Die Reifen waren schon ein wenig abgewetzt, als der Testwagen auf den Hof rollte. Kollegen, die das Fahrzeug zuvor in den Händen hatten, konnten offenbar der Versuchung nicht widerstehen – den Kia EV6 GT per Launch Control in eine niedrige Erdumlaufbahn zu schießen. Vielleicht hatten sie auch auf einer abgesperrten Fläche Driftversuche unternommen. Was man halt so macht, wenn das Testosteron in den Adern mit den Elektronen in den Leiterbahnen eines hochpotenten Elektroautos korrespondieren.
Wir haben uns natürlich gezügelt – auch wenn die Verlockung bei der Sportversion des allradgetriebenen Familienautos zugegebenermaßen groß war. Schon die Lackierung der Karosserie in „Yachtblau Matt“ und die neongelben Bremssättel und die gleichfarbige GT-Taste am Lenkrad brachten das Blut und die Hormone schon ein wenig in Wallung. Es fehlten eigentlich nur noch die weißen Dekorstreifen im Racing-Design, die Kia im Zubehörhandel anbietet – und die Pferde wären wohl auch mit uns durchgegangen. Die Finger zuckten schon nach dem Integralhelm. Doch das Internet meldete: Touristenfahrten auf dem Nürburgring sind in dieser Woche nicht mehr möglich. Den Ausflug auf die Rennstrecke haben wir dann abgeblasen. Auch mit Rücksicht auf die Reifen und die Verkehrssicherheit: Straßenrennen haben im öffentlichen Verkehr nichts verloren und werden mit Recht von der Polizei geahndet.

Der Radstand von 2,90 Metern sorgt nicht nur für ein großzügiges Raumgefühl im EV6, sondern auch für eine gute Straßenlage.
Elektroautos sind fade und emotionslos? Wer solches behauptet, hat noch nie in einem Elektroauto gesessen. Schon gar nicht in einem vom Kaliber des Kia EV6 GT, den die Koreaner kürzlich als Topmodell der Baureihe auf den Markt gebracht haben. Mit einem bis zu 478 kW oder 650 PS starken Allradantrieb und einer Batterie, die inzwischen 86 kWh Strom speichern kann. Und bei dem die Wippen hinter dem Lenkrad nicht nur die Rekuperation steuern, sondern auch einen Driftmodus in Kombination mit maximaler Ausgangsleistung aktivieren. Natürlich nur, wenn, wie es in der 652 Seiten (!) starken Bedienungsanleitung heißt, wenn die Straße „breit und eben“ ist und sich „keine Fußgänger, Fahrzeuge oder Hindernisse“ in der Nähe befinden.
Auf Wunsch und Knopfdruck lässt sich sogar ein (virtueller) Gangwechsel und (synthetisch) der Sound eines Verbrenner simulieren. So der hoffentlich verantwortungsvolle Fahrer dies braucht, um in der Stadt oder auf der Landstraße das Tempo einschätzen zu können. Immerhin beträgt die Höchstgeschwindigkeit 260 km/h. Und in nur 3,5 Sekunden ist der Zweitonner auf Tempo 100 beschleunigt. Das ist wahrlich ein sportlicher Wert: Ein Porsche 911 Carrera braucht für den gleichen Sprint sogar sechs Zehntel mehr.
Stromvorrat reicht nur für knapp 400 Kilometer
Aber das Schöne am Kia ist: Im Unterschied Hyundai Ioniq5 N, der auf der gleichen Plattform wie der Kia aufbaut, trägt der EV6 GT seine Sportlichkeit nicht so dick auf. Ganz ohne Spoilerwerk kommt auch er nicht aus. Aber das ist eher von der dezenten Sorte. In anderer Lackierung würde er im Straßenverkehr wahrscheinlich niemandem auffallen. Der „Wolf“ trägt nicht unbedingt ein Schafskleid, da würden wir den Kia-Designern Unrecht tun. Aber er liebt es, die anderen Verkehrsteilnehmer beim Ampelstart zu überraschen – statt ihnen schon im Rückspiegel den Schweiß auf die Stirn zu treiben.

