Zurückhaltung ist nicht die Sache des Lucid Air. Bei den Ladestopps an der Autobahnraststätte Spessart oder an einem namenlosen Einkaufszentrum in Oberfranken ist die Hölle los, als das große Elektroauto am Hypercharger Energie zieht. Die einen kommen verschämt herüber, zücken aus der Hosentasche die Handykamera, andere fragen direkt: ist das der Lucid? Ja, das ist er. Und, wie wir hinzufügen können: Er hat es in sich.
Es ist eine etwas andere Luxuslimousine – natürlich elektrisch angetrieben und einem Auftritt, der den eines BMW i7 oder Mercedes EQS lässig in den Schatten stellt. In den USA ist der Lucid Air schon knapp zwei Jahre auf dem Markt. Jetzt kommt er nach Europa – mit verhaltenenen Erwartungen der Lucid-Verantwortlichen. Aber Europa ist immer noch ein besonderer Markt. Denn erst im Wettmessen mit Audi, BMW, Mercedes und auch einem Porsche Taycan zeigt sich die Zugkraft einer Automarke, erst recht eines Newcomers wie Lucid. Und auf deutschen Autobahnen und Landstraßen erweist sich immer noch, was ein neues Auto wirklich taugt. Egal, ob es elektrisch fährt oder nicht.
Und wie schlägt er sich da so?
Der erste Eindruck ist: Der Lucid Air Touring ist kleiner als sein Exterieur-Design das Auto erscheinen lässt. Mit einer Länge von 4,97 Metern spielt der Amerikaner eigentlich gegen den VW ID.7, BMW i5 oder einen Mercedes EQE. Der Eindruck wandelt sich jedoch, als wir auf dem Fahrersitz Platz nehmen: Innen ist der Air eine echte Schau, mit viel Platz vorne wie hinten, sehr bequemen Ledersitzen – aber auch dem ein oder anderen Makel.
Viel Positives – und ein paar Makel
Das gilt zum Beispiel für die Kopffreiheit, denn die ist durch das dicke Akkupaket im Boden und die betont niedrige Dachlinie nicht gerade üppig. Deshalb verzichtet der elektrische Viertürer auch auf ein Sonnenschutzrollo, das ihm gut gestanden hätte. Denn die sich weit über die Frontsitze ziehende Frontscheibe sorgt bei den Insassen zwar für einen Wow-Effekt, nervt aber bei tiefstehender Sonne. Da kommen auch die Sonnenblenden schnell an ihre Grenzen.
Der Fahrer blickt auf eher nüchterne digitale Instrumente hinter einer gigantischen Glasscheibe – und vermisst sogleich ein in dieser Klasse an sich obligatorisches Head-Up-Display. Dafür genießt er den mächtigen Zentralbildschirm, der sich auf Knopfdruck in den Instrumententräger schiebt und eine größere Ablage freigibt. Hier gilt wie schon außen: Der Lucid macht einiges anders als die etablierte Konkurrenz und er macht es für einen Newcomer überwiegend gut.
Designikone mit 462 kW Leistung
Viel Platz gibt es dank des 2,96 Meter langen Radstandes nicht nur für die Insassen vorne wie hinten, sondern auch für das Gepäck. Mit 627 Liter Volumen gibt es viel Platz im Heck-Kofferraum, der durch die tiefe Konstruktion jedoch nicht leicht zu beladen sind. Dazu gibt es vorne einen Frunk, der mit 283 Liter mehr als stattlich dimensioniert ist und viel mehr als nur das Ladegeschirr aufnimmt. Und wenn diese 910 Liter noch immer nicht ausreichen sollten, dass lässt sich die Rückbank nochmals nach vorne umklappen. Dann erhöht sich das Gesamtladevolumen auf gigantische 1.834 Liter – das bieten in dieser Liga noch nicht einmal Kombis und SUV.
Dabei will der Lucid Air Touring kein Raumwunder sein, sondern eine automobile Designikone. Die unter anderem mit einem kraftvollen Elektroantrieb beeindrucken will. Auf Wunsch gibt es den Air mit mehr als 800 kW oder 1.100 PS, doch die größte Marktrelevanz dürfte gerade in Europa die Touring-Version haben. Deren Elektromotoren an Vorder- und Hinterachse leisten gemeinsam 462 kW (629 PS) bei einem mehr als stattlichen Drehmoment von 1.200 Newtonmeter.
Bis zu 725 Kilometer mit einer Akkuladung
Und wie fährt er sich so? Trotz der knapp 2,4 Tonnen Leergewicht reicht die Antriebsleistung allemal, um dynamisch bis sportlich unterwegs zu sein. Aus dem Stand beschleunigt der Allradler in 3,6 Sekunden auf Tempo 100 – und regelt auf der Autobahn recht früh bei 225 km/h wieder ab. Schneller rennen dürfen die stärkeren Versionen, die bis zu 270 km/h schnell sein dürfen. Das 92 kWh große Akkupaket reicht im WLTP-Zyklus für bis zu 725 Kilometer Reichweite. Im flotten Realbetrieb sind nach unseren Messwerten von der Testfahrt 500 bis 550 Kilometer aber realistischer. Da die Ladegeschwindigkeit bei 250 kW liegt, dauern die Ladestopps am Hypercharger jedoch kürzer als bei vielen Wettbewerbern wie dem Mercedes EQE (maximal 170 kW). Schade für die Fotofans, die zumeist einen Tesla fahren.
Dabei fährt sich der mindestens 129.000 Euro teure Lucid Air Touring nicht nur wegen seines spektakulären Aussehens wie ein Raumschiff aus einer fernen Zukunft. Der Schub ist aus jedem Tempobereich gewaltig und die beiden Elektromotoren sorgen dafür, dass die Kraft beeindruckend lässig auf den Boden gebracht wird, während die Digitalziffern auf dem gestochen scharfen Infodisplay hinter dem Lenkrad nur so durchrauschen.
Amerikanischer Fahrkomfort
Unabhängig vom angewählten Fahrprogramm bietet die Lenkung leider recht wenig Rückmeldung von der Fahrbahn. Das gilt auch für das Fahrwerk, das sehr amerikanisch, also komfortabel abgestimmt ist. Hier machen sich die serienmäßigen 19-Zöller im Format 245 / 45 R 19 bemerkbar, denn mit den optionalen 20- oder 21-Zöllern wird es spürbar strammer. In schnell gefahrenen Kurven und speziell auf Landstraßen würde man sich einen aktiven Wankausgleich wünschen, der die Neigung minimiert.
Keine Frage: der Lucid Air ist eine Bereicherung für die elektrische Premiumliga auch in Europa. Denn er ist so viel anders, um eine echte Alternative zu den aktuellen Angeboten der deutschen Premiumliga zu sein. Die Verkaufszahlen hierzulande dürften sich trotzdem in Grenzen halten. Denn noch fehlt Lucid die Strahlkraft einer bekannten Marken. Zudem steht das Marktsegment in Deutschland mächtig unter Druck. Anders könnte sich dagegen mit dem SUV-Bruder Lucid Gravity aussehen, der Ende 2024 seine Premiere feiern dürfe. Schaun mer mal.