Einerseits mehr Verbraucher, andererseits mehr Erzeuger mit schwankendem Output – so sehen die Herausforderungen für das moderne Stromnetz aus. Photovoltaik und Windkraft liefern witterungsbedingt nicht beständig Strom. Gleichzeitig dürfte der Strombedarf mit der zunehmenden Elektrifizierung des Individualverkehrs und vieler anderer Bereiche in den kommenden Jahren weiter steigen. Aber das Netz muss weiterhin stabil bleiben. Der Strom darf eben nicht kommen und gehen wie der Wind.
Forscher der Fachhochschule Bielefeld, der Universität Bielefeld und ihre internationalen Partner sehen die Lösung in einem lernfähigen, dezentral und durch Künstliche Intelligenz gesteuertem Stromnetz. Im Rahmen des Projekts „AI4DG“ entwickeln sie eine Künstliche Intelligenz, die an verschiedenen Stellen im Netz laufen, Messdaten sammeln und neben ihrer Steuerungsaufgabe auch Prognosen über den Stromverbrauch und die Leistung der verschiedenen Erzeuger liefern.
Das stabile Stromnetz der Zukunft
Der Projekttitel „AI4DG“ steht für „Artificial Intelligence on the edge for a secure and autonomous distribution grid control with a high share of renewable energies“. Zu deutsch heißt das etwa „Künstliche Intelligenz für eine sichere und autonome Verteilnetzsteuerung mit einem hohen Anteil an erneuerbaren Energien“. Die Formulierung „on the edge“ verweist auf das so genannte „Edge Computing“. Das verarbeitet Daten nicht in der Cloud, sondern dort, wo sie entstehen.
Die in Entwicklung befindliche KI soll in den einzelnen Ortsnetzstationen arbeiten. Durch ihre Prognosefähigkeit erkennt sie, wann die PV-Module zuviel Strom zuviel Strom liefern und das Netz überlasten würden. Den Überschuss nehmen dann die Batterien in den Haushalten auf. Diese Leistung würde bei Bedarf abgerufen – also dann, wenn die PV-Module nur wenig Strom liefern. So gleicht sich die Last lokal aus. Fällt eine KI aus, springt eine andere ein.
Das könnte dem Stromnetz auch in der Energiewende die nötige Stabilität bringen. Tatsächlich ist diese Wende eine große Herausforderung. „Wir befinden uns mitten in der Transformation, weg von einem zentralisierten Stromnetz, das auf fossile und nukleare Energieerzeugung ausgelegt ist, hin zu einem dezentralen, flexiblen und erneuerbaren Stromnetz“, erklären Professor Dr. Ing. Jens Haubrock und Professor Dr. Ing Ulrich Rückert. Haubrock lehrt an der FH Bielefeld und ist sowohl Initiator als auch Leiter von „AI4DG“. Rückert leitet das Center for Cognitive Interaction Technology der Universität Bielefeld. Die größte Herausforderung sehen beide darin, dass diese Transformation im laufenden Betrieb stattfindet.
Wie unser Stromnetz funktioniert
Das Stromnetz besteht aus Übertragungsnetzen und Verteilnetzen. Die Übertragungsnetze leiten Elektrizität über große Entfernungen. Sie bestehen aus Hochspannungsleitungen mit Spannungen von 380 kV oder 220 kV. Außerdem gehören Leitstellen und Transformatoren dazu. Die großen Kraftwerke geben ihren Strom direkt an die Übertragungsnetze weiter. Von dort fließt der Strom in die Verteilungsnetze mit der Mittelspannungs- und Niederspannungsebene.
Dieses Netz wird von den so genannten Übertragungsnetzbetreiben (ÜNB) unterhalten. ÜNBs sind jeweils für eine bestimmte Region zuständig und sorgen mit ihren technischen Einrichtungen dafür, dass Spannung und Netzfrequenz konstant bleiben. Außerdem übernehmen sie das Fahrplanmanagement. Der Fahrplan beschreibt, welcher Strom wann an wen geliefert wird. Er wird regelmäßig aktualisiert und erfasst sowohl Lieferungen als auch konkrete Bedarfe. Wenn eine Überlastung droht, müssen die ÜNBs das Problem lösen.
Die Verteilungsnetze leisten die Versorgung vor Ort und arbeiten mit niedrigerer Spannung. „Im Verteilnetz besteht die Aufgabe vor allem darin, die Spannung lokal zu steuern und Überlastungen von Betriebsmitteln zu verhindern“, erklären Haubrock und Rückert. Ein Fahrplanmanagement wird heute dort jedoch nur selten praktiziert.
