Dass die Chinesen rasant im Anmarsch sind, haben wir natürlich längst mitbekommen. Mit bei uns bisher völlig unbekannten Marken wie Aiways, Seres, Ora (die Lifestyle-Marke von Great Wall), MG (mit einem Elektrokombi!), SAIC, JAC, XPeng, Dongfeng, Lynk & Co oder demnächst auch mit dem chinesischen Elektroauto-Platzhirsch BYD. Einige von denen sind schon hier, andere kommen spätestens im nächsten Jahr auf den Markt. Und nun startet auch NIO bei uns durch. Mutiger Slogan zum Einstieg: „Ein neuer Horizont“.
Dabei ist Nio weiß Gott nicht der Riese im Reich der Mitte unter den Herstellern vollelektrischer Autos, aber ein besonders auffälliger, der vielleicht mal ganz vorn fahren könnte. Nio, das klingt nach neu und passt so schön zur Mission dieser Marke, die der Gründer und Firmenchef William Li nett mit den Worten „To Shape a Joyful Lifestyle“ umschreibt. Kurz und auf deutsch: Habt viel Spaß mit unseren Autos.
ET 7 noch dieses Jahr nach Deutschland
In Norwegen ist NIO mit dem großen Edel-SUV ES8 bereits erfolgreich auf dem Markt, und nun ist Deutschland an der Reihe. Anschließend übrigens die Niederlande, Dänemark und Schweden, ergo die üblichen E-Verdächtigen. Und bis 2025 will Nio weltweit in 25 Ländern präsent sein. Bis dahin könnten die Jahresstückzahlen, die diesjährig oberhalb von 120.000 Einheiten liegen dürften, im Idealfall die halbe Million überschritten haben. Eine zweite, neue Fabrik im chinesischen Hefei hat bereits die Produktion aufgenommen, die installierte Gesamtkapazität beläuft sich damit auf etwa 600.000 Einheiten, was schon mal eine ansehnliche Hausnummer ist. Aber William Li will höher hinaus: „Unser Engagement in der europäischen Region markiert den Beginn des nächsten Kapitels in unserer globalen Entwicklung.“
Bei uns sollen mit der Luxuslimousine ET7 noch in diesem Monat die ersten Elektroautos der Marke ausgeliefert werden. Dazu kommen wir gleich. Und aus diesem Anlass gab es jetzt im Berliner Tempodrom vor rund 900 geladenen Gästen ein aufwendiges Eventprogramm. Passend dazu wurde auch gleich das erste deutsche NIO House vorgestellt, das zentrumsnah direkt am Kurfürstendamm (Nummer 11) liegt. Und natürlich keine klassische Verkaufsbude sein darf. Sondern so eine Art Tummelplatz „für unsere User und die Community, um sich auszudrücken, unvergessliche Momente zu erleben und sie miteinander zu teilen.“ Zitat NIO-Marketing. Alles ist da: Café, Bibliothek, diverse Labs und eine Spiel-Ecke für die Kids.
Hier soll es nach dem Willen von NIO auch ständig tolle exklusive Veranstaltungen geben, vom Yoga-Kurs bis zum Rockkonzert. Ach ja, einen Showroom mit richtigen Autos nebst beratenden, leibhaftigen Verkäufern („Fellows“) findet sich da auch, und mit den erwähnten Usern sind übrigens die potentiellen Kunden gemeint. In China soll diese jugendlich hippe Anmache jedenfalls bestens funktionieren, erklärt uns Ralph Kranz, der Deutschland-Chef der Marke, früher übrigens erfolgreich in Volvos Diensten.
