‚The Line‘ gibt sich im Werbevideo weltoffen, selbst der Ausschank und Konsum von Alkohol könnte in der Bandstadt erlaubt sein. Undenkbar im Rest des konservativen Landes, wo selbst die Sieger des Formel-1-Grand Prix von Saudi-Arabien statt Schaumwein nur Rosenwasser verspritzen dürfen.

Dass ‚The Line‘ quasi exterritorial wird, zeigt sich auch am Recht: Dort sollen nicht die strengen, an der Scharia orientierten Gesetze gelten, sondern ein eigenes, liberaleres Rechtssystem. Das sollen die Investoren mitgestalten können. Auch das Steuersystem soll sich unterscheiden.

Aber das

Was bedeutet das für die Menschen in der Region?

All das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Saudi-Arabien ein autoritär regiertes Land ist. Kritik an der Obrigkeit oder der Opposition zu deren Plänen wird nicht geduldet. Das haben auch die Bewohner der Region, in der Neom entsteht, zu spüren bekommen: Sie müssen ihr Land verlassen. Rund 20.000 sollen es sein. Einige sind – zum Teil gegen Bezahlung – bereits gegangen.

Wer bleiben will, den trifft die staatliche Willkür: „Ein großer Teil des Stammes der Howeitat hat sich geweigert, das Land zu verlassen, und war infolgedessen verschiedenen Formen der Verfolgung ausgesetzt: Zerstörung von Eigentum, Unterbrechung der Stromversorgung, unerklärliche Brände, Verlegung des Arbeitsplatzes, Schikanen, Drohungen und Entführungen“, heißt in einem Bericht der Vereinten Nationen.

Doch nicht nur politische Gründe werden gegen das Projekt angeführt. So wird beispielsweise bezweifelt, ob die Riesenstadt tatsächlich in der Lage sein wird, sich autark mit Energie und Wasser zu versorgen. Gerade an Energie könnte der Bedarf sehr hoch sein.

Wie nachhaltig ist The Line?

So werben die Initiatoren zwar damit, dass die Stadt durch natürlichen Luftaustausch passiv gekühlt wird. Fachleute bezweifeln das aber. Solch ein Gebäude heize sich extrem schnell auf und sei nur mit Klimaanlagen überhaupt bewohnbar. „Stellt man die Klimaanlagen ab, ergeben sich nach nur wenigen Stunden erhebliche Gesundheitsrisiken“, sagte Christine Lemaitre, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, dem Onlinemagazin Riffreporter).

Philip Oldfield, der Architektur an der University of New South Wales in Sydney lehrt, kritisiert in Riffreporter, dass eine Stadt, um klimafreundlich zu sein, kompakter und und nicht höher als sechs bis zehn Stockwerke sein sollte. Zudem sollte sie aus lokal verfügbaren Materialien sowie biologischen Baustoffen wie Holz oder Stroh gebaut werden. „Meiner Ansicht nach geht es bei der Gestaltung von ‚The Line‘ nicht darum, ein kohlenstoffarmes Gebäude zu errichten. Es ist ein politisches Statement, um technologisches Können und Ehrgeiz zu demonstrieren – kein Design, das sich auf die Schaffung einer klimaneutralen Lösung konzentriert“, resümierte er.

170 Kilometer langer Riegel
Vom Golf von Akaba bis weit hinein in die Wüste soll sich die 200 Meter breite Wohnanlage ‚The Line‘ ziehen – und 2030 neun Millionen Menschen beherbergen. Mehr als 300 Milliarden Dollar sind dafür veranschlagt. Foto: Neom

Zwei Komplexitätsforscher aus Wien kritisieren die Form der Stadt: „Eine lineare Form ist die am wenigsten effiziente Form einer Stadt. Es gibt einen Grund, warum die Menschheit 50.000 Städte hat und die alle mehr oder weniger rund sind“, sagte Rafael Prieto-Curiel vom Complexity Science Hub (CSH). Statt für The Line hätten sich die Städtebauer besser für The Circle entscheiden, argumentierten sie im vergangenen Jahr in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift NPJ Urban Sustainability.

Was bedeutet all das für die Natur?

Auch nicht geklärt ist die Frage nach dem Wachstum: Was passiert, wenn die Stadt ihre Kapazität erreicht hat? Traditionelle Städte wuchern ja weiter in ihr Umland. Aber wie soll das bei ‚The Line‘ gehen? Unklar sind schließlich die Auswirkungen auf die Umwelt: Zwar scheint die Wüste leer. Doch tatsächlich leben dort viele Tiere. Wie werden sie damit klarkommen, dass sich plötzlich ein 170 Kilometer langer Riegel durch ihren Lebensraum zieht? Was ist mit den Spiegeln? Wird das gleißende Licht sie blenden? Werden Vögel dagegen fliegen und verenden? Und schließlich: Werden die Spiegel die Umgebungsluft zum Kochen bringen?

Bis zur Fertigungstellung von ‚The Line‘ werden noch so einige Fragen beantwortet werden müssen.

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