Am morgen Samstag gehen die drei letzten deutschen Kernkraftwerke vom Netz: Isar 2 (elektrische Bruttoleistung 1482 Megawatt) , Emsland in Lingen (1406 MW) und Neckarwestheim 2 (1400 MW), die zusammen zuletzt noch rund fünf Prozent zur Stromproduktion in Deutschland beitrugen. Ende Dezember 2021 waren bereits drei andere Kernkraftwerke abgeschaltet worden, die zu den weltweit leistungsfähigsten und zuverlässigsten ihrer Art zählten: Grohnde (1430 Megawatt), Gundremmingen Block C (1288 MW) und Brokdorf (1410 MW) – alle in Deutschland.

Nahezu gleichzeitig veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Plan, neben Erdgas- auch Kernkraftwerken einen grünen Mantel zu verpassen – weil beide Systeme zur Stromerzeugung weit weniger Kohlenstoffdioxid (CO2) emittieren als Braun- und Steinkohlekraftwerke. Damit, so argumentiert Brüssel, trügen Kern- wie Erdgaskraftwerke dazu bei, das ehrgeizige Klimaziel zu erreichen: Spätestens 2050 soll Europa als erster Kontinent keine CO2-Emissionen mehr freisetzen.

Wie grün sind Kernkraftwerke wirklich?

Das Umweltbundesamt beziffert jedes Jahr die CO2-Emissionen in Deutschland, basierend auf dem aktuellen Energiemix aus allen Energieträgern, von der Kohle über die Kernkraft bis hin zu Wind und Sonne. 2020 waren es 366 Gramm pro Kilowattstunde, 42 Gramm weniger als 2019.

Und nach Berechnungen des Freiburger Öko-Instituts, das 1977 aus der Anti-Atomkraft-Bewegung hervorgegangen ist, werden, wenn sogar sämtliche Emissionen vom Bau des Kernkraftwerks über die Uranproduktion, den Betrieb und den Rückbau berücksichtigt werden, pro Kilowatt Atomstrom nur 31 Gramm Kohlendioxid freigesetzt.

Grüne Zone an der Weser
Der Druckwasser-Reaktor der Preussen Elektra in Grohnde nahe Hameln wurde 1984 in Betrieb genommen. Bis zur Abschaltung am 31. Dezember 2021 zählte das Kraftwerk an der Weser weltweit zu den stärksten mit einer durchschnittlichen Stromproduktion von 11 Milliarden Kilowattstunden im Jahr. Foto: Preussen Elektra

Etwas besser stehen lediglich Windkraftwerke mit 23 (onshore) und 22 Gramm (offshore) pro Kilowattstunde da. Heimische Solarkraftwerke hingegen setzen pro Kilowattstunde Strom 89 Gramm CO2 frei. Und selbst Wasserkraftwerke stehen mit 39 Gramm pro Kilowattstunde schlechter da als die hierzulande verpönten AKWs.

So gesehen ist die geplante Einstufung der Kernenergie als „klimafreundlich“ durchaus nachzuvollziehen, wenn da nicht das – bis heute eher theoretische – Risiko eines schweren Unfalls gäbe. Und nachhaltig wäre sie auch nur, wenn das Problem der Endlagerung der radioaktiven Brennstäbe geklärt wäre. Andererseits reduzierten die drei jetzt stillgelegten Kernkraftwerke die CO2-Emissionen in Deutschland im vergangenen Jahr auch um rund elf Millionen Tonnen – und sie produzierten den Strom kontinuierlich, trugen also wesentlich zur Versorgungssicherheit bei.

Und wie nachhaltig sind Gaskraftwerke?

Auch die geplante Bevorzugung von Erdgas zur Stromerzeugung ist bei nüchterner Betrachtung durchaus gerechtfertigt. Ein modernes Gas- und Dampfkraftwerk kommt auf einen Emissionswert von 398, Steinkohle schlägt mit 897 und Braunkohle mit 1142 zu Buche. Diese Werte reduzieren sich noch, wenn auch die Wärme genutzt, also in ein Fernwärmenetz eingespeist oder ein Industrieunternehmen versorgt wird. Dann lauten die Werte 116 (Gas), 508 (Steinkohle) und 703 (Braunkohle).