Autobestellung per App
Demnächst wird es diese „NIO Houses“ bei uns in etlichen Großstädten geben. Neben Berlin sind aktuell auch Frankfurt, Düsseldorf und Hamburg im Plan. Auch München dürfte schnell folgen, hören wir. Die meisten davon sind bereits mehr oder weniger im Bau. Den Service wiederum übernehmen spezielle, über ganz Deutschland verteilte Center, deren Dienste mit einem Knopfdruck über die NIO-App oder eine Hotline gebucht werden können. Und für die betroffenen Autos offeriert NIO einen Abhol- und Bringe-Dienst („Home Deliver“). Wenn’s länger als einen Tag dauern sollte, gibt es zur Überbrückung einen kostenlosen Leihwagen von der Marke NIO.
Per App, die als zentraler Kontaktpunkt zu NIO gedacht ist und uns unentwegt das komplette NIO-Universum ausbreitet, kann das Auto auch ruck, zuck bestellt werden. Hier darf und soll auch über Unzulänglichkeiten am Fahrzeug gemeckert oder irgendeine Verbesserung angeregt werden („User Enterprise“). Das ist eine der Säulen der NIO-Philosophie. „Da hören wir dann wirklich genau zu, und eventuelle Kritikpunkte werden von uns aufgegriffen und nach Möglichkeit auch schnell beseitigt“, verspricht Benjamin Steinmetz, der europäische Produktmanager bei NIO, der sich nach der Testfahrt auch sofort unsere Anmerkungen notiert.
Ist ja ohnehin relativ einfach bei diesem China-Kracher. Denn für irgendwelche Updates muss hier (wie bei Tesla oder so) niemand in irgendeine Werkstatt. In der Regel soll es alle zwei Wochen ein kleines Over-the-Air-Update („Sota“) geben, das hauptsächlich die Software betrifft. Und alle zwei Monate eine große Auffrischung, die dann jeweils bestimmte Funktionen („Fota“) optimieren soll. Das müsse, so Steinmetz, nur jeweils mit einem Okay bestätigt werden, damit man in dieser Zeit nicht gerade mit dem Auto zum Bäcker unterwegs sei. Klingt alles sehr bequem, und wir sind gespannt, wie es denn später so laufen wird.
Große Reichweiten und Wechselbatterien
Jetzt müssen wir dringend über die entscheidenden Besonderheiten von NIO reden, die der Welt und speziell uns Deutschen diese eingefleischte Reichweitenangst nehmen will. Erstens kommen sämtlich Autos der Marke mit relativ üppigen Reichweiten zu uns. Die versprochenen 580 Kilometer für die Version mit der 100-kWh-Batterie, die zum Verkaufsstart angeboten wird, sind da nur die Mittelstufe, ganz oben geht es nämlich mit der für später versprochenen 150-kWh-Batterie in Richtung von 1000 Kilometern, was wir noch detaillierter ausführen werden. Deutlich darunter rangiert in ein paar Wochen der Stromspeicher mit 75 kWh, der für bis zu 445 Kilometer gut sein soll. Beide, die 75er und die 100er, sind Lithium-Ionen-Batterien in leicht unterschiedlichen Ausführungen. NIO verspricht hier überzeugt reale Reichweiten-Werte. Wir werden sehen.
Doch der eigentliche Hammer dieser chinesischen Marke sind die Power-Swap-Stations (PPS), in denen die gerade leer gefahrene Batterie eines NI0-Modells innerhalb von nur fünf Minuten vollautomatisch gegen eine zu 90 Prozent gefüllte gewechselt werden kann. Was wir in Norwegen schon vor einiger Zeit erfolgreich getestet haben. Ankommen, husch wechseln, weiterfahren. Notfalls ein paar Minuten hinter dem Vordermann warten.
Jede Menge Wechselstationen
Die erste deutsche Station ging jetzt im süddeutschen Zusmarshausen ans Netz, als Kooperationsprojekt von NIO und dem dort ansässigen großen Ladepark, der vom NIO-Partner Sortimo betrieben wird. Strategisch günstig direkt an der vielbefahrenen A8 zwischen Ulm und Augsburg. Im kompakten Format einer Doppelgarage, ausgelegt für 100 Wechsel pro Tag bei Öffnungszeiten zwischen 7 und 22 Uhr. In einem 24-Stunden-Betrieb wären so summa summarum bis zu 288 Wechsel pro Tag möglich.
