Es kommt nicht häufig vor, dass am Mastberg in Hagen etwas von bundesweiter Bedeutung geschieht. Dort sitzt unweit der A45 der Energieversorger Enervie, der vor allem in Hagen und dem angrenzenden Märkischen Kreis aktiv ist. Doch diese Woche war es soweit: Enervie hat ein Pilotprojekt vorgestellt, das in dieser Form in Deutschland einzigartig ist. Die Batterie eines Elektroautos stabilisiert das lokale Stromnetz. Dabei wird das Auto nach den Richtlinien der Netzbetreiber eingebunden und erfüllt somit die selben Anforderungen wie ein Großkraftwerk.

Seitdem über eine großflächige Verbreitung von Elektroautos gesprochen wird, schwingt immer wieder eine Vision mit: Das Elektroauto wird Teil eines intelligenten Stromnetzes und hilft, das Netz zu stabilisieren – die sogenannte „Vehicle-to-Grid“-Technologie, V2G abgekürzt. Skeptiker verbreiteten eher die gegenteilige Ansicht: Werden massenhaft Elektroautos gleichzeitig geladen, überlastet das die Netze. Das Projekt in Hagen soll nun die Kritiker widerlegen und die Vision wahr werden lassen.

Zunächst muss man sagen: Die Vision sieht reichlich unspektakulär aus. Auf dem Parkplatz vor der Enervie-Zentrale stehen mehrere Ladesäulen. Das Unternehmen betreibt selbst im Stadtgebiet 42 Säulen und hat sich bereits vor Jahren mit dem Autobauer Nissan und dem Dienstleister The Mobility House zusammengetan, um die Elektromobilität in Hagen voranzubringen. Das, was die Projektpartner jetzt als „Durchbruch“ bezeichnen, unterscheidet sich optisch kaum von den anderen Ladesäulen.

Neu ist aber, dass angeschlossene Nissan Leaf nicht nur geladen werden kann, sondern auch umgekehrt Strom aus seiner Hochvolt-Batterie ans Netz abgeben kann. Und vor allem darf: Technisch ist das mit dem Leaf und seinem Chademo-Ladeanschluss schon länger möglich – nur stand bislang die Regulatorik im Weg. Jetzt ist es den Projektpartnern gelungen, den Leaf mit einem Lademanagement von The Mobility House, erstmals ein Elektroauto nach allen Anforderungen der Übertragungsnetzbetreiber für die sogenannte Primärregelleistung zu qualifizieren. Sprich: Der Leaf ist offiziell ein rollendes Kraftwerk. Die Ladesoftware reagiert innerhalb von Millisekunden und kann die Batterie mit bis zu 10 Kilowatt laden oder entladen.

Die Primärregelleistung hat eine wichtige Funktion im Stromnetz. Die Netzfrequenz muss möglichst konstant bei 50 Hertz gehalten werden, nur dann sind Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht. Fällt irgendwo ein Kraftwerk aus, kompensiert die Primärregelleistung innerhalb von Sekunden den Verlust. Auch erneuerbare Energien sorgen für Schwankungen im Stromnetz. „Wind und Sonne liefern mitunter mehr Energie, als von Verbrauchern abgenommen werden kann“, sagt Thomas Raffeiner, CEO und Gründer von The Mobility House. Um Last und Erzeugung in der Balance zu halten, müssen Kraftwerke hoch- und runtergefahren werden.

Auch ein Elektroauto steht 23 Stunden am Tag

In Deutschland werden ständig 600 Megawatt Primärregelleistung bereit gehalten, bereits 40 Prozent davon in Form von stationären Batteriespeichern. Dabei waren bis 2014 noch gar keine Batteriespeicher für diese wichtige Funktion erlaubt, seitdem ist ihr Anteil dramatisch gestiegen. Jetzt erhoffen sich die Projektpartner und der ebenfalls beteiligte Netzbetreiber Amprion, dass der Vehicle-to-Grid-Versuch den Nachweis liefert: Elektroautos können die notwendige Flexibilität und Steuerbarkeit bieten, um das System zu unterstützen – und können künftig gleichberechtigt mit anderen Technologien genutzt werden.

Die Kernannahme der V2G-Befürworter: Künftig werden mehrere Gigawattstunden an Akkukapazität in Autos verbaut sein. Die Autos stehen aber 23 Stunden am Tag ungenutzt herum – in dieser Zeit könnte ihre enorme Akkukapazität für „netzdienliche Aufgaben“ verwendet werden. Also das Stromnetz stabilisieren.

