Mit den Elektroautos ist es wie mit dem Goldrausch im Westen der USA. Jeder wittert das große Geld und nach wie vor schießen die E-Auto-Start-ups wie Pilze aus dem Boden. Tesla liefert das Rezept: Man konzentriere sich auf die wichtigen Elemente des Autos, kaufe den Rest zu, stampfe eine Fabrik aus dem Boden und sorge für eine ausreichende Ladestruktur. Das kann im Grunde jedes finanzstarke Startup stemmen. Teilelieferanten gibt es wie Sand am Meer. Und die Expertise, um eine kraftvolle, ebenso effiziente wie umweltverträgliche Verbrennungskraftmaschine bauen zu können, braucht es auch nicht mehr. Damit fällt ein Technologievorteil etablierter Autobauer schon mal weg.

„Automobil der Türkei“

Genau diese Strategie verfolgt das 2018 gegründete türkische Startup Togg. Die Abkürzung steht für „Türkiye’nin Otomobili Girişim Grubu“ – zu deutsch: „Initiativgruppe Automobil der Türkei“. Für Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan war die Gründung ein Prestigeprojekt. Und mit Gürcan Karakas hat man einen CEO gefunden, der das Autogeschäft aus dem Effeff kennt. „Wir wollen mehr sein als ein Autohersteller“, sagt der Mann mit dem leicht schwäbischen Akzent. Kein Wunder: Karakas war mehr als 20 Jahre bei Bosch beschäftigt und war dort unter anderem für das Asiengeschäft verantwortlich. Dieses Stahlbad hilft dem Mann mit den freundlichen Augen jetzt, denn er hat seine Schlüsse aus dieser Zeit gezogen.

Stilvoller Auftritt 
Der Togg TX10 wurde bei Pininfarina in Italien gezeichnet. Die Proportionen stimmen, die Linienienführung ist sportlich.
Stilvoller Auftritt
Der Togg TX10 wurde bei Pininfarina in Italien gezeichnet. Die Proportionen stimmen, die Linienienführung ist sportlich.

Das merkt man sofort, sobald man sich im Togg TX10 hinter das Lenkrad schwingt. Denn man blickt auf einen XXL-Bildschirm, bestehend aus einem 12,3-Zoll-Instrumentendisplay, einem 29-Zoll-Monitor, der sich quasi von A-Säule zu A-Säule zieht. Coast-to-Coast nannte das Byton – der türkische Autobauer setzt die Vision nun um. Allerdings beeinträchtigt die Togg-Variante nicht das Sichtfeld, wie das bei den Fahrzeugen des chinesischen Start-ups der Fall war.

„Smart Device“ auf Rädern

Togg verlässt sich auch nicht auf Apple oder Google, sondern hat sein eigenes Betriebssystem entwickelt, zu dem wie bei einem Smartphone ein App-Store gehört. Die Apps werden per Drag-and-drop auf den Startbildschirm gezogen und das Telefon in einer Ladeschale drahtlos mit Strom gefüllt. Die Bedienung funktioniert ohne große Probleme, allerdings sind die Menüs etwas verschachtelt. Wir freuen uns über einen Drehdrücksteller wie man ihn von BMW kennt, der allerdings nicht die haptische Wertigkeit des Münchner Originals erreicht. Ein weiterer Monitor oberhalb der Mittelkonsole dient zur Einstellung der Klimaanlage und zur Konfiguration der darüber liegenden Bildschirme.  So kann sich der Beifahrer sich sein eigenes Unterhaltungsprogramm zusammenstellen.

"Coast to Coast" 
Über die gesamte Breite des Cockpits zieht sich ein Panorama-Display, über das nicht nur sämtliche Fahrinformationen abgerufen, sondern auch Geschäfte getätigt werden können: Der Togg will mehr als nur ein Transportmittel sein.
„Coast to Coast“
Über die gesamte Breite des Cockpits zieht sich ein Panorama-Display, über das nicht nur sämtliche Fahrinformationen abgerufen, sondern auch Geschäfte getätigt werden können: Der Togg will mehr als nur ein Transportmittel sein.

