Ich kann mein Herz schlagen hören in der Wüste, so still ist es hier. Doch da ist ein Geräusch. Neben mir steht der Lucid Air Grand Touring, und seine Kühlung arbeitet so laut, dass er sich anhört wie ein großer Staubsauger. Das Auto kämpft mit der Hitze. Genau wie ich.
Die Hitze ist greifbar, man spürt sie überall. 115 Grad Fahrenheit steht auf der Anzeige im Auto, vorhin waren es sogar mal 118. Das sind 47,8 Grad Celsius. Ich atme diese Hitze ein und schwitze sie gleich wieder aus, hier in Desert Hot Springs, zwei Autostunden östlich von Los Angeles. Hierher bin ich mit dem Lucid Air gefahren, dieser Luxus-Elektrolimousine, deren Reichweite mit über 840 Kilometern angegeben wird. Und die im Herbst nach Deutschland kommt.
Firmenboss Peter Rawlinson behauptet, Mercedes habe die 1000-Kilometer-Reichweiten-Studie EQXX überhaupt nur wegen des Lucid Air gebaut. Aber diese Werte werden nur unter perfekten Bedingungen erreicht. Ich aber will jetzt den Extremtest machen: In die Wüste fahren, drei Personen plus Gepäck; Klimaanlage voll aufgedreht, weil das Auto mit seinem Glasdach sonst zum Glutofen wird. Dazu auf dem Highway eher schneller als erlaubt, schließlich hat der Lucid Air 800 PS an den Achsen. Wie weit kommt die E-Limousine dann?
Technische Daten
Lucid Air Grand Touring
Antrieb: zwei E-Motoren, Allrad
Leistung: 588 kW (800 PS) • max. Drehmoment 1200 Nm
Beschleunigung 0–100 km/h in 3 Sekunden • Höchstgeschwindigkeit 270 km/h
Akku-Kapazität 112 kWh • max. Reichweite 845 km • Ladeleistung bis 300 kW
Länge/Breite/Höhe 4975/2198/1410 mm • Leergewicht ca. 2375 kg
Preis 154.000 Dollar (netto)
Es soll also diesmal nicht um die irre Beschleunigung gehen, nicht um das hyperschnelle Laden dank „Wunderbox“ (so heißt Lucids Onboard-Charger) und nur am Rande um den Komfort und den Platz. Es geht jetzt um Lucids absoluten Trumpf, die Effizienz seines Antriebs. Es geht darum, ohne aufzuladen so tief wie möglich in die Wüste zu kommen – und auch wieder heraus.
BEVERLY HILLS –TWENTYNINE PALMS
Ich hole den Lucid auf der Nobel-Automeile in Beverly Hills ab. Er ist leider nicht zu 100 Prozent geladen. Für die letzten neun Prozent bräuchte er hinten in der Werkstatt zweieinhalb Stunden. Ich warte, schließlich fahre ich mit 97 Prozent Ladestand los. Reichweite laut Bordcomputer: 442 Meilen, das sind 711 Kilometer.
Also erst mal Fun haben. Auf dem Angeles Crest Highway, einer Serpentinenstraße bei L.A., habe ich Spaß, aber alles im Smooth-Fahrmodus, dem effizientesten der drei Fahrprogramme. Bei „Swift“ oder „Sprint“ wäre auch sofort die Highway-Polizei da.
Nach 369 km Fahrt noch 225 km Reichweite
Dann nach Hause, Frau, Sohn und Gepäck verladen. Knapp 200 Kilogramm zusätzlich an Bord. Und ab Richtung Wüste. Ich habe die volle Rekuperation eingestellt und die Reichweitenanzeige immer im Auge. 120 km/h auf dem Highway, rollen lassen, wo es geht – die Anzeige verändert sich fast nicht. Im Gegenteil: Bei jeder Abfahrt steigt die Reichweite sogar leicht. Leider geht es bis zum Wüstenort Twentynine Palms fast immer bergauf. Als es dunkel wird, checken wir in ein billiges Motel ein und bilanzieren: 369 Kilometer gefahren, Akku noch zu 32 Prozent voll, Restreichweite 226 Kilometer. Draußen ist es fast schon kühl, unter 30 Grad. Fahrzeug und Familie ruhen sich aus. Und ich bin froh, ein Zimmer ganz hinten zu haben, mit dunklem Carport direkt daneben. Hier hab ich den Lucid im Blick, das Auto ist wahrscheinlich mehr wert als das ganze Motel.
