Die Ölpreiskrise machte die Niederlande in den 1970er Jahren zum Fahrrad-Paradies. Die Corona-Krise könnte fast 50 Jahre später Ähnliches in Deutschland bewirken: Reise- und Kontaktverbote sowie die Furcht vor Ansteckungen mit der Lungenseuche in den Bussen und Bahnen des Öffentlichen Nahverkehrs haben in den vergangenen Wochen dafür gesorgt, dass auch hierzulande die Menschen wieder mehr auf das Fahrrad steigen. Und weil sich abzeichnet, dass in den Sommerferien Fernreisen mit der Familie nicht möglich sein werden, investieren viele nun in neue Zweiräder.
Plötzlich entstehen überall neue Radwege
Zudem wollen immer mehr deutsche Städte so genannte Pop-up-Radwege einrichten: Mit Klebestreifen und Piktogrammen werden die Seitenstreifen von Durchgangsstraßen abgetrennt und für die Nutzung durch Radfahrer reserviert. Die innerörtliche Radwege-Benutzungspflicht wird dafür aufgehoben, die zugelassene Höchstgeschwindigkeit für Autos im Stadtverkehr von 50 auf 30 km/h gesenkt. In Nordrhein-Westfalen macht sich dafür unter anderem Köln stark.
Die Vertreter der Zweiradindustrie und des Fahrradhandels zeigten sich am Donnerstag bei einer vom Pressedienst Fahrrad (pd-f) organisierten Videokonferenz erfreut über die Entwicklung. Seit der Wiedereröffnung der Fahrradläden am vergangenen Montag (27. April) erlebe man einen regelrechten Ansturm auf die Fahrradläden. Gefragt seien vor allem hochpreisige E-Bikes, Kinder- und Lastenräder, aber auch Fahrradanhänger zum Transport von Waren und Kindern – sowie Heimtrainer.
„Die Leute wollen sich jetzt etwas gönnen, da der Urlaub auf Mallorca ausfällt“, erklärt sich Markus Boscher, Geschäftsführer des auf E-Bikes spezialisierten Handelsbetriebs „Velorado“ aus Nürnberg die stark gestiegene Nachfrage und deutlich gewachsene Ausgabenbereitschaft. Um dem Ansturm von Kaufinteressenten Herr zu werden und lange Wartelangen vor seinem Laden zu vermeiden, ist Torsten Larschow vom Fachgeschäft Rad&Tour aus Cuxhaven dazu übergegangen, für Verkaufsgespräche telefonisch Termine zu vereinbaren. Seine Mitarbeiter nähmen sich dann eine Stunde Zeit, auf die Wünsche der Kunden einzugehen und ohne jede Hektik Probefahrten zu arrangieren. Klingt eher abschreckend, aber der Service wird gut angenommen. Larschow: „Ich wüsste nicht, warum wir nach der Corona-Krise wieder ohne Terminvergabe machen sollten.“
Geplagte Eltern kaufen Kindern neue Räder
Die Rahmenbedingungen sind durch die strengen Hygienevorschriften zwar schwierig – aber wenigstens rollt der Rubel nach vierwöchiger Pause wieder. „Das wird der beste April seit Bestehen unseres Ladens“, freut sich Reiner Probst von „VeloPhil“ in Berlin. Er erwartet im Verkauf ein sattes Umsatzplus von 30 Prozent gegenüber dem „schon sehr guten Vorjahr“. Und auch in der Werkstatt brumme es – viele Berline sind inzwischen nicht mal mehr in der Lage, einen Reifen zu flicken und brauchen die Unterstützung eines Profis.
Auch bei Rad&Tour in Cuxhaven und „Velorado“ in Nürnberg zeigt der Umsatztrend klar nach oben. Larschow: „Auch die Nachfrage nach Kinderrädern hat stark angezogen.“ Verkauft würden diese oft ohne Beratung und ohne Gefeilsche: „Viele Eltern wollen jetzt einfach nur ihre Kinder beschäftigen“ – um in Ruhe im Home Office arbeiten zu können. Wer den Kindern nicht sofort ein eigenes Rad kaufen will, möchte sie zumindest mit auf die nächste Radtour nehmen. Das erklärt vielleicht, warum auch Markus Krill vom Fahrradanhänger-Hersteller Croozer aus Hürth bei Köln „vom besten April seit ewig“ schwärmt.
Alles Einzelfälle? Keineswegs. „Der Fahrradhandel kommt mit viel Einsatz sicher gut aus der Krise heraus“, sagt Dieter Knust vom Verband des Deutschen Zweiradhandels (VDZ). Der März sei für viele Betriebe schwierig gewesen, aber nun würden der Boom vieles wett machen. Selbst Wartezeiten von bis zu 2 Stunden vor dem Laden würden die Kunden hinnehmen. Ähnlich positive Signale sendeten in der Runde Alexander Kraft vom Liegerad-Hersteller HP Velotechnik aus Kriftel („Das Geschäft kesselt“) und Jörg Lange von Riese+Müller aus Darmstadt. Letzterer hat im Unterschied zu vielen anderen Zweiradherstellern aktuell keine Lieferprobleme, weil das Unternehmen vor dem Shutdown in China und Taiwan rechtzeitig größere Kontingente von wichtigen Komponenten eingelagert hatte.
Strohfeuer oder Vorbote der Verkehrswende
Und die Branche ist zuversichtlich, dass es sich nicht nur um ein Strohfeuer handelt. Der langjährige Präsident des Zweirad Groß- und Außenhandelsverbandes (ZGA), Manfred Neun, sieht gute Chancen, dass die Corona-Krise eine Neuverteilung der Anteile am Straßenverkehr beschleunigt: Weg vom Auto, aber auch von öffentlichen Personennahverkehr („Überfüllte Busse und Bahnen wird es so bald nicht mehr geben“), hin zum Fahrrad. Neun: „Das Fahrrad könnte jetzt zum wichtigsten Verkehrsmittel in der Stadt werden.“ Vor dem Hintergrund plädiert er dafür, die vieldiskutierte Kauf-Prämie zur Belebung der deutschen Wirtschaft nicht allein den Autoherstellern zugute kommen zu lassen. Wenn sie kommen sollte, sollte die Prämie auch zur Anschaffung neuer Fahrräder genutzt werden können.
Alles andere wäre in dieser Runde allerdings auch eine Überraschung gewesen.