Beinahe wäre es schief gegangen mit dem Geburtstagsgeschenk an sich selbst. Zum Fünzigsten, so hatte man vor ein paar Jahren bei AMG in Affalterbach überlegt, könnte man 2017 doch endlich mal ein Hypercar auf die Reifen stellen und damit zu all den legendären Sportwagenschmieden wie Aston Martin, McLaren, Porsche, Koenigsegg, Bugatti, Pagani, Maserati, Ferrari & Co. aufschließen. Praktisch, wenn man da ein erfolgreiches Formel 1-Team hat. Dann könnte man doch einfach den Antriebsstrang eines F1-Renners als Basis nehmen und einen Supersportler darum herum schneidern. Immerhin: Pünktlich 2017 konnte der damalige Konzernchef Dieter Zetsche den Mercedes-AMG One als Projektfahrzeug auf der IAA präsentieren. Ausgeliefert werden sollte er ab 2019 an 275 ausgewählte Käufer.
Ingenieure an die Grenzen gebracht
Daraus wurde nichts. Erst seit dem 1. Juni 2022 erfüllt der F1-Bolide alle Voraussetzungen, um auf die Straße zu dürfen. Der One „hat uns zweifellos an unsere Grenzen gebracht,“ resümiert AMG-Chef Philipp Schiemer: „Dieses Projekt war Fluch und Segen zugleich.“ Man habe schlicht den Aufwand unterschätzt, um den Antriebsstrang eines Formel 1-Rennwagens alltagstauglich zu machen.
Ein Hauptproblem dabei war, seine Emissionen auf Euro-6-Niveau zu bekommen – bei F1-Motoren steht nicht unbedingt die Abgasoptimierung im Vordergrund. Genauso wenig wie sie auf die Anforderungen des alltäglichen Straßen- oder Stadtverkehrs eingestellt sind – anders als Lewis Hamilton mit seinem Dienstwagen sollen One-Käufer auch auf einem Aldi-Parkplatz problemlos einparken können. Und Renn-Benzin gibt es auch nicht an jeder Tanke – der AMG One musste also auf Superplus umgewöhnt werden. Und schließlich: An der Rennstrecke wuseln ständig fast zwei Dutzend Ingenieure und Techniker um den Wagen herum. Beim One muss deren ganze Arbeit eine Software übernehmen.
Hybridantrieb aus der Formel 1
Der Hybridantrieb des straßenzugelassenen Mercedes-AMG One stammt nun direkt aus der Formel 1. Der 1,6-Liter-V6-Hybrid-Benzinmotor entspricht in seiner Technologie dem aktuellen Renn-Triebwerk, heißt es. Dazu kommen insgesamt vier Elektromotoren: Einer ist integriert in den Turbolader, einer befindet sich direkt am Verbrennungsmotor und ist mit der Kurbelwelle verbunden, zwei treiben die Vorderräder an. Das Triebwerk ist als Mittelmotor vor der Hinterachse eingebaut und dreht bis zu 11.000 U/min – einer längeren Haltbarkeit und dem handelsüblichen Superplus geschuldet etwas langsamer als der F1-Motor.
Um so schneller dreht der Turbolader, der über einen 90 kW starken Elektromotor auf bis zu 100.000 (!) U/min beschleunigen wird. Ein weiterer Vorzug des elektrischen Turboladers neben dem schnellen Ansprechverhalten: Er nutzt einen Teil der überschüssigen Energie aus dem Abgasstrom, um als Generator Strom zu erzeugen. Dieser wird dann entweder im Lithium-Ionen-Akku gespeichert oder zum Elektromotor an der Vorderachse geschickt. Die Abgasreinigung ist ähnlich aufwändig: Sie braucht vier vorgeheizte Metall-Katalysatoren, zwei Keramik-Katalysatoren und zwei Ottopartikelfilter. Im Ergebnis werden – „unter realen Fahrbedingungen“ – die EU6-Abgaswerte eingehalten. Beim TÜV sollte es also keine Probleme mit dem Sportwagen geben.
