Das vollautonome Fahren ist ohne Zweifel das nächste große Ding. Auch wenn die technologische Goldgräberstimmung, die noch vor einigen Jahren bei dem Thema herrschte, inzwischen einer realistischen Einschätzung gewichen ist. Mercedes hat unlängst den Drive Pilot 95 freigeschaltet, der auf baulich getrennten Fahrbahnen bis Tempo 95 km/h das Steuer übernimmt. Ende des Jahrzehnts soll das hochautomatisierte Fahren sogar bis zu einer Geschwindigkeit von 130 km/h auf Level 3 möglich sein – der Fahrer muss das System dann nicht mehr permanent überwachen, sondern darf anderen Tätigkeiten nachgehen. Allerdings braucht man dazu aktuell noch ein Führungsfahrzeug, an das sich der Pkw „anhängen“ kann.

Alles wunderbar und aller Ehren wert. Doch der Blick beim autonomen Fahren richtet sich mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid nach USA und China. Waymo bietet in San Francisco bereits Fahrten mit Robo-Taxen an – die GM-Tochter Cruise hat allerdings kürzlich die Segel gestrichen und seinen Dienst schon wieder eingestellt.

Und wie schaut es im Reich der Mitte tatsächlich aus? Wir haben uns hinter das Steuer eines Nio EL8 gesetzt und getestet, wie sich der Nio-Autopilot NOP+ (Navigation on Pilot) im Alltag der Millionenmetropole Shanghai schlägt. Es gibt sicher einfachere Szenarien, aber wir wollen dem System richtig auf den Zahn fühlen.

Armada aus 33 Sensoren schützt den Fahrer

Klar ist: Mit ein paar Ultraschallsensoren und ein, zwei Kameras ist es beim autonomen Fahren nicht getan. Weder in China noch in Deutschland oder sonst wo. Robo-Autos sind rollende Supercomputer, die mit einer wahren Sensor-Armada bestückt sind. Bei Nios Elektro-SUV sind es insgesamt 33. Ganz entscheidend ist das hochauflösende LiDAR (Light Detection and Ranging) mit ultralanger Reichweite. Dazu kommen unter anderem elf hochauflösende Acht-Megapixel-Kameras, Fünf-Millimeterwellen-Radare und zwölf Ultraschallsensoren.

Diese Einheiten ergänzen sich zur sogenannten Sensorfusion und erfassen eine große Menge von Daten, die dann richtig interpretiert werden müssen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn das Robo-Fahrzeug einen Hund mit einer Mülltonne verwechselt. Zur Veranschaulichung: Das Nio Aquila-System schafft einen Datendurchsatz von acht Gigabyte pro Sekunde. Das entspricht dem Herunterladen von zwei 4K-Filmen in einer Sekunde. Das richtige Einschätzen der Fahrsituationen ist die große Herausforderung beim autonomen Fahren. Deshalb schaffen die Chips im Nio EL8 eine mächtige Rechenleistung von 1.016 TOPS (Tera Operations Per Second).

Fahren auf Level 2++

Soweit die Theorie. Nio selbst ordnet sein NOP+ System (Navigate On Pilot Plus) dem autonomen Fahren des Levels 2++ zu. Doch wie sich schnell herausstellt, kann der chinesische Autopilot mehr. Shanghai ist sicher nicht die einfachste Spielwiese, um sich in die Hände eines Robo-Chauffeurs zu begeben, aber es gilt „No Risk, No Fun“. Außerdem haben wir die Hände immer am Lenkrad. Wenn auch nur leicht. Ist das mal nicht der Fall, fordert uns das System nach 15 Sekunden auf, Griffkontakt herzustellen. Der Beginn der Testfahrt ist überraschend einfach: Man gibt ein Ziel in das Navigationssystem ein, definiert also den Weg und fährt los.

Sobald der Autopilot bereit ist, das Kommando zu übernehmen, erscheint ein Symbol auf dem großen Display. Per Knopfdruck geben wir nun das Ruder aus der Hand und ein blauer Strahl zeigt auf der Navigationskarte die vollzogene Übergabe an. Genaue Karten sind ein Muss für das autonome Fahren. Eine freundliche Nio-Mitarbeiterin erklärt uns, dass in den großen Städten Chinas über 90 Prozent der Straßen erfasst sind und dass sie den Robo-Steuermann jeden Tag beim Weg zur Arbeit nutzt.

Rechts überholen ist erlaubt

Wir lächeln freundlich, um uns die Skepsis nicht anmerken zu lassen. Die sollte sich bald in Wohlgefallen auflösen. Auf der Autobahn herrscht reges Treiben. Der Nio EL8 schwimmt locker mit. Auch wenn es mal mit 120 km/h vorangeht. Der Autopilot setzt den Blinker und überholt andere Fahrzeuge geschmeidig links, aber auch problemlos rechts. Was in China erlaubt ist. Spannend wird es, wenn es an das Einfädeln oder das Abbiegen geht. Diese Herausforderungen meistert der chinesische Stromer ebenfalls. Auch wenn Nio das Level 2++ auf den Autopiloten schreibt, haben wir eher das Gefühl, auf Level 3 unterwegs zu sein. Zumal der der EL8 ohne jegliches Führungsfahrzeug agiert.

Wie weit der Weg zum vollautonomen Fahren noch ist und dass auch in China noch nicht alles Gold ist, was glänzt, merkt man auf den belebten Straßen der Innenstadt. Grundsätzlich läuft alles gut. Der Robo-Chauffeur erkennt rote Ampeln, ordnet sich richtig ein und biegt auch korrekt ab. Selbst die Tatsache, dass die Bus-Spur während der Rush Hour freigehalten werden muss, befolgt der Software-Algorithmus. Ziemlich beeindruckend.

Im Stadtgewühl wird’s unharmonisch

Sobald der chinesische Verkehrs-Anarchismus die Oberhand gewinnt und zum Beispiel mitten auf der Kreuzung ein Fahrzeug sehr nahe an die linke Flanke heranfährt, reagiert das System aber unharmonisch, bremst es das Auto abrupt bis zum Stillstand ab, „überlegt“, wie es weitergeht, und kurbelt wie wild am Lenkrad. Was fehlt, ist das antizipatorische Verhalten im Zusammenhang mit dem peripheren Sehen, das erfahrene Autofahrer verinnerlicht haben.

Als sich eine Tür öffnet und ein Mann auf die Straße tritt, steigt der Autopilot voll in die Eisen und weicht aus. Allerdings mit einem möglichst kleinen Lenkeinschlag, um nicht in eine andere Fahrbahn zu geraten. Die Spalte, die das Öffnen der Pforte angekündigte, hat das System ignoriert, sonst hätte es bereits vorher leicht gebremst und versucht, die Spur zu wechseln. Puuuh, alles glatt gegangen, der Blick nach hinten passt also.

Das digitale Fahrverhalten setzt sich fort, als ein anderer Pkw unvermittelt plötzlich rüberzieht. Sicherheit geht vor, lautet die richtige Devise. Fehlen die Fahrbahnmarkierungen, verliert das NOP+-System bisweilen die Orientierung und der Mensch muss eingreifen. Man fürchtet aber nie um Leib und Leben. Das liegt auch daran, dass in Shanghai das Chaos Programm ist und die anderen Autofahrer mit solchen Manövern rechnen. Wichtig ist aber, dass die Software mit jedem Meter, die autonom zurückgelegt werden, dazulernt und so Fortschritte gemacht werden.

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