Die Leistungs-Protzerei der Elektromobile kennt kaum mehr Grenzen. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein Hersteller neue Rekordzeiten auf der Nordschleife des Nürburgrings mit einem Stromer meldet. Leistungen jenseits der 735 kW oder 1.000 PS gehören mittlerweile zum guten Ton. Sei es beim Porsche Taycan Turbo GT, dem Tesla Model S Plaid, dem Lucid Air Sapphire oder unlängst dem Xiaomi SU7 Ultra.
Nur bei Mercedes-AMG war es verdächtig still, sobald es um einen hyper-potenten Elektrosportler ging. Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Mit dem Concept AMG GT XX kündigt die Sternen-Tuningschmiede eine viertürige Power-Limousine an, die die Hackordnung wieder geraderücken und den Mobil-Usurpatoren mit mehr als 1.000 kW Leistung zeigen soll, wer Herr im Stromer-Haus ist.

Das „MBUX Light Panel“ im Heck des Boliden besteht aus über 700 einzeln ansteuerbaren LEDs, die mit der Umwelt kommunizieren. Schon jetzt steht fest, dass dieses Konzept in Serie gehen wird.
Der Affalterbacher Elektro-Konter läutet auch beim Design eine neue Ära ein. Die Formensprache des viertürigen Sportwagens ist optisch deutlich weniger laut, als das bisher oftmals der Fall war. Italienische Grandezza garniert mit einer großen Portion schwäbischem Technik-Know-how. Schließlich basiert die Studie auf der neuen AMG Electric Architecture (AMG.EA). Dass die Farbe des Konzeptfahrzeugs an das Papaya-Orange der McLaren-Formel-1-Boliden erinnert, nehmen wir mit einem Augenzwinkern zur Kenntnis. Wichtiger ist der Luftwiderstand. Bei 300 km/h müssen rund 83 Prozent der Antriebsenergie aufgewendet werden, um den Luftwiderstand zu überwinden.
LED-Lightpanel am Heck serienreif
Die Aerodynamik des Elektrosportlers ist innovativ. Ein kleines, aber feines Detail sind die beweglichen Radabdeckungen, die sich parallel zum Rad nach außen bewegen, wenn die Bremsen gekühlt werden und sich an die Felge pressen, sobald der Luftwiderstand gering sein muss. Die Energie für dieses Manöver liefern zwei AA-Akkus in den Radnaben. Das „MBUX Light Panel“ im Heck des Boliden besteht aus über 700 einzeln ansteuerbaren LEDs, die mit der Umwelt kommunizieren. Schon jetzt steht fest, dass dieses Konzept in Serie gehen wird.

Acht LEDs auf der Lenkradsäule zeigen nicht die Drehzahlen beziehungsweise Schaltpunkte an, sondern mit verschiedenen Farbcodes den Ladezustand (blau), die Rekuperation und die aktuelle Leistung des Boliden (rot). Fotos: Mercedes-AMG
Das Interieur ist puristisch gestaltet. Sowohl das 10,25 Zoll große Kombiinstrument als auch der 14 Zoll große Touchscreen sind zum Fahrer geneigt und das fast rechteckige Lenkrad erinnert stark an das des AMG OneHypercars. Mit den beiden Schaltwippen definiert der Fahrer die Rekuperation und acht LEDs auf der Lenkradsäule zeigen nicht die Drehzahlen beziehungsweise Schaltpunkte an, sondern mit verschiedenen Farbcodes den Ladezustand (blau), die Rekuperation und die aktuelle Leistung des Boliden (rot). Die Sitzschalen sind aus Carbon und die Bezüge bestehen aus wiederverwertbaren Stoffen. Ein Beispiel ist das sogenannte „Labfiber“, eine biotechnologische Lederalternative, die auf recycelten GT3-Rennreifen basiert.
Drei E-Maschinen für 350 km/h Topspeed
Beim Antrieb beschreiten die Techniker neue Welten. „Wir müssen die Emotionalität in das elektrische Zeitalter retten“, sagt Jörg Miska, CEO der Mercedes-Tochter Yasa, von der die Triebwerke stammen. Um diese Vorgabe zu erfüllen, ist für den AMG GT XX nur das Beste gut genug. Drei Axialflussmotoren katapultieren den Affalterbacher E-Dampfhammer auf eine Höchstgeschwindigkeit von mehr als 360 km/h. Das dynamische Dreieck besteht aus drei kompakten E-Maschinen: zwei an der Hinterachse und eine vorne, die nur bei Bedarf zugeschaltet wird. Diese E-Maschinen unterscheiden sich von den konventionellen Radialfluss-Motoren, dadurch, dass der Magnetfluss also entlang der Rotationsachse, verläuft, statt senkrecht zur Achse (radial).