Im Innenraum des Kia EV6 gehen Tradition und Moderne eine feine Allianz ein. Head-up- und 12,3 Zoll großes Panorama-Display liefern dem Fahrer alle Informationen, die er benötigt. Und über die Schalterleiste über die Mittelkonsole lassen sich wahlweise Klimaanlage und Infotainmentsystem steuern – mit ein wenig Übung auch, ohne die Augen von der Fahrbahn zu nehmen.
Als echter Gran Turismo ist der Kia EV6 auch eher auf der Langstrecke daheim als auf einem Rundkurs. Die Reichweite der GT-Version gibt Kia in der Werbung mit 450 Kilometern an – bei einem Durchschnittsverbrauch von 20,9 kWh auf 100 Kilometern Fahrstrecke. Um auf solche Werte zu kommen, muss man wohl einen großen Bogen um die Autobahn machen und den Fahrmodi-Schalter auf „Eco“ fixieren. Wir kamen trotz zurückhaltender Fahrweise im Mix aus „Normal“ und „Sport“ auf einen Schnitt von 22,7 kWh – und mussten auf Überlandtouren spätestens nach 350 Kilometern eine Ladesäule ansteuern.
Hohes Tempo auch an der Ladesäule
Wo die Ladepausen dann erfreulich kurz ausfielen. Dank der 800-Volt-Plattform und einer maximalen Ladeleistung 258 kW – die bei unseren Ladevorgängen leider nur sehr kurz anlag und dann bis zu einem Füllstand von 80 Prozent in mehreren Stufen deutlich abfiel – dauern die Boxenstopps am High-Power-Charger selten länger als eine Viertelstunde. Auch weil sich der Akku inzwischen per Knopfdruck auf dem Weg zur Ladestation vorkonditionieren lässt. Mit dem Ergebnis, dass die Pause gerade so ausreicht, um an der Raststätte den Sanitärbereich aufzusuchen und auf dem Smartphone schnell das Postfach zu checken. Auch das nennt man im besten Sinn sportlich.

Die giftgrüne GT-Taste und die beeindruckende Spitzenleistung verlocken zu einem Ausflug auf die Rennstrecke. Im öffentlichen Straßenverkehr macht die Power allerdings wenig Sinn – der Integralhelm kann zuhause bleiben. Fotos: Rother
Auch das neu abgestimmte Fahrwerk des Kia EV6 ist in der GT-Ausführung durchaus sportlich. Ohne allerdings hart zu sein: Querfugen in der Fahrbahn teilen sich den Insassen durchaus mit. Aber nach 400 Kilometern hat man nicht das Gefühl, eine Massage buchen oder gar bald einen Chiropraktiker aufsuchen zu müssen. Was auch an dem hervorragenden Gestühl liegt: Die Sportsitze einen hohen Sitzkomfort, erstklassigen Seitenhalt – und bei Bedarf auch einen Massageservice.
GT mal ganz entspannt
Auch sonst bietet der Kia EV6 GT auf Reisen einen hohen Aufenthaltswert – für alle vier Insassen. Die Geräuschdämmung ist gut, die teilweise mit Kunstfasern überzogenen Oberflächen schmeicheln dem Auge des Betrachters. Und das Bedienkonzept ist eingängig und folgt einer einfachen Logik – wie schon in den zahmen Versionen des EV6. Für viele Funktionen – wie die Steuerung der Klimaanlage oder des Infotainmentsystems – gibt es eine Schalterleiste unter dem zum Fahrer geneigten Panorama-Display oder an anderen Stellen rund um das Lenkrad. Das Studium der Bedienungsanleitung lohnt sich trotzdem, um die vielen Möglichkeiten zur Feinabstimmung des Autos auf die Vorlieben und sportlichen Ambitionen des Fahrers – auf der Rundstrecke oder einer Driftfläche – kennenzulernen.

Der Kofferraum des Kia EV6 – ob GT oder nicht – ist dank der großen Heckklappe leicht zu beladen und bietet für das Reisegepäck von vier Personen ordentlich Platz. Vorne gibt es zusätzlich einen Frunk, der 20 Liter fast – für den V2L-Adapter und das Ladekabel.
Kritik heimste nur die Lenkung des Testwagens ein. Sie arbeitet auf der Strecke und bei höheren Geschwindigkeiten schön akkurat und direkt. Bei Fahrten im Schritttempo und beim Einlenken wirkte sie jedoch etwas sperrig. Möglicherweise lag das aber auch an den Reifen. Und auch die Ladeplanung sowie die grafische Darstellung auf dem Navigations-Bildschirm überzeugte uns nicht recht. Erstere litt wohl unter Reichweitenangst – sie wollte uns immer zu früh zu einer Ladestation lotsen. Und Letztere wirkt etwas grobschnitzig und altbacken – da bieten Wettbewerber inzwischen eine feinere Auflösung und eine detailreichere Darstellung.
Preis von unter 70.000 Euro
Zugute halten muss man dem Kia, dass er im Vergleich zu ähnlich leistungsstarken Wettbewerbern wesentlich günstiger daher kommt: Mit einem Preis von 69.990 Euro kostet er beispielsweise etwa 40 Prozent weniger als ein ähnlich starker (442 kW) und ähnlich gut ausgestatteter BMW i5 M60 XDrive – der seinen 81 kWh großen Akku mit maximal 205 kW lädt und schon bei 230 km/h abgeregelt wird. Aber wer knausern muss: Für 8000 Euro weniger gibt es den EV6 auch in einer GT-Version, ebenfalls mit Allradantrieb, aber mit einer um 200 Kilowatt geringeren Antriebsleistung. Spaß kann man auch damit haben: Rennfieber ist nicht unbedingt eine gute Voraussetzung, um sicher, ausgeruht und sozialverträglich ans Ziel zu kommen. Und den Reifen tut es auch nicht gut.