Togg bezeichnet das Elektroauto als einen „Mobile Smart Device“ – eine Art Smartphone auf Rädern. Dafür hat der türkische Autobauer Big Player aus fast allen Wirtschaftszweigen des Landes ins Boot geholt, darunter die Fluggesellschaft Turkish Airlines. Hier kann man in einem System Radio hören, Geschäfte abwickeln, Flugtickets erwerben und beim Online-Versandhändler ordern, bei Migros, der größten Supermarktkette der Türkei, einkaufen. Ja, man könnte sogar aus dem Auto heraus seine Steuererklärung abgeben – sofern das Finanzamt denn schon auf dem gleichen Stand der Digitalisierung ist.

Ökosystem mit eigener Währung

„Wir haben ein eigenes Ökosystem entwickelt“, erklärt Gürcan Karakas. Deswegen gibt es mit Toggen (ähnelt lautmalerisch dem englischen Wort „Token“) auch eine eigene Währung. Wie bei einer Fluggesellschaft sammelt man für Transaktionen und Aktivitäten Meilen oder andere Punkte, die man in  Toggen umwandeln kann, um damit zum Beispiel an der Ladesäule Strom zu tanken. Aber auch für Unterhaltung ist gesorgt: Das AI-Radio erstellt mithilfe Künstlicher Intelligenz anhand der präferierten Musikrichtung Playlists. Die Bildschirme werden auch genutzt, um digitale Kunstwerke zu erschaffen.

Alles zur Hand 
Ein Drehdrücksteller in der mittelkonsole steuert ähnlich wie bei BMW das Multimediasystem und andere Funktionen. Die Fahrtrichtung wird über einen kleinen Drehknopf neben dem Handaufleger bestimmt. Foto: Togg
Alles zur Hand
Ein Drehdrücksteller in der mittelkonsole steuert ähnlich wie bei BMW das Multimediasystem und andere Funktionen. Die Fahrtrichtung wird über einen kleinen Drehknopf neben dem Handaufleger bestimmt. Fotos: Togg

Mit einer solchen riesengroßen Inszenierung hat Togg schon bei der Technikmesse CES für Aufsehen gesorgt. Jetzt zieren die Bits-and-Bytes-Grafiken die Außenwände der Fabrik in Gemlik. Die Freischaltung mancher Funktion erfolgt per Gesichtserkennung im Auto. Die Kamera wird auch genutzt, um Selfies zu schießen. „Wir nehmen die Digitalisierung ernst“, sagt der Togg-Chef. Das alles klingt nicht nach Tesla, sondern eher nach Apple.

Stromspeicher mit 88,5 kWh Kapazität

Bei allem Software-Können muss ein 4,60 Meter langes Elektroauto wie der Togg TX10 aber auch noch seine Fahrgäste von A nach B bringen. Und das möglichst komfortabel. Genauso wie man mit einem Smartphone hauptsächlich telefoniert und nicht nur Fotos schießt. Diese Kernaufgabe erledigt das türkische SUV durchaus ordentlich. Auch wenn die Lenksäule etwas zu kurz ist und die Vordersitze mehr Seitenhalt bieten könnten. Wir sitzen im Topmodell T10X AWD Long Range mit 320 kW (435 PS) Antriebsleistung und einem maximalen Drehmoment von 700 Newtonmetern. Das Auto verfügt über Allradantrieb und eine Batterie mit einer Speicherkapazität von 88,5 Kilowattstunden, die nach dem WLTP-Zyklus für maximal 468 Kilometer reichen soll. Die Motoren kommen – natürlich – von Bosch.

Freie Bahn 
Mit einer Antriebsleistung von 320 kW ist der allradgetriebene Togg 10x mehr als ausreichend motorisiert. Den Standardsprint von 0 auf 100 schafft der Elektro-SUV  in 4,8 Sekunden. Was will man mehr?
Freie Bahn
Mit einer Antriebsleistung von 320 kW ist der allradgetriebene Togg 10x mehr als ausreichend motorisiert. Den Standardsprint von 0 auf 100 schafft der Elektro-SUV in 4,8 Sekunden. Was will man mehr?

Auch ohne Hinterachslenkung soll der 4,60 Meter lange Togg 10X einen Wendekreis von nur 9,50 Metern haben. Entsprechend agil lässt sich das 2.165 Kilogramm schwere Gefährt bewegen. Dank der Elektro-Power geht es im TX10 auf Wunsch auch dynamisch voran. Den Standardsprint von null auf 100 km/h absolviert der Stromer in 4,8 Sekunden. Bei 185 km/h ist allerdings Schluss. Den Durchschnittsverbrauch gibt Togg mit 19,7 kWh/100 an.

