Volkswagen scheint sich seit über zwei Jahren als reiner Elektrohersteller zu präsentieren. Auf Messen werden sukzessive zahllose Mitglieder der ID.-Familie enthüllt und über die normalen Fahrzeuge mit Diesel- oder Benzinmotor spricht, abgesehen vom Dieselskandal, fast niemand mehr.
So ging unter anderem die ein oder andere Modellpflege unter und der neue VW Touareg als Luxusaushängeschild der Marke bekam nicht viel mehr als eine Randnotiz mit Ausrufezeichen. Bisher waren die elektrischen Fahrzeuge nebst den kommunizierten Werksumstellungen in Zwickau, Emden und Hannover kaum mehr als visualisierte Gedankenspielereien mit Serienbezug.
Elektro-VW könnte „ID 3“ heißen
Doch 2019 ist es soweit: Zunächst legen die Wolfsburger ein elektrisches Kompaktklassemodell auf, dass den Namen ID. Neo oder ID. 3 tragen soll – der endgültige Name wird nach entsprechenden juristischen Absicherungen auf dem Genfer Salon im März 2019 verkündet. Schon fest steht jedoch, dass der ID.-Erstling nahezu parallel zur neuen, achten Golf-Generation Anfang 2020 auf den Markt kommt und diese insbesondere optisch recht alt aussehen lassen wird.
Im Vergleich zum Dauerbrenner Golf wirkt der ID. Neo wie aus einer futuristischen Welt. Das gilt gleichermaßen für Design und Technik, denn die neue Elektroplattform MEB gab Design- und Entwicklungsteam völlig andere Möglichkeiten. Die Überhänge sind kurz, der Radstand rund zehn Zentimeter länger als beim Golf und die Heckklappe besteht obligatorisch aus einem schwarzen Kunststoff. „Der Wagen besteht zu 99 Prozent aus Stahl“, sagt Cheftechniker Frank Bekemeier, „Aluminium und andere Komponenten wurden in erster Linie in den Crashstrukturen verbaut. Das Thema Gewicht ist nicht derart entscheidend – auch weil wir davon bei der Rekuperation profitieren und das maximale Drehmoment vom Start anliegt.“
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Das Platzangebot im Innern ist besonders im Fond mindestens eine Klasse größer als im Golf, denn ohne den Verbrennungsmotor konnten Stirnwand und Armaturenbrett deutlich nach vorne rutschen. Neben einem luftigen Design mit zwei separaten Displays vorne gibt es hinten so rund sieben Zentimeter mehr Beinfreiheit. Die Mittelkonsole hat große Ablagen, die Bedienmodule sind nahezu komplett in den Touchbildschirm gerutscht und die einzelnen Fahrstufen legt man über einen Drehschalter rechts von der Instrumenteneinheit ein.
Der VW ID. Neo wird so teuer wie ein vergleichbarer Golf
Während der Golf VIII abgesehen von einem 48-Volt-Teilbordnetz bei den Volumenmodellen konventionell mit Diesel- und Benzinmotoren angetrieben wird, soll der elektrische ID. Neo die Marke Volkswagen in ein völlig neues Licht tauchen und neue Kunden locken, die bisher bei Nissan, BMW oder gar Tesla zulangten. Technisch basieren alle Elektromodelle mit dem neuen weißen VW-Signet an der Front auf dem modularen Elektrobaukasten MEB, der noch variabler sein soll als der MQB, auf dem die aktuellen Verbrenner unterwegs sind.
„Das Preissegment ist anspruchsvoll“, bekräftigt VW-Entwicklungsvorstand Frank Welsch, der vor drei Jahren Konzerntochter Skoda zu VW kam, „aber wir wollen den ID. zum Preis eines vergleichbar ausgestatteten Golf Diesel auf den Markt bringen. Es wird verschiedene Akkupakete geben, die nach dem WLTP-Zyklus Reichweiten von mindestens 330 Kilometern ermöglichen sollen.“ Das Leistungsspektrum dürfte wohl zwischen 110 und 150 kW beziehungsweise zwischen 150 und 204 PS sowie mehr als 300 Nm maximales Drehmoment liegen. „Bei der Höchstgeschwindigkeit ist noch nicht entschieden, wo wir abregeln – ob bei 160 oder 180 km/h“, legt der 54-Jährige nach, der sich in seinem Job als Entwicklungsvorstand derzeit mindestens zu 40 Prozent mit der neuen Elektrofamilie beschäftigt. Bis 2022 sollen 27 Fahrzeuge im gesamten Konzern auf der MEB-Plattform unterwegs sein. Neben den Modellen mit dem VW-Signet bringen auch Seat, Audi und Skoda elektrische Modelle, die das Verbrennerportfolio in Bedrängnis bringen sollen.
Derzeit laufen die Erprobungen auf Hochtouren und Edison hat das Entwicklungsteam in Südafrika besucht und ist erste Kilometer mit den Prototypen des ID. gefahren. Der bauliche Stand der Probanden aus der sogenannten Integrationsstufe überrascht überaus positiv. Auch wenn es sich bei den stark getarnten Modellen um frühe Testfahrzeuge handelt, die mit denen in erster Linie Antrieb und Klimatisierung erprobt werden sollen, wirken die beiden Neos ausgesprochen erwachsen.
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Selbst auf den schlechten Straßen von Stellenbosch Richtung Osten poltert das Fahrwerk nicht und die Federung ist trotz der aufgezogenen 20-Zöller (serienmäßig sind 19 Zoll) komfortabel. An der allzu leichtgängigen Lenkung scheinen sich in erster Linie Frank Welsch und Frank Bekemeier zu stören. Entspannt beschleunigt der über 1,6 Tonnen schwere Elektrohecktriebler aus jedem Tempo und man spürt gerade in flotten Kurven den angenehm niedrigen Schwerpunkt. Mit dem Fahren in der Fahrstufe B kann man sich die meisten Bremsmanöver sparen. Jedoch ist die Rekuperation nicht derart stark, wie man es beispielsweise von einem der Hauptwettbewerber Nissan Leaf kennt. „Die Akkupakete sind bei uns wie eine Tafel Schokolade aufgebaut“, erklärt Welsch den Aufbau der verbauten Pouch-Zellen, „wir können diese daher variabel bei den verschiedenen Modellen zusammensetzen.“
Dass bei dem düster verklebten Prototypen technische Details wie Navigationssystem, Head-Up-Display und der neu entwickelte Augmented-Bereich in der Windschutzscheibe noch nicht richtig arbeiten, ist weit weniger wichtig als die Akkureichweite, die trotz eines mehr als halbleeren Speichers bei immerhin 150 Kilometern liegt.
Mit Schaumkronen auf dem Meer auf der rechten Seite geht es im VW ID. Neo auf der Küstenstraße R44 Richtung Nordosten weiter auf der Garden Route, die sich zunehmend mit Touristen füllt, die am Kap den warmen Winter genießen. Mit ihren zahlreichen Steigungen und Gefällen ist der Kurs perfekt die Abstimmung des Elektromoduls geeignet. „Insgesamt testen wir hier in Südafrika rund vier Wochen“, erklärt Chefentwickler Bekemeier, der sich mit einer weißen Kappe gegen die Sonne schützt, „danach geht es dann in den kalten Winter.“ Auch hier muss der ID. Neo dann zeigen, was er kann, ehe er auf der IAA 2019 in Frankfurt offiziell enthüllt wird.