Das Ehepaar aus Saarlouis war beim Verlassen des Supermarkts doch einigermaßen überrascht. Nicht so sehr über die Tatsache, dass am Schnelllader der Stadtwerke neben ihrem schneeweißen Mercedes EQC inzwischen auch ein weißer Kia Strom schlürfte. Eher über die Tatsache, dass der Fahrer des anderen Elektroautos den Ladevorgang schon wieder beendete. „Viel geladen haben können Sie ja nicht“, meinte der Mercedes-Besitzer schmunzelnd, als er den Inhalt seines Einkaufswagens in den Kofferraum des EQC leert – um dann ein langes Gesicht zu ziehen, als er hört, dass dem Kia zehn Minuten gereicht haben, um seinen 77,4 Kilowattstunden (kWh) großen Akku von 35 auf 80 Prozent zu füllen.

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Technische Daten Kia EV 6 (77,4 kWh-Akku)

Motorleistung (Heckantrieb): 168 kW (229 PS);
Maximales Drehmoment: 350 Nm;
Akkukapazität: 77,4 kWh;
Maximale Ladeleistung: 240 kW;
Stromverbrauch (WLTP): 16,5 kWh/100km (m. 19“ Rädern)
Reichweite (WLTP-Norm): 528 km (m. 19“ Rädern)
Höchstgeschwindigkeit: 185 km/h
Leergewicht: 1985 kg, Zuladung
Basispreis (inkl. Mehrwertsteuer): 48.990 Euro

Knapp 35 kWh sind in der Zeit aus der Säule in den Akku geflossen – Energie für rund 200 Kilometer nach dem offiziellen Normverbrauch. Bei unserem eher forschen Fahrstil, der zusammen mit den Außentemperaturen um die 10 Grad Celsius zu einem Durchschnittsverbrauch von 21,7 kWh/100 km führte, würde die geladene Energiemenge zwar nur für weitere 160 Kilo reichen. Aber auch der Wert reicht schon, um den Mercedes-Fahrer sichtbar ins Grübeln zu bringen. Als wir ihm dann auch noch den Preis des Kia nennen – rund 53.000 Euro mit Allradantrieb – hat er es plötzlich ganz eilig, weiter zu kommen: Sein EQC dürfte laut Augenschein wenigstens 20.000 Euro mehr gekostet haben.

Die Natur als Vorbild
Im Unterschied zum Hyundai Ioniq 5 ist das Design des Kia EV6 stärker von der Aerodynamik geformt. Das Ergebnis ist ein Elektroauto, das mehr Sportlimousine ist als ein Crossover aus SUV und Van. Foto: Kia
Die Natur als Vorbild
Im Unterschied zum Hyundai Ioniq 5 ist das Design des Kia EV6 stärker von der Aerodynamik geformt. Das Ergebnis ist ein Elektroauto, das mehr Sportlimousine ist als ein Crossover aus SUV und Van. Foto: Kia

Ja, der neue vollelektrische Kia EV6 hat das Zeug, die klassische Markenhierarchie auf dem deutschen Automarkt nicht nur ins Wanken, sondern hier und da auch zum Einsturz zu bringen. Mit seiner 800-Volt-Architektur und seiner maximalen Ladeleistung von 240 kW rangiert der Kia in einer Klasse mit dem Porsche Tayxan und dem Audi e-tron GT – der Mercedes EQC sieht da mit seinen maximal 110 kW am Schnelllader ganz alt aus. Selbst das Schwestermodell von Hyundai, der nagelneue Ioniq 5, kommt da nicht mit: Dessen maximale Ladeleistung ist trotz identischer Architektur auf 220 kW limitiert.

Akku des EV6 ist größer als im Ioniq 5

Kia ist in der südkoreanischen Hyundai-Kia Motors Coporation die sportlichere Marke. Und so kommt der EV6 nicht nur in den Genuss einer höheren Ladengeschwindigkeit, sondern in der gehobenen Ausstattung auch einen 5 kWh größeren Akku als der Ioniq 5. Nur bei der Höchstgeschwindigkeit (185 km/h, übrigens 5 km/h mehr als der EQC) ziehen die beiden Koreaner gleich.

Am weitesten auseinander liegen die beiden Schwestermodelle im Design. Während der Ioniq 5 Erinnerungen weckt an die Linien der ersten VW Golf-Generation von 1974 und mit seinen Ecken und Kanten eher den Nutzwert betont, orientiert sich die Designsprache des EV6 eher an den Gestaltungsprinzipien der Natur – alles scheint hier zu fließen, um dem Fahrtwind möglichst wenig Widerstand zu bieten. Der 4,68 Meter lange EV6 ist hier näher am zehn Zentimeter kürzeren ID.4 von Volkswagen – und trotzdem ein ganz anderer Typ, eher Sportlimousine als Crossover aus Van und SUV.