Stromladen mit maximal 180 kW

Die drei Fahrmodi Eco, Comfort und Sport wählt man mit dem linken der beiden Knöpfe, die sich vorne in der ansteigenden Mittelkonsole befinden. Das ist zunächst etwas fummelig, nach einer gewissen Zeit gewöhnt man sich aber daran. Der rechte Knopf dient der Einstellung der Stärke der Rekuperation in drei Stufen plus Segeln. Entscheidet man sich für die stärkste Einstellung, kann man das E-SUV allein mit dem rechten Fuß bewegen.

Das Fahrwerk ist komfortabel abgestimmt. Wir waren auch mit der heckgetriebenen Einstiegsversion unterwegs, die maximal 160 kW oder 218 PS mit einem maximalen Drehmoment von 350 Nm mobilisiert. Für den Standardsprint braucht die 7,8 Sekunden – was will man mehr? Mit der großen Batterie sind dann Fahrten von 523 Kilometern ohne Ladepause möglich. In Kombination mit dem kleinen, 52,4 kWh großen Akku sind es noch 314 Kilometer.

Rechtsverkehr 
Der Ladeanschluss verbirgt sich beim Togg 10x wie beim Renault Megane E-Tech unter einer Klappe vorne rechts. Wechselstrom wird hier mit bis zu 22 kW, Gleichstrom mit 180 kW aufgenommen.
Rechtsverkehr
Der Ladeanschluss verbirgt sich beim Togg 10x wie beim Renault Megane E-Tech unter einer Klappe vorne rechts. Wechselstrom wird hier mit bis zu 22 kW, Gleichstrom mit 180 kW aufgenommen.

Auch beim Stromtanken kann Togg mit Wettbewerbern wie dem Skoda Enyaq oder den VW ID.4 locker mithalten. Im Gegenteil: 22 kW an einer mit Wechselstrom (AC) betriebenen Ladesäule schaffen nicht alle Konkurrenten. An einem 11-kW-Ladepunkt ist der große Akku in sechs Stunden und 15 Minuten wieder zu 80 Prozent gefüllt. An einer mit Gleichstrom (DC) betriebenen Ladesäule beträgt die maximale Ladeleistung 180 kW – spätestens nach einer halben Stunde ist der Akku hier wieder gefüllt. Damit so kurze Ladepausen auch in der Türkei möglich werden, sollen landesweit 1.000-Schnellladesäulen entlang der Hauptverkehrsadern platziert werden. Was Tesla kann, können wir schon lange, hat man sich am Bosporus gesagt.

Preise ab 45.000 Euro aufwärts

Ende des Jahres soll der 10X nach Deutschland kommen. Ob sich das digitale Erlebnis hier eins-zu-eins replizieren lässt, wird sich dann zeigen. Gut möglich, dass sich Amazon und Co. auf diese Plattform einlassen. Maximal 2.000 bis 3.000 Autos sind zunächst für den deutschen Markt geplant. 2026 sollen es dann deutlich mehr werden: Bei 1,5 Millionen Bürgern mit türkischem Pass wird der rollende Nationalstolz sicherlich auch zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen gefragt sein.

Mehr als ein Sport Utility 
Der SUV dürfte nicht nur im Mutterland von Togg gut ankommen. Auch weil er mehr bietet als einen Allradantrieb.
Mehr als ein Sport Utility
Der SUV dürfte nicht nur im Mutterland von Togg gut ankommen. Auch weil er mehr bietet als einen Allradantrieb.

Die Preise für Deutschland stehen noch nicht fest. In der Türkei geht es aktuell bei umgerechnet 45.451 Euro los, für die Topversion werden nach der jüngsten Preisanpassung knapp 58.000 Euro aufgerufen. Der Vertrieb soll wie in der Türkei direkt erfolgen. Hierzulande sind in großen Städten wie München, Berlin und Hamburg sogenannte Experience Center geplant.

„Man muss den Stier bei den Hörnern packen“, findet Karakas, der bereits die nächsten Schritte plant. In den kommenden fünf Jahren will er weitere Modelle auf den Markt bringen: eine Limousine (10F), ein kleineres SUV (T8X) sowie einen Van – als Familienauto sowie als leichtes Nutzfahrzeug. Bis 2032 sollen eine Million Elektroautos der Marke Togg auf die Straßen rollen: Der Mann hat sich für die kommenden Jahre viel vorgenommen.

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