Selbstverständlich, so schwört man bei NIO, würden die Batterien, die der Durchreisende da bekomme, vor dem Einbau sorgfältig geprüft, damit der nicht aus Versehen ein zu altes Exemplar erhalte. Außerdem gäbe es hier, so Ralph Kranz, die Möglichkeit, bei Bedarf jederzeit auf die anderen angebotenen Batterien (die alle ein Einheitsgehäuse haben) zu wechseln und so die Reichweite des Autos für eine lange Urlaubsfahrt zu erhöhen oder für den anschließenden heimischen Stadtverkehr wieder zu verringern. Und damit beim Wechselprozedere niemand verunsichert sei, stünden in diesen Stationen anfangs noch geschulte Betreuer zur Unterstützung überforderter User bereit.
Wo denn bitte hierzulande die nächsten Wechselstationen stehen werden, wollen wir wissen. Gern reden die NIO-Manager bei dieser Gelegenheit erst einmal darüber, dass es in China bereits 1158 PPS-Stationen gäbe, die schon über über 12 Millionen Batteriewechsel anstandslos absolviert hätten. Bis 2025 soll es dort sogar 3000 Wechsler geben. Weitere 1000 außerhalb des Heimatmarktes, hauptsächlich in Europa. Und von den 100 Stationen, die schon im nächsten Jahr in europäischen Ländern arbeiten sollen, könnte ein Großteil in Deutschland installiert werden, lässt Kranz durchblicken. Praktischerweise sind dann an vielen dieser Stationen auch gleich bis zu vier DC-Schnellader von NIO zu finden.
Batteriehotel in Zusmarshausen
Bis jetzt gibt es hierzulande die gerade genannte PSS an der A8 in Zusmarshausen, dazu eine in Hilden unweit von Düsseldorf und die von uns besuchte Berliner Station im Spandauer Zitadellenweg 66, die gerade final getestet wird. Die nächsten Großstädte seien längst avisiert, vernehmen wir, grundsätzlich ginge es auch um Stationen entlang der deutschen Hauptreiserouten an den großen Autobahnen. In Berlin selbst sei sowieso noch einiges mehr geplant. Interessante Sache: Gebaut werden die europäischen Wechsler am ungarischen NIO-Standort Biatorbagy. Der soll künftig gleichzeitig als europäisches Service-, Forschungs- und Entwicklungszentrum fungieren.
Kurz zum Wechsel selbst, den wir in Berlin-Spandau life miterleben. Das Auto parkt in diesen Kasten selbstständig ein, der Fahrer gibt sein Okay und kann für ein kurzes Nickerchen, eine Stulle oder ein Tik Tok-Video entspannt sitzen bleiben. Das Auto wird automatisch angehoben, fix zehn Schrauben gelöst, und während die leere Batterie nach rechts verschwindet, schiebt sich von links aus dem „Batterie-Hotel“ das geladene Exemplar unters Auto. Rausfahren darf man selbst,
In Berlin haben wir für den Wechsel vier Minuten und 52 Sekunden gestoppt. Und bei NIO legt man großen Wert auf die Feststellung, dass die hier angenommenen leeren Batterien in diesen Stationen stets schonend mit 40 bis maximal 80 kW und nur bis zu einem Ladezustand von 90 Prozent gefüllt werden. Was alles per se gut für ihre Lebensdauer ist. Zudem erfahren wir, dass nach der aktuellen 2.0-Station bereits die 3.0-Hightech-Version in Sicht sei. Die könne dann bis zu 21 Batterien vorhalten und um bis zu 90 Sekunden schneller wechseln.
Aber schauen wir uns doch jetzt hier einmal den NIO ET 7 genauer an.