Im Zuge der Energiewende dürfte sich das ändern. Denn nun verlagert sich die Stromproduktion auf die Ebene der Verteilernetze und bis hinunter in die Ortsnetze mit niedriger Spannung. Das ist die Folge der dezentralen Stromerzeugung durch zahlreiche Photovoltaik-Anlagen. Verbrauch und Stromerzeugung in den Niederspannungsnetzen werden künftig steigen und zugleich stärker schwanken.
„Das Netz sicher zu steuern, wird durch die Ausgangslage zu einer komplexen und immer schwieriger werdenden Aufgabe“, sagt Katrin Schulte über das Problem. Schulte forscht seit 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Projekten zur Gestaltung der Energiewende in der Arbeitsgruppe Netze und Energiesysteme von Jens Haubrock am Bielefelder FH-Institut für Technische Energiesysteme.
Netzsteuerung durch dezentrale Künstliche Intelligenz
Der Ansatz, Künstliche Intelligenz zur Netzsteuerung einzusetzen, beruht auf Schultes Forschungen. Die im Rahmen von „AI4DG“ entstehende KI soll dezentral etwa in den Ortsnetzstationen laufen. Hier wird die ankommende Mittelspannung in Niederspannung transformiert, die dann wiederum die einzelnen Haushalte versorgt. Die KI steuert das örtliche Netz autark und analysiert die Daten direkt vor Ort. „„Wir setzten die Analysen der KI dann beispielsweise für Prognosen ein. Sie sollen den Verbrauch von einzelnen Haushalten vorhersagen oder die von PVs erzeugte Leistung“, so Schulte weiter.
Diese Prognosen sind auch für das Zusammenwirken mit benachbarten Netzen wichtig. „Wir nutzen die Prognosen und die Kenntnisse über den aktuellen Zustand, um Flexibilität, Leistungen wie Liefern oder Abnehmen, einer übergeordneten Netzsteuerung zur Verfügung zu stellen“, erläutert Haubrock.
Hier kommt Edge Computing zum Einsatz. Die Daten werden nicht in die Cloud übermittelt, sondern bleiben vor Ort. „Das ist eine echte Innovation“, sagt Schulte, „wir erhöhen damit die Sicherheit und den Datenschutz, denn die Stromversorgung gehört zur kritischen Infrastruktur.“
Dezentral gespeicherte und verarbeitete Daten können nur schwer manipuliert werden. KI-Methoden würden zudem eingesetzt, um Anomalien wie Hacker-Angriffe oder schädliches Verhalten einzelner Netzteilnehmer zu erkennen. Befallene Netzknoten lassen sich abtrennen und ersetzen.
Auf den Prognosen der KI beruht dann die Steuerung des Netzes. Je nach Verbrauch und aktueller Stromproduktion lassen dann Überschüsse in den Batterien der einzelnen Haushalte speichern oder ins Netz einspeisen. So bleibt die Netzspannung stabil. Überlastungen werden vermieden und die Versorgungssicherheit bleibt gewährleistet.
Algorithmen im Test
Gegenwärtig liegt der reale Einsatz jedoch noch in einiger Ferne. Die Algorithmen entstehen zunächst im Labor und in der Computersimulation. Schulte und ihre Kollegen testen die KI in Simulationen, die wiederum auf realen Daten beruhen. Die Daten für diese Stromnetz-Simulation liefert Westfalen Weser Netz, einer der Projektpartner. Funktioniert ein Algorithmus, wird er unter realen Bedingungen im Smart Application Lab erneut getestet. Im Netz-Simulationslabor fließt echter Strom zwischen Hardware-Komponenten wie Batteriespeichern oder realen Verbrauchern. Erst wenn sich die Algorithmen hier bewähren, folgt ein echter Feldtest im Stromnetz von Westfalen Weser Netz.
„AI4DG“ startete Anfang Oktober 2021 und endet am 30. September 2024. Danach müsste der entwickelte und getestete Demonstrator weiter verfeinert werden. Wann eine KI-gestützte Netzsteuerung in die breitere Anwendung kommt, ist noch offen.
Das Projekt ist international aufgestellt. Die FH Bielefeld lieferte die Idee und die Stromnetz-Expertise. Das KI-Knowhow steuert die Université Grenoble Alpes bei, während sich die Universität Bielefeld mit dem Edge Computing beschäftigt. Bei den Feldversuchen kommen die Industriepartner Westfalen Weser Netz und das französische Unternehmen Atos World Grid zum Zuge.