ABBA ist natürlich an Bord. Ihr Hit „Waterloo“ von 1974 ist in der Playlist abgespeichert, um unterwegs die Qualitäten der neuen, 1610 Watt starken High-End-Soundanlage von Bowers & Wilkins erleben zu können. Agnetha und Anni-Frid, Benny und Björn sind tatsächlich so glasklar zu hören, als stünde man zusammen mit ihnen im Tonstudio. Dabei bewegen wir uns mit 50 Meilen pro Stunde über den Ortega Highway in Kalifornien raus zum Lake Elsinore im Riverside County. Die Straße ist kurvenreich und wellig, zudem weht eine kräftige Brise über die pittoreske Felsenlandschaft.
Doch im neuen Volvo EX90 ist davon kaum etwas zu spüren und zu hören. Was zum einen am Elektroantrieb liegt, der den knapp 2,8 Tonnen schweren SUV über die Passstraße treibt, andererseits an dem Aufwand, den die Volvo-Ingenieure betrieben haben, um ihr 5,04 Meter langes Flaggschiff zu einer hochkomfortablen Sänfte für Langstreckentouren zu machen. Unter anderem mit einer Akustikverglasung rundum und einer Zweikammer-Luftfederung, mit kuscheligen Einzelsitzen sowie zwei Dutzend Assistenzsystemen für den Fahrer – Sicherheit wird bei den Schweden auch nach der Übernahme durch den chinesischen Geely-Konzern weiterhin ganz groß geschrieben.
Acht Kameras, fünf Radareinheiten, zwölf Ultraschall- und ein Lidar-Sensor sorgen dafür, dass das Fahrzeug die Spur und einen sicheren Abstand zu anderen Verkehrsteilnehmern hält, wenn der Fahrer gerade ein wenig abgelenkt sein sollte. Etwa durch die Suche nach Songs in der Playlist, die besser zu Landschaft und Laune passen. Wir bleiben schließlich bei „Run Free“ von Hans Zimmer hängen, einem elegischen Song auf einen wilden Mustang, der sich partout nicht bändigen lassen will.
570 Kilometer ohne Ladepause
Unser „Reitpferd“ an diesem Tag ist allerdings eher das komplette Gegenteil des vierbeinigen Filmhelden „Spirit“. Brav und ohne jeden Verzug reagiert unsere brave, graulackierte und siebensitzige Familienkutsche auf jeden Brems- und Lenkbefehl. Und wenn es mal sein muss und wo es sein darf – auch mit einem kräftigen Wumms: Unsere allradgetriebene Performance-Version mobilisiert immerhin eine Spitzenleistung von 380 kW oder 517 PS und ist damit bis zu 180 km/h schnell. Zu Zeiten des Goldrausches in Kalifornien hätten wir damit jeden Planwagen weit hinter uns gelassen. Heute haben auch benzingetriebene Pickups kaum eine Chance gegen uns. Dazu müssen wir nicht einmal in den Sport-Modus schalten.
Verglichen mit den meisten anderen US-Staaten ist Kalifornien ein Eldorado für Elektroautos: Ladestationen sind zumindest in den großen Städten an jeder dritten Kreuzung zu finden. Aber auch draußen auf dem Land dürfte keine Reichweitenangst mehr aufkommen. Schon gar nicht im Volvo EX 90: Der riesige, 111 kWh fassende Lithium-Ionen-Akku der Peformance-Version (die heckgetriebene Basisversion „Core“ muss mit 104 kWh auskommen) ist für 570 Kilometer gut, wenn man es gemächlich angehen lässt. Wer allerdings auf wilden Mustang macht, muss sich wohl schon nach 450 Kilometern nach einer Strom-„Tränke“ umsehen.
Laden mit bis zu 250 kW
Der Volvo EX90 ist das erste Elektroauto der Marke, das die nagelneue Technik- und Fahrzeugarchitektur SPA2 des Geely-Konzerns nutzt. Auch der neue Polestar 3 und der Lotus Eletre fahren darauf ab. Etwas verwunderlich ist es da, dass das Hochvoltsystem der neuen Fahrzeuggeneration nur über eine Bordspannung von 400 Volt verfügt. Ladeleistungen von über 300 kW wie beim Porsche Taycan des Modelljahrs 2025 sind damit ausgeschlossen.
Immerhin lädt der Großraumwagen von Volvo Gleichstrom mit bis zu 250 kW und damit deutlich schneller als ein Mercedes EQS SUV (200 kW) oder ein Cadillac Lyriq (190 kW). Zumal, wie uns Programm-Manager Marten Wahlstedt versichert, das Fahrzeug die hohe Ladeleistung recht lange hält: Spätestens nach einer halben Stunde soll ein bis auf 10 Prozent entleerter Akku wieder zu 80 Prozent gefüllt sein. Um das auszutesten, reichte unsere Strecken leider nicht aus. Das werden wir bei anderer Gelegenheit nachholen.
Ansonsten aber ist der EX90 auf der Höhe der Zeit. Statt über eine Vielzahl von kleinen Einzelrechnern steuern zwei Hochleistungsrechner mit Computerchips von NVIDIA sämtliche Prozesse an Bord. Und das mit geradezu atemberaubenden Geschwindigkeiten. Für Feinschmecker: In der Sekunde können so bis zu 250 Billionen (Teraflops) Operationen gleichzeitig gesteuert werden – der Begriff „Software defined Vehicle“ ist da keine Worthülse mehr.
Software-Updates brauchen noch Zeit
Die Hardware steht – an der Software hapert es beim Volvo hingegen noch ein wenig. So wird der Lidar-Sensor, der mittig auf dem Dach wie eine Warze sitzt und den vor dem Fahrzeug liegenden Straßenraum „ausleuchtet“, erst in der zweiten Jahreshälfte und nach einem Software-Update „over the Air“ seine volle Wirkung entfalten können. Derzeit reichen die Funktionalitäten nur für ein teilautomatisiertes Fahren auf Level 2 – nach dem Update sollte Level 3 leicht zu erreichen sein.
Aus dem gleichen Grund ist auch die Fähigkeit zum bidirektionalen Laden zwar hardwareseitig schon angelegt, aber noch nicht funktionabel. Erst nach einem weiteren Software-Update in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres wird man den im Akku gespeicherten Strom zumindest teilweise ins Hausnetz einspeisen können, um dort etwa eine Waschmaschine zu betreiben. Zum gleichen Zeitpunkt soll auch Apple Car Play schnurlos ins Bordsystem eingebunden werden können. Und das famose Soundsystem von Bowes & Wilkens um eine weitere Funktionalität von Abbey Road Studios ergänzt werden.
Aber jetzt gilt es erst einmal, das Auto auf die Straße zu bringen. Die Produktion im Volvo-Werk in Ridgeville, South Carolina, ist im Juni endlich angelaufen – ein Jahr später als ursprünglich geplant. Und die Auftragsbücher füllen sich angeblich schnell, wie Thomas McIntyre Schultz von Volvo Cars USA mit einem gewissen Stolz berichtet: Der nordamerikanische Markt ist für den siebensitzigen „Three Row-SUV“ der wichtigste weltweit. Über Stückzahlen mag er zwar noch nicht reden, aber im vergangenen Jahr war mal eine Jahresproduktion von 60.000 Einheiten genannt worden.
Vorstoß auch in neue Preisregionen
Das wird eine zum Jahreswechsel Herausforderung für den Vertrieb, vor allem, aber nicht nur für den in Europa: Mit einem Basispreis von 83.700 Euro für die heckgetriebene Version für Europa mit fünf Sitzen und von wenigstens 91.700 Euro für einen Allradler mit sechs oder sieben Sitzen stößt Volvo in ganz neue Preisregionen vor. Für unseren (vollausgestatteter) Testwagen mit sieben Sitzen in Performance-Ausführung wären sogar über 120.000 Euro zu entrichten – das ist schon das Preisniveau eines Mercedes EQS SUV oder (fast) eines BMW iX in M-Ausführung. Oder des neuen Cadillac Escalade iQ, der in USA schon als „Goldstandard“ für Elektro-SUVs mit drei Sitzreihen gilt. Ganz zu schweigen vom Tesla Model X – den gibt es in den USA schon für 66.000 Dollar. Das wird ein harter Wettbewerb um die „Soccer-Moms“, die in Kalifornien gerade auf solche Elektro-SUV im XXL-Format abfahren.
Volvo will den XC90 (links) noch eine Weile als Teilzeitstromer anbieten und wird dem in die Jahre gekommenen SUV deshalb demnächst ein umfassendes Facelift verpassen, damit der optische Unterschied zum neuen EX90 nicht zu groß wird.
Vielleicht ist das auch mit ein Grund, warum Volvo entgegen der ursprünglichen Planung das deutlich günstigere Vorgängermodell XC90 (ab 77.400 Euro in Deutschland) „noch eine Weile“ anbietet, als Mild- und Plug-in Hybrid. In Kürze gibt es für das nach dem XC60 zweitbeste verkaufte Modell sogar noch ein umfassendes Facelift außen wie innen, um optisch den Abstand zum EX90 nicht allzu groß werden zu lassen und die Verkäufe des aktuellen Ertragsbringers stabil zu halten.
Ein Waterloo wollen Volvo und die Geely Group offensichtlich nicht riskieren.