Der Punkt jedoch ist: Dazu müssen die Autos in dieser Zeit mit dem Stromnetz verbunden sein, möglichst einer V2G-fähigen Ladesäule. Ein Elektroauto am Straßenrand bringt also nichts. Der Idealfall wäre eine V2G-fähige Wallbox in der heimischen Garage und eine auf dem Firmenparkplatz – dann könnte das Auto fast die gesamte Parkdauer angeschlossen werden. Aber auch die 22-Kilowatt-Wechselstrom-Ladesäulen, die derzeit von vielen Stadtwerken gebaut werden, können hilfreich sein. „Sie können bei einem Überschuss im Netz Strom an das Auto abgeben, nur eben nicht anders herum“, sagt Raffeiner.

Wer bei dem ständigen Be- und Entladen um die teure Batterie seines E-Autos fürchtet: Im V2G-Betrieb arbeitet der Wagen nur mit geringen, schonenden Ladeleistungen. Und für Wenigfahrer kann es sogar vorteilhaft sein, wenn die Batterie regelmäßig schonend genutzt wird und nicht über eine längere Zeit mit gleichem Ladestand in der Garage steht.

Netzausbau könnte kleiner ausfallen

Damit die V2G-Technologie ein Erfolg werden kann, muss auch bei den Verbrauchern ein Umdenken einsetzen. Heute will ein Elektroautofahrer sofort laden, sobald er das Kabel einstöpselt. Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey aus dem August zeigt, dass bereits bei einem E-Auto-Marktanteil von 25 Prozent die Lastspitzen im Stromnetz (vor allem am frühen Abend) um bis zu 30 Prozent steigen können. Mit einem intelligenten, zeitverschobenen Lademanagement, können diese Lastspitzen deutlich verringert werden.

Der positive Nebeneffekt, wenn die Autos möglichst oft und lange ans Netz angeschlossen sind: Der Netzausbau könnte deutlich kleiner ausfallen, wenn sich die Last gleichmäßiger verteilt. „Kein Bürger hat Verständnis dafür, wenn wir schon wieder die Bürgersteige aufreißen, um noch mehr Kupferkabel zu vergraben“, sagt Erik Höhne, Vorstandssprecher von Enervie. „Wir müssen uns schon heute fragen, was wir tun müssen, damit der Kunde nicht selbst den Ladezeitpunkt bestimmen will, sondern es der Technik überlässt?“

Dabei müssen nicht sofort alle Elektroautos derart ans Netz angebunden werden, um einen positiven Effekt auf das Stromnetz zu erzielen. 20 bis 30 Fahrzeuge können laut Höhne in einer Stadt wie Hagen bereits ausreichen, um lokal das Netz zu stabilisieren. „Auch wenn wir klein anfangen, müssen wir irgendwo anfangen“, sagt Guillaume Pelletreau, Managing Director des Nissan Center Europe. „Im gewerblichen Bereich sind Flotten in dieser Größenordnung ohne weiteres möglich.“

Bleiben zwei technische Herausforderungen: Derzeit ist nur der Nissan Leaf für den V2G-Gebrauch zertifiziert, und ist auch eines der wenigen Autos, das praktisch in Frage kommt. Bidirektionales Laden ist aktuell nur in dem japanischen Gleichstrom-Ladestandard Chademo implementiert. Den nutzen neben den Nissan-Modellen in Deutschland nur noch Modelle von Mitsubishi. Der in die Tage gekommene i-MiEV bietet keine nennenswerten Stückzahlen, beim Outlander Plug-in-Hybrid ist die Batterie deutlich kleiner als in einem reinen Elektroauto. Bei Elektroautos, die den europäischen CCS-Standard nutzen (was in Deutschland die meisten angebotenen und angekündigten Modelle sind), ist es derzeit noch nicht möglich.

Herausforderung Nummer zwei: Bislang werden die V2G-Lader noch nicht verkauft. Die Anlage in Hagen kommt von dem Schweizer Unternehmen EVTEC. Im kommenden Jahr will Nissan die Technologie mit einigen Gewerbekunden erproben, für die heimische Garage ist sie noch nicht erhältlich.

Der Anfang ist gemacht, aber der Weg ist noch weit.

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