Die Bundesregierung ist jetzt auf der Suche nach einer einheitlichen Haltung gegenüber dem EU-Entwurf. Während die Grünen aus ideologischen Gründen sowohl Kernenergie als auch Erdgaskraftwerke ablehnen, befürworten SPD und FDP den Bau von neuen Erdgaskraftwerken. Kernkraft kommt derzeit für keinen der Koalitionspartner in Frage, jedenfalls nicht wenn sie auf heimischem Boden produziert wird.

Wind und Sonne statt Kernkraft
In den vergangenen Jahren sind weltweit zahlreiche Wind- und Sonnenkraftwerke in Betrieb genommen worden, während die Kapazitäten der Kernkraftwerke eher stagnierten und ihre Stromproduktion reduziert haben. Infografik: WNISR

Christian Dürr, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, sieht das – in Bezug auf Gaskraftwerke – differenzierter. „Wenn es dem Klimaschutz dient sollten wir kompromissbereit in Bezug auf die Nutzung der Kernenergie in anderen EU-Ländern sein“, meint er und erinnert daran, dass Deutschland auf „Übergangstechnologien“ angewiesen ist, so lange es keine sichere Versorgung mit lupenreinem Ökostrom gibt.

Wo in Europa neue Kernkraftwerke entstehen

Tatsächlich planen und bauen mehrere EU-Länder neue Kernkraftwerke, um ihre Klimaschutzziele einhalten und Versorgungssicherheit gewähren zu können. Die Niederlande etwa, die mit dem seit 1973 laufenden 485 Megawatt starken Druckwasser-Reaktor in Borssele lediglich eine einzige Anlage betreiben, wollen gleich zwei der mit 1600 Megawatt weltweit größten Kernkraftwerksblöcke bauen.

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Finnland hat in Olkiluoto gerade einen baugleichen und gleichgroßen Block in Betrieb genommen – der von der französischen Areva und dem Siemens-Konzern errichtet wurde. Selbst die Grünen im finnischen Parlament standen hinter dem Projekt: „Die Dringlichkeit des Klimawandels bedeutet, dass will alle Mittel nutzen müssen. Es sieht so aus, als ob wir die Atomkraft einfach brauchen, um mit der Situation fertig zu werden“, verteidigte der grüne Abgeordnete und Klimawissenschaftler Atte Harjanne den Bau.

Frankreich plante neue Mini-Reaktoren

Noch stärker verankert ist die Atomkraft in Frankreich, wo derzeit 56 Reaktoren mit 61.4 Gigawatt Leistung Strom erzeugen. In Flamanville in der Normandie ist ein weiterer Druckwasserrektor mit einer Nettoleistung von 1330 MW im Bau – und Präsident Emmanuel Macron hat angekündigt, bis 2030 weitere (kleinere) Flüssigsalz-Reaktoren mit bis zu 500 MW Leistung schaffen zu wollen, die auch den Umgang mit nuklearem Müll erleichtern sollen.

Dazu kommen Ungarn und Rumänien, die jeweils zwei Blöcke planen, ebenso wie die EU-Nachbarn Türkei sowie die Ukraine und Großbritannien – hier sind zwei 1600-Megawatt-Anlagen bereits im Bau.

Über 50 neue Reaktoren
Nach Erhebungen für den „World Nuclear Industry Report“ sind derzeit weltweit 53 Kernkraftwerke im Bau, viele davon in China. Infografik: WNISR

Polen erzeugt aktuell 74 Prozent seines Stroms mit Kohle. Um das zu ändern will das Land gleich sechs neue Kernkraftwerke bauen, um den Kohlestromanteil bis 2040 auf elf bis 28 Prozent zu senken. Die Investitionen werden mit 35 Milliarden Euro veranschlagt. Polen hofft, dass sich der Vorschlag der EU-Kommission durchsetzt, denn dann übernimmt Europa etwa ein Drittel der gesamten Investitionskosten. Ähnliche Hoffnungen gibt es in Tschechien: Am Standort Dukovany, an dem bereits vier Reaktorblöcke mit sowjetischer Technik in Betrieb sind, und das seit mehr als 30 Jahren, sollen zwei weitere Blöcke errichtet werden, diesmal mit westlicher Technik. Dukovany liegt nur etwa 32 Kilometer entfernt von der österreichischen Grenze.