Drei Axialflussmaschinen mit zusammen 1000 Kilowatt treiben den Sportwagen an. Der Magnetfluss verläuft hier entlang der Rotationsachse statt senkrecht zur Achse (radial), was sie sehr kompakt und leicht macht.
Die Axialflussmotoren in der AMG-Studie wiegen lediglich rund ein Drittel so viel und sind um zwei Drittel schmaler als die Radialfluss-Variante. Dennoch haben sie eine höhere Energiedichte und können bereits bei niedrigen Drehzahlen ein hohes Drehmoment erzeugen. Die bei der AMG-Studie verwendeten Triebwerke sind vorne nur 90 Millimeter und hinten nur 80 Millimeter breit. Die gesamte Electric Drive Unit (EDU) wiegt vorne nur 80 Kilogramm und hinten 140 kg. Diese Motoren sind komplex und daher teurer in der Herstellung. Auch die Kühlung stellt eine Herausforderung dar. Die Yasa-Techniker lösen dieses Problem mit einer direkten Ölkühlung des Stators. So können die Triebwerke konstant die volle Leistung abrufen, wenn es zur Sache geht.
Akkus aus der Formel 1
Der Aufwand ist nicht umsonst. „Beim Concept AMG GT XX werden wir den Axialfluss-Motor-Antrieb und die Batterietechnologie in die Serie übertragen“, bestätigt Mercedes-Entwicklungsvorstand Markus Schäfer. Damit diese Hochleistungsmotoren auch ihre volle Leistung entfalten können, muss die Batterie mithalten können. Deshalb haben sich die AMG-Spezialisten bei den Kollegen des Formel-1-Teams im englischen Brixworthschlau gemacht. Das ergibt Sinn, da die Akkus des elektrischen Hypercars ähnliche Anforderungen erfüllen müssen wie die der Boliden in der Königsklasse des Motorsports. Nämlich die volle Leistung mehrmals hintereinander bereitzustellen.
Um dies zu erreichen, kommen beim Concept AMG GT XX selbst entwickelte zylindrische Zellen mit einer Energiedichte von 300 Wh/kg zum Einsatz, die hoch und schmal sind. Diese Bauform hilft bei der Kühlung, da die Distanz vom Zellkern zur Kühlflüssigkeit gering und daher die Wirkung unmittelbar ist. Die Performance einer Batterie bezieht sich aber nicht nur auf ihre Robustheit bei Vollgas-Etappen. Beim Laden zeigt Mercedes, dass Wunderwerte nahe am Megawattladen nicht nur aus China kommen. Die Akkus des GT XX können über einen längeren Zeitraum mit 850 kW bei 1.000 Ampere laden. „In der Spitze sind es sogar mehr“, betont Mercedes und verweist auf die Tatsache, dass in rund fünf Minuten die Energie für etwa 400 Kilometer Reichweite in die Energiespeicher fließen.
Das entspricht ungefähr der Fahrtstrecke von Affalterbach nach Spa-Francorchamps. Wir würden sicher einen Stopp an der Nordschleife des Nürburgrings einlegen. Damit auch das Laden zum Premium-Erlebnis wird, hat sich Mercedes mit den Schnelllade-Spezialisten von Alpitronic zusammengetan und eine Ladesäule entwickelt, die als erste Stromtankstelle solche Ströme über ein CCS-Kabel überträgt. Damit lädt man fast so schnell, wie man heute Benzin tankt.