Wie, schon fertig? 
Wenige Minuten an einer Schnellladesäule reichen dem Kia EV6, um 200 Kilometer Reichweite zu gewinnen. Mancher Wettbewerber aus der Luxusklasse hat da das Nachsehen - die 800 Volt-Architektur macht den Unterschied.
Wie, schon fertig?
Wenige Minuten an einer Schnellladesäule reichen dem Kia EV6, um 200 Kilometer Reichweite zu gewinnen. Mancher Wettbewerber aus der Luxusklasse hat da das Nachsehen – die 800 Volt-Architektur macht den Unterschied.

Das breite Heck mit der markanten LED-Lichtlinie, dem großen Dachspoiler und der scharfen Abrisskante darunter ist ohne Zweifel die Schokoladenseite des EV 6 – und eine echte Kampfansage: So schnell, lautet die Botschaft, kommst Du hier nicht vorbei. Trotzdem: Ein Heckscheibenwischer wäre für den Alltagsbetrieb ganz gut gewesen. So aber muss bei Regen allein der Fahrtwind die Tropfen wegfegen.

Über 500 Kilometer Reichweite – im Idealfall

Und der Antritt ist ganz ordentlich, wie wir auf unserer über 250 Kilometer langen Testfahrt feststellten. Ein Schleudertrauma wie im Taycan muss man zwar beim Beschleunigen des EV6 in der heckgetriebenen Variante mit großem Akku und 168 kW (229 PS) Antriebsleistung nicht befürchten – dafür ist die 430 kW (585 PS) starke und allradgetriebene GT-Version vorgesehen, die im kommenden Herbst zu einem Preis von 65.000 Euro nachgeschoben wird. Aber auch der Hecktriebler weiß beim Ampelstart zu beeindrucken: Tempo 100 ist schon nach gut sieben Sekunden erreicht, bis Tempo 50 ist es gefühlt nur ein Wimpernschlag.

Wer es aber eher darauf anlegt, mit der aufgenommenen Energiemenge die vom Hersteller versprochenen 507 Kilometer Reichweite zu erzielen, sollte derlei Beschleunigungsorgien nicht allzu häufig feiern – der Stromverbrauch schießt dann leicht in Richtung 25 kWh. Bei moderater, vorausschauender wie umweltschonender Fahrweise sollten Verbräuche um die 18 kWh/100 km erreichbar sein. Nach allem, was man bisher vom Schwestermodell gehört hat, schneidet der windschnittige EV6 in der Disziplin offenbar einen Ticken besser ab als der Ioniq 5.

Jede Menge Taster und Schalter 
Um alle Funktionalitäten kennenzulernen und auszuprobieren, wird der Fahrer des Kia EV6 eine Weile brauchen. Zumal sich auch hier einige Extras in den Untermenüs verstecken. Die Fahrstufen steuert ein großer Drehknopf in der Mittelkonsole. Foto: Kia
Jede Menge Taster und Schalter
Um alle Funktionalitäten kennenzulernen und auszuprobieren, wird der Fahrer des Kia EV6 eine Weile brauchen. Zumal sich auch hier einige Extras in den Untermenüs verstecken. Die Fahrstufen steuert ein großer Drehknopf in der Mittelkonsole. Foto: Kia

Die Straßenlage des EV6 ist gut, allerdings sportlicher und härter als im Ioniq 5. Der Wagen reagiert schnell und sensibel auf Lenkradbewegungen und bleibt auch bei schnellen Lenkbewegungen bei hoher Geschwindigkeit kreuzbrav. Aber wer mag, kann die Fahrerei auf der Autobahn auch streckenweise den Assistenten überlassen, die an Bord sind. Der Abstand zum Vordermann, die Position des Fahrzeugs zwischen den Fahrbahnmarkierungen, die korrekte, gesetzlich vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit – alles wird zuverlässig eingehalten. Anhand der Verkehrszeichen und der im Navi gespeicherten Straßeninformationen weiß der Bordcomputer sogar, wann es Zeit ist, das Tempo zu reduzieren.

Besonders pfiffig ist der virtuelle Außenspiegel, der im Fahrerdisplay aufscheint, wenn der Blinker gesetzt wird: Radfahrer oder Fußgänger im Toten Winkel übersieht damit keiner mehr. Und das Schöne daran: Viele der Assistenzsysteme – adaptiver Tempomat, Berganfahrhilfe, Frontkollisionswarner, Spurhaltesystem, Rückfahrkamera und Parkpiepser – sind beim KIA serienmäßig an Bord oder für vergleichsweise kleine Summen in Ausstattungspaketen erhältlich. Schon bald wird es sogar möglich sein, den EV6 per Schlüssel ferngesteuert in Parklücken zu dirigieren – das Feature ist bei anderen Herstellern bislang Fahrzeugen der Luxusklasse vorbehalten.