TWENTYNINE PALMS – JOSHUA TREE
Am nächsten Morgen Frühstück im einzigen Café im Ort. Ein Typ spricht mich an, sagt: „cooles Auto“. Ich antworte: „vollelektrisch“, und er macht große Augen und sagt nichts mehr. Dann geht es in den Joshua-Tree-Nationalpark. Steine, Sand, Kakteen – und eben Joshuabäume. Kurz vor der Einfahrt zum Park stehen mitten in der Wüste tatsächlich Ladestationen. Aber es sind Tesla Supercharger, und die funktionieren für meinen Lucid noch nicht.
Aber ich will ja eh nicht laden, sondern Meilen machen. Die Außentemperatur ist immer noch recht mild am Morgen – 35 Grad. Das leicht gebogene Digitalcockpit ist aber jetzt schon heiß wie eine Herdplatte. Erstaunlich, dass alles trotzdem funktioniert. Mir wird klar, warum Autohersteller so viel Zeit und Geld in Extrem-Hitzetests in Arizona investieren (oder Extrem-Kältetests in Lappland).
Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren, die Sonne steht schon über der Glaskuppel. Die Landschaft ist wild und schön, doch immer wieder wandert der Blick auf die Verbrauchsanzeige. Sie wird mit Meilen pro Kilowattstunde angegeben, und weil wir hier gerade kilometerweit nur bergauf fahren, sinkt der Wert von 3,4 auf 3,1. Umgerechnet steigt der Verbrauch von 18,4 kWh/100 km auf 20,2. Eigentlich wollten wir noch hoch zu einem Aussichtspunkt im Park, aber das lassen wir besser bleiben.
JOSHUA TREE – PALM SPRINGS
Mit 22 Prozent oder 144 Kilometer Restreichweite geht es die gut 80 Kilometer runter in die Nobel-Wüstenstadt Palm Springs. Runter ist super, denn jetzt gewinnt der Lucid Air Bremsenergie als Strom zurück, dass der Akku sich freut. Bei Tempo 90 auf der zweispurigen Landstraße rollt der Air dahin, hier ist eh kaum einer schneller unterwegs. In der Wüste haben die Menschen mehr Zeit als in der Stadt. Als die Reichweite unter 50 Meilen (80 Kilometer) fällt, warnt der Wagen. Wir sind aber auch nur noch 20 Kilometer von Palm Springs entfernt. Der Puffer ist trotzdem wichtig, wer weiß, was mit der 350-kW-Ladestation in der Stadt ist.
Dann, nach 334 Meilen durch die Wüste, endlich am Ziel: ein Parkplatz hinter einer Bank of America. Der 350-kW-Lader ist tatsächlich defekt, aber daneben stehen noch vier 150-kW-Stationen. Weil der Lucid „Plug & Charge“-fähig ist, muss ich mich nicht anmelden, nur einstöpseln.
Rund 40 Dollar kostet der wüste Trip
Am Ende waren noch zehn Prozent Strom im Akku. Restreichweite: 54 Kilometer. Verbrauch: 17,4 kWh/100 km. Das ist angesichts der Umstände (Gewicht, Hitze, Motorleistung) ein unfassbar guter Wert. Der Lucid lädt anfangs mit 174 kW, was merkwürdig ist an einem 150-kW-Lader. Man hört den Strom ins Auto fließen, alle 24 Sekunden ein Prozentpunkt mehr im Akku. Die Energie für die 125 Meilen zurück nach L.A. ist in 11,30 Minuten geladen. Bei 0,43 Dollar pro kWh hat der wüste Trip rund 40 Dollar gekostet.
ZURÜCK NACH LOS ANGELES
Endlich mal ordentlich Gas geben auf dem Highway. Andere Autofahrer setzen sich neben uns. Daumen nach oben oder ungläubiges Starren. Ein Porsche zieht vorbei, ich stelle auf Sprint-Mode und zeige ihm seine Grenzen auf. Die Quittung folgt sofort: Der Verbrauch liegt jetzt bei 29,8 kWh.
Aber, ach, irgendwas ist ja immer. Zurück in Beverly Hills erinnere ich mich wieder an die kleinen Schwächen: die nervige Türbedienung mit dem Funkschlüssel; dass der rechte Scheibenwischer plötzlich nicht funktionierte; das schlechte kabellose Laden des Handys; dass beide Bildschirme kurz vor Los Angeles plötzlich schwarz wurden.
Vielleicht war es am Ende doch ein bisschen zu heiß. Doch trotz allem: Diese wüste Fahrt vergesse ich mein Leben nicht mehr.