An großen Worten hat es bei NIO gemangelt, und schon der Name des vor fünf Jahren als chinesische Alternative zu Tesla gegründeten Start-ups ist ein schwer zu haltendes Versprechen. Denn Co-Founder Lihong Qin übersetzt „Nio“ mit dem blauen Himmel, der schon bald über allemn aufziehen wird. Wozu sonst wollen die Chinesen schließlich mittelfristig eine halbe Million Elektroautos im Jahr bauen und so die Welt, na ja, zumindest ein bisschen besser machen?

Auf Augenhöhe mit Audi e-tron und Mercedes EQC

Anders als Faraday Future oder Byton ist Nio allerdings schon einen Schritt weiter und hat den großen Worten bereits erste Taten folgen lassen. Denn vor einem knappen Jahr ist aus der Fabrik im ostchinesischen Hefei das erste Exemplar des Modells ES 8 gerollt – rund 16 000 Fahrzeugs des siebensitzigen SUVs sind seitdem gefolgt und in China zu Preisen von umgerechnet 59.000 Euro verkauft. Und in ein paar Wochen kommt mit dem etwas kleineren ES 6 zum Basispreis von umgerechnet 47.000 Euro bereits das zweite Großserienmodell in den Handel. Damit rüstet sich NIO nicht zuletzt für das Ringen mit den ganz ähnlich positionierten elektrischen Erstlingen von Audi und Mercedes, dem e-tron und dem EQC. Beide sind gerade auf dem Weg nach China, um für die Deutschen den weltweit wichtigsten und größten Markt für batterieelektrische Autos zu erobern.

Saftladen
Ist keine Ladestation in Sicht oder gerade frei, können NIO-Fahrer auch den Charging-Van bestellen, der frischen Strom liefert.
© Copyright Nio

Im Design näher an seinem großen Bruder dran als ein BMW X3 am X5, dafür aber rund 20 Zentimeter kürzer als der 5,02 Meter lange ES8, liegt er in der Papierform tatsächlich auf Augenhöhe mit E-tron und EQC. Das gilt bei 4,85 Metern Länge und 2,90 Metern Radstand für das Platzangebot genau wie für die Performance. Schließlich installiert Nio zwei e-Motoren mit zusammen bis zu 400 Kilowatt und 725 Newtonmeter, mit denen der 2,3-Tonner binnen 4,7 Sekunden auf Tempo 100 schnellt und freien Auslauf bis 200 km/h bekommt. Und nachdem Nio bei den Akkus gegenüber dem ES8 noch einmal nachgelegt hat, stecken im Wagenboden jetzt bis zu 84 Kilowattstunden (kWh) Stromkraft, die im Normzyklus für 510 Kilometer reichen sollen. Wer sich die knapp 7.000 Euro Aufschlag für die große Batterie spart, muss mit 70 kWh und 430 Kilometer Reichweite zurechtkommen, was aber kein echtes Problem ist. Denn NIO bietet für das Tanken der Neuzeit zwei extrem aufwändige, aber pfiffige Alternativen zur konventionellen Ladesäule an. Wer nirgendwo eine Steckdose findet, der kann im Heimatland China einfach den Charging-Van bestellen, der mit seinem Aufbau voller Akkus jeden noch so abgelegenen Parkplatz zur E-Tankstelle macht. Und wem die Geduld fehlt, der steuert eine von bislang rund zwei Dutzend NIO-Stationen entlang der wichtigsten Autobahnen an. Dort werden die Akkus allerdings nicht geladen, sondern binnen drei Minuten automatisch gewechselt.

Scharfe Kost
Schneller am Markt als Tesla will NIO mit dem ES 6 sein. Und weiter geht es schon bald.
© Copyright Nio

Wohlfühlsessel für die Dame auf dem Beifahrersitz

Während die Fahrleistungen auf dem Niveau der europäischen Konkurrenz liegen und sich der ES6 mit seiner serienmäßigen Luftfederung und soliden Brembo-Bremsen trotz des üppigen Gewichts ziemlich handlich bewegen lässt und auch in engen Kurven tapfer schlägt, ist der Innenraum typisch Chinesisch. Das gilt nicht für Verarbeitung und Materialauswahl, die nicht weit von den europäischen Standards sind. Und erst recht nicht für die Serienausstattung mit LED-Scheinwerfern, radargestützter Abstandsregelung, Head-Up-Display und Massagesesseln. Sondern das gilt vor allem für das Sitzkonzept mit einem speziellen Wohlfühlsessel für die Dame vorne rechts, zu dem neben einer elektrischen Beinauflage und einer Fußraste unter dem Handschuhfach sogar eine riesige Ablage für High Heels und Handtasche zählen. Zumindest in China sind die Rollen der Geschlechter offenbar noch klar verteilt.

Und auf chinesische Gewohnheiten ist auch das Infotainment-System an Bord abgestellt. Denn wo die westliche Welt es bei digitalen Assistenten belässt, wird bei NIO aus Systemen wie Siri oder dem mit „Hey Mercedes“ aktivierten UX-Paket des EQ C ein elektronischer Freund namens Nomi, der nicht nur spricht und zuhört und anschließend alle Wünsche aufs Wort erfüllt. Nomi sucht auch Blickkontakt, dreht dann sein kleines Köpfchen zum Gesprächspartner und zeigt sogar Gefühle. Schade nur, dass Nomi bislang nur Chinesisch spricht. Aber das soll sich bald ändern. Denn spätestens in fünf Jahren, sagt NIO-Mitbegründer Lihong Qin, will der Autohersteller auch im Ausland antreten. Und wenn sie daheim in China schneller auf Touren kommen, starten sie im Westen sich auch früher durch. Seinen Entwicklern jedenfalls rät Qin schon einmal, Nomi lieber heute als morgen in die Sprachschule zu schicken.

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