Bis zu 1600 Kilogramm Anhängelast

Das mit 2700 Euro teuerste, so genannte „Air“-Paket enthält jenen aktiven Totwinkelassistenten, vor allem aber ein spezielles Extra, das bislang wenige Autohersteller bieten: Einen V2L-Adapter. Damit lässt sich der im Akku gespeicherte Strom dazu nutzen, um über die Typ-2-Ladebuchse hinten rechts externe Geräte zu betreiben. Einen Staubsauger, eine Kaffeemaschine, einen Thermomix oder einen Fön. Was vor für all jene interessant sein könnte, die den EV6 als Zugmaschine für ihren Wohnwagen nutzen wollen. Bis zu 1600 Kilogramm immerhin kann das Elektroauto an den Haken nehmen, sofern das über den großen Akku verfügt. Bei der Version mit dem 58 KWh großen Akku sind es nur 750 Kilogramm. Theoretisch wäre es sogar möglich, über den Adapter ein anderes Elektroauto zu beladen – für den einen oder anderen Kilometer bis zur nächsten ordentlichen Ladesäule. Bei einer maximalen Ladeleistung von 3,6 kW über den Haushaltsstecker braucht es dafür aber viel Zeit und Geduld – und wenigstens noch 15 Prozent SoC (State of Charge bzw. Ladestand) im Spenderfahrzeug.

Die Konkurrenz lauert schon 
Im Hyundai Ioniq 5 (links) und VW ID.4 hat der Kia EV6 zwei starke Wettbewerber. Die Ladeleistung des Schwestermodells von Hyundai ist geringfähig niedriger, die des Volkswagen derzeit nur halb so hoch - hier müssen die Wolfsburger nachbessern.
Die Konkurrenz lauert schon
Im Hyundai Ioniq 5 (links) und VW ID.4 hat der Kia EV6 zwei starke Wettbewerber. Die Ladeleistung des Schwestermodells von Hyundai ist geringfähig niedriger, die des Volkswagen derzeit nur halb so hoch – hier müssen die Wolfsburger nachbessern.

Der EV6 glänzt außer mit der hohen Ladeleistung und dem großzügigen Raumangebot mit vielen netten Ausstattungsdetails wie einer serienmäßigen Sitz- und Lenkradheizung. Warum sich Kia da die Wärmepumpe – die gerade in der kalten Jahreszeit den Energiebedarf für die Aufheizung des Innenraums deutlich reduziert – mit 1000 Euro extra bezahlen lässt, ist nicht nachvollziehbar. Und wo wir gerade ein paar kritische Töne anschlagen: Der Navigationsrechner könnte etwas flotter sein und eine etwas detailreichere Darstellung bieten. Da sind andere Hersteller – und auch der Mercedes EQS – deutlich besser und hochwertiger.

Dass auch die Koreaner sparen mussten, merkt man auch im Innen- und Kofferraum, wo reichlich Hartplastik auf die Fingernägel wartet. Und 111 PET-Flaschen, die in geschredderter Form bei der Auskleidung des Innenraums zum Einsatz kamen, mögen zwar das Umweltgewissen der Generation Z (geboren zwischen 1997 und 2001) und alle Veganer beruhigen. Doch gegen das Wohlfühlambiente einer mit feinen Kuhhäuten ausgeschlagenen Kabine kommt diese Form einer intelligenten Müllverwertung nicht an. Mit einem Wort: Die veganen Bezüge in „Lederoptik“ wirken nicht besonders hochwertig. Aber das mag auch Geschmackssache sein und sollte kein Ausschlusskriterium sein. Gegen Aufpreis gibt es auch eine wesentlich gefälligere Wildleder-„Optik“.

Voller Umweltbonus für alle Varianten

Insgesamt aber ist der neue Kia EV6 aber ein rundes, hochinteressantes Angebot für all jene, die sich derzeit Gedanken über die Anschaffung eines Elektroautos machen. Zumal die Marketingstrategen bei der Preisgestaltung den Bürokraten ein Schnippchen geschlagen haben, das sich überaus positiv auf den Fahrzeug-Endpreis niederschlägt: Egal, welche Antriebsleistung, Akkugröße und Ausstattungsvariante der Käufer wählt – der Brutto-Listenpreis beträgt immer 37.806 Euro und 72 Cent und liegt damit unter der Schwelle von 40.000 Euro, die der Gesetzgeber für die Auszahlung der vollen Umweltprämie von 9000 Euro gesetzt hat. Wie sagte Thomas Djuren, der Geschäftsführer von Kia Deutschland: „Wir haben uns ein paar Kniffe einfallen lassen.“

Dem Absatz des Kia EV6 dürfte es nicht abträglich sein. 1000 Vorbestellungen für das Elektroauto liegen in Deutschland bereits vor, ab dem offiziellen Verkaufsstart am 23. Oktober dürften nach unserer Prognose rasch einige Tausend Orders hinzukommen. Zu den Lieferzeiten mochte Djuren keine Angaben machen – bei der Schwestermarke Hyundai müssen sich Besteller eines Ioniq 5 bis zur Auslieferung ihres Fahrzeugs inzwischen schon bis Juni kommenden Jahres gedulden: Auch die koreanischen Autobauer sind vorm Chip-Notstand nicht gefeit.

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