1063 PS Systemleistung
Die Fahr- und Leistungswerte, die sich ergeben, sind nicht weniger imposant. Die Systemleistung addiert sich auf 782 kW oder1.063 PS. Dabei entfallen auf den Verbrennungsmotor selbst 422 kW (574 PS) bei 9.000 U/min. Die beiden Elektromotoren für die Vorderräder liefern zusammen 240 kW (326 PS), der Elektromotor an der Kurbelwelle leistet 120 kW (163 PS) und der E-Motor des Turboladers kommt auf 90 kW (122 PS). Die Speicherkapazität des Hochvolt-Akkus mit seinen direkt gekühlten Zellen beträgt 8,4 kWh und verschafft dem One eine rein elektrische Reichweite von lediglich 18 Kilometern. Die Höchstgeschwindigkeit liegt dafür bei 352 km/h. Und der Spurt von Null auf 100 km/h ist in 2,9 Sekunden erledigt.
Gestartet wird über einen Knopf auf der Mittelkonsole, lautlos im Elektromodus. Aufgeweckt werden zunächst die beiden E-Motoren an der Vorderachse. Gleichzeitig werden die Katalysatoren vorgeheizt. Der Verbrennungsmotor springt erst dann an, wenn die korrekte Temperatur der Kats erreicht ist. Die Kraftübertragung an die Hinterräder geschieht über ein neu entwickeltes automatisiertes 7-Gang-Getriebe. Sechs Fahrprogramme sind wählbar – vom rein elektrischen Fahren bis zum Rennstreckenmodus. Im Race-Modus sind 200 km/h nach sieben Sekunden Beschleunigung erreicht.
Motor versteckt sich hinter Karbon
Schon der Grundkörper der Karbon-Karosserie ist aerodynamisch für maximalen Abtrieb konzipiert. Bereits ab 50 km/h erzeugt der One Abtrieb. Die Frontansicht prägen eine große schwarze Frontschürze mit diversen Lufteinlässen. Durch Luftauslässe in der Fronthaube wird der warme Luftstrom um die Fahrerkabine herum geleitet. Über den Ansaugtakt auf dem Dach gelangt so ungehindert Frischluft zum Motor. Aktive Lüftungsschlitze in den vorderen Radkästen erhöhen den Anpressdruck an der Vorderachse. Die vertikale Hai-Finne auf dem Heck verhindert Queranströmung oder einen Strömungsabriss und verbessert so die Kurvenstabilität.
Der Verbrenner ist unter zwei abnehmbaren Karbon-Abdeckungen verborgen. Die Türen öffnen sich schräg nach vorne und nach oben. Hinten finden sich Tankklappe und die Ladebuchse für den Akku. Der Heckflügel besteht aus Flügelblatt und integriertem, verstellbaren Flap und ist zweiteilig ausfahrbar. Das Abgasendrohr wurde direkt von den Formel 1-Fahrzeugen übernommen. Je nach Fahrprogramm kann der One vorne automatisch um 20 und hinten um 37 mm tiefer gelegt werden, was den Anpressdruck auf Vorder- und Hinterachse ebenso verbessert wie die Aeroeffizienz. Umgekehrt funktioniert es ebenfalls: Um zum Beispiel im Parkhaus nicht aufzusetzen, lässt sich die Bodenfreiheit des One auf Knopfdruck erhöhen.
Produktion ist bereits ausverkauft
Bei allem Rennwagen-Feeling: AMGs Hypercar kann auch Komfort. Elektrische Fensterheber, USB-Anschlüsse für externe Geräte, Klimaanlage, Sichtkarbon, Nappa-Leder etc.. Platz ist für zwei Personen. Die Sitze sind fest montiert, das Lenkrad ist elektrisch, die Pedalerie in zwölf Stufen manuell auf die Körpergröße des Fahrers einstellbar. Zwei hochauflösende und freistehende 10-Zoll-Displays versorgen ihