dürfte die Begehrlichkeit noch einmal steigern: So viel Antriebspower für so wenig Geld bietet derzeit kein anderer Autohersteller. Zum Vergleich: Ein Porsche Taycan GTS, 440 kW oder 598 PS stark und bis zu 250 km/h schnell, ist etwa doppelt so teuer wie der Kia.
GT bereits vor Markteinführung ausverkauft
Allerding nimmt Kia Deutschland für sein neues Topmodell derzeit nicht einmal mehr Bestellungen entgegen: Das erste Kontinent zum Preis von 65.900 Euro ist bereits vor der offiziellen Markteinführung restlos ausverkauft. Diejenigen, die bereits vor der virtuellen Vorstellung des Modells im vergangenen Jahr bei ihrem Händler vorstellig wurden und mehr oder weniger blind einen Kaufvertrag zeichneten, haben also instinktiv richtig gehandelt. Sie werden voraussichtlich noch in diesem Jahr oder im Frühjahr 2023 bedient.
Alle anderen können sich irgendwann in der zweiten Hälfte 2023 oder gar erst 2024 das erste Mal hinter das Steuer des Kia EV6 GT setzen. Zu einem voraussichtlich um einige tausend Euro höheren Preis.
Auf einem Testgelände nahe Stockholm konnten wir den Rausch der Geschwindigkeit, den dieses Elektroauto leicht zu vermitteln vermag, dieser Tage bereits erleben. Und auch wenn Kia im Unterschied zu Porsche auf eine „Launch Control“ verzichtet: Auch ohne dieses Feature kann einem im EV6 GT die Spuck wegbleiben, wenn das allradgetriebene Crossover nach Betätigung der neongelben GT-Taste aus dem Stand heraus Fahrt aufnimmt. Die Beschleunigung ist so rasant, dass dem Fahrer kaum mehr Zeit mehr bleibt, die Geschwindigkeitsanzeige im Head-Up-Display abzulesen.
Hochleistung-Inverter der neuesten Generation
Bis zu 21.000 Umdrehungen pro Minuten drehen sich die beiden ölgekühlten Permanentmagnet-Synchronmaschinen an Vorder- und Hinterachse, deren Leistung von einem Glykol-gekühlten und zweistufigen Siliziumkarbid-Inverter des amerikanischen Halbleiterherstellers Onsemi höchst effizient gesteuert wird. Mit derartiger Technik, schwärmt Kia-Produktplaner David Labrosse, könne derzeit nicht einmal der Porsche Taycan aufwarten.
Na ja, natürlich schnellt auch im Kia EV6 GT bei Beschleunigungsorgien der Energieverbrauch kräftig in die Höhe – einen Durchschnitt von 33 kWh/100 zeigte der Bordcomputer am Ende der Fahrten auf dem Testgelände an. Und der Kia kann noch ganz andere Dinge, die man von einem Elektroauto eher nicht erwartet. Zum Beispiel driften, also mit kontrolliertem Übersteuern um Kurven oder Pylone bewegen. Einfach mit wohldosiertem Druck aufs Fahrpedal. Und trotz eines Gewichts von immerhin knapp 2,3 Tonnen lässt sich das Fahrzeug auch leicht wieder einfangen – der Elektronik, einem adaptiven Fahrwerk mit Wankstabilisierung sowie breiten Reifen im 21-Zoll-Format sei Dank.
Aber die Spaßbremsen bei BUND und DUH mögen beruhigt sein: Der Hochleistungs-Stromer lässt sich auch ganz kommod und entspannt bewegen, mit Verbräuchen dann um die 20 kWh/100 km. Ohnehin ist der EV6 GT nicht auf Krawall gebürstet. Der Heckspoiler ist nicht größer als bei den schwächeren Fahrzeugen der GT-Line, lediglich die neongelben Bremssättel, ein paar GT-Sticker hier und da sowie die Sportsitze in der ersten Sitzreihe lassen erahnen, dass es dieser EV6 faustdick hinter den Ohren hat.
Ansonsten bleibt es ein Elektroauto mit hohen Langstreckenqualitäten, einem enormen Platzangebot auch in den beiden Gepäckräumen und einer erfreulich einfachen Bedienerführung. Ok, die Sprachsteuerung könnte besser sein, auch fehlt noch eine prädiktive Ladeplanung wie in den Elektroautos der etablierten Premiumhersteller aus Deutschland. Aber wie wir gelernt haben, lernen die Koreaner sehr schnell – die Schwächen dürften alsbald abgestellt sein.