Carlo van de Weijer leitet an der Technischen Universität von Eindhoven das neugegründete „Eindhoven Artificial Intelligence Systems Institute (EAISI), das sich unter anderem mit dem Autonomen Fahren und den Möglichkeiten beschäftigt, den Verkehr und unseren Alltag mithilfe Künstlicher Intelligenz zu optimieren. Der Maschinenbauingenieur war früher unter anderem für Siemens und TomTom tätig. Heute berät der 55-Jährige Ministerien und Industrieunternehmen auf der ganzen Welt in Fragen zur Zukunft der Mobilität – und meldet sich in Kolumnen wie dieser regelmäßig zu solchen Themen zu Wort. Zusammen mit seinem Kollegen, Professor Maarten Steinbuch von der TU Eindhoven hat er zudem ein Buch über die Zukunft der Mobilität verfasst.
Vor vielen tausend Jahren schon kamen wir auf die Idee, Pferde zu nutzen, um unsere Kraft und Geschwindigkeit zu erhöhen. Die zusätzlichen Pferdestärken boten einen enormen Vorteil nicht nur bei der Jagd und der Kriegsführung, sondern auch bei der Bodenbearbeitung und beim Reisen.
Erst im frühen 20. Jahrhundert übernahm das Automobil die Rolle des Pferdes als wichtigstes Transportmittel. Und das geschah sehr schnell, denn ein Auto war nicht nur billiger im Gebrauch, sondern produzierte auch deutlich weniger Abfall: Ein Pferd hinterlässt pro Tag bis zu 50 Kilo Mist. Allein in New York gab es am Ende des 19. Jahrhunderts noch rund 100.000 Pferde – rechnen Sie mal nach, was da so im Laufe von nur einer Woche zusammenkam.
Das Automobil war so gesehen in seiner Frühzeit in den Städten eine Art Umweltretter. Kein Wunder, dass sich das Straßenbild damals in wenigen Jahren radikal wandelte, die Pferdekutsche schnell vom Auto verdrängt wurde. Ja, so rasant kann sich ein Wandel in der Mobilität vollziehen.
Mein Großvater erzählte mir einmal, wie er vor etwa hundert Jahren als junger Bauernsohn jeden Morgen sehr früh aufstehen musste, um mit einem Pferdewagen mehrere Kilometer weit hinaus zur Weide zu fahren, um die Kühe des Hofs zu versorgen. Irgendwann bemerkte er, dass er unterwegs ruhig die Zügel loslassen konnte. Denn das Pferd hatte gelernt, wohin es frühmorgens ging und benötigte keine Steuerung mehr. Also konnte sich mein Großvater nach dem Start auf der Ladefläche des Wagens ins Heu legen und bis zum Eintreffen auf der Weide noch eine halbe Stunde schlafen. Aus heutiger Sicht erlebte er damals also eine frühe Form des hochautomatisierten Fahrens auf Level 4.
Lehren aus der „Pferdemetapher“
In der Forschung über autonom fahrende Autos wird dieses Phänomen als „Pferdemetapher“ bezeichnet – vor etwa fünfundzwanzig Jahren definiert durch Professor Frank Flemisch, der am Institut für Arbeitswissenschaft (IAW) der RWTH Aachen das Forschungsgebiet Systemergonomie leitet. Ein Pferd kann demnach, auch wenn der Reiter nicht aufpasst, mitdenken und sich selbständig sicher auch über eine belebte Straße bewegen, ja sogar selbständig eine Route wählen. Und wenn es nötig ist, hält es selbständig an oder gibt dem Reiter oder Kutscher ein Signal. Der muss dann entscheiden, was zu tun ist und wie es weitergeht. Aber ein Pferd wird im „Autopilot“-Modus niemals gegen einen Baum oder in einen Abgrund rennen, auch wenn es der Reiter versuchen sollte.
Das hat aber noch nie zu einer Pferdekutsche ohne Kutscher oder gar einem autonomen Droschenverkehr geführt. Denn das ist gesetzlich verboten. In der Wiener Straßenverkehrskonvention von 1968, die das internationale Straßenverkehrsrecht regelt, heißt es in Artikel 8: „Jedes Fahrzeug muss, wenn es in Bewegung ist, einen Führer haben“ Und: „Jeder Führer muss dauernd sein Fahrzeug beherrschen oder seine Tiere führen können.“
Das Auto müsste erst mal schlauer werden
Wenn also ein Pferd ausbricht und in einen Porzellanladen galoppiert, kann der Reiter nicht den Pferdehof oder andere für den angerichteten Schaden verantwortlich machen. Genauso wenig kann ein Autofahrer in den kommenden Jahrzehnten nach heutigem Stand der Gesetzgebung die Verantwortung komplett auf das Auto abwälzen, wenn dieses im autonomen Fahrbetrieb einen Unfall verursachen sollte. Aber der Auto-Pilot müsste auch erst einmal viel schlauer werden als ein Pferd. Und davon ist es nach meinen Feststellungen noch weiter entfernt, als manche glauben machen möchten.
Übrigens glaube ich, dass das Pferd selbst mit der Entwicklung im zurückliegenden Jahrhunderts ganz zufrieden ist. Denn das Leben als Hobby- oder Sportpferd scheint viel angenehmer zu sein als das eines Zug- oder Arbeitstieres. Nun könnte das Pferd eigentlich seinem Nachfolger – dem Auto – vielleicht auch beibringen, wie man in enger Zusammenarbeit mit dem Menschen vernünftig und sicher in die Zukunft fährt.