Italien diskutiert über neue Kraftwerks-Technologie

Belgien will zwar spätestens 2025 seine Kernkraftwerke abschalten, die Forschung aber weiterführen, um gegebenenfalls später neue Anlagen bauen zu können. Mittelfristig besonders interessiert an EU-Geldern ist das Land, weil es zur Sicherung der Stromversorgung mehrere Erdgaskraftwerke bauen möchte – das geht schneller als die Errichtung von neuen Kernkraftwerken.

Sonne und Wind müssen es richten
Deutschland will seinen Strombedarf ab 2030 fast nur noch mit Solar- und Windkraft decken – und mit Exporten. Grafik: Platts.

In der Slowakei, die im 100 Kilometer von Österreich entfernten Mochovce zwei Blöcke mit sowjetischer Technik betreibt, sind zwei weitere Kernkraftwerke mit Unterbrechungen seit bald 30 Jahren im Bau. Pikanterweise hält der italienische Stromversorger ENEL 66 Prozent der Anteile an diesem Kernkraftwerk. In seinem Heimatland könnte der Konzern möglicherweise bald ebenfalls neue Kernkraftwerke errichten: Der parteilose Minister für den ökologischen Wandel, der Physiker Roberto Cingolani, hat in Italien gerade eine Diskussion darüber in Gang gesetzt: „Technologien der vierten Generation ohne angereichertes Uran und schweres Wasser werden gerade entwickelt“, sagte er. „Wenn die Menge radioaktiver Abfälle sehr klein, die Sicherheit hoch und die Kosten niedrig sind, wäre es töricht, sie nicht in Betracht zu ziehen.“

Atomstrom-Importe für Deutschland?

Slowenien, ein weiterer Nachbar Österreichs, betreibt in Krsko bisher einen Kernkraftwerksblock. Ein zweiter soll folgen. Eine „Energiegenehmigung“ für einen 1100-Mewagatt-Reaktor ist bereits erteilt. Der dafür zuständige Infrastrukturminister Jernej Vrtovec betont jedoch, dass damit noch keine Bauentscheidung gefallen sei. Auch in Bulgarien ist noch keine Beschluss zur Ausweitung der Atomstromproduktion gefallen. Doch das Land gehört zu den Staaten, die an einer EU-Finanzierung von neuen Kernkraftwerken interessiert sind.

Es ist also gut möglich, dass Deutschland künftig bei schwachem Wind und fehlender Sonne seine Stromlücken vor allem durch Importe von Atomstrom aus den Nachbarländern decken muss.

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3 Kommentare

  1. haarthhoehe

    Pro und Contra AKW laufen zur Zeit heiß in den Medien. Was mir auffällt ist, dass ein Faktor bei der Nutzung von Kernbrennstoff komplett außer Acht ist, und zwar: Uran als Brennelement ist ein fossiles Element, also ausgegraben aus der Erdrinde. Die freiwerdende Schlummerenergie wird zu Strom und Strom zu Wärme, die dann in unsere Atmosphäre abgegeben wird. Also zusätzlich zur Einstrahlung. Wenn dem so ist, dann müssten starke AKW-Nutzer wie Frankreich, ein Umweltwärmeproblem haben. Und das hatten sie letztes Jahr und heuer wird es interessant, weil Kühlwasser fehlt. Bin schon mal gespannt.

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  2. haarthhoehe

    Die Importe von Strom aus dem Ausland sind doch längst am laufen (s.electricitymap.org). Wir haben ein europäisches Verbundnetz von Schottland bis Türkei, zentral gesteuert in München. Jetzt will ich aber einmal aufzeigen, warum Atom keine Zukunft hat. Ökos holen ihre Energie aus der Natur, setzen sie in Strom um und der wird beim Verbraucher letztlich in Wärme umgesetzt, zu 100%. Atomstrom aus dem Zerfall der Urankerne ist ein zusätzlicher Eintrag von Wärmeenergie in die Umwelt, wenn wiederum Strom zu Wärme wird. Wenn aber die Hitze zunimmt, dann brauchen wir auch mehr Kühlleistung. Diese aber ist 3-4 mal so hoch, wie reine Wärmeerzeugung. Da tut sich also ein Teufelskreislauf auf, besonders wenn die AKWs im Sommer wegen der Hitzelast zurückgefahren werden müssen. Denkt mal drüber nach.

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    • Franz W. Rother

      Stimmt, was die alte Druckwassertechnologie anbetrifft. Bei einem MSR sieht das schon anders aus. Auch was die Endlagerung und den Einsatz von Uran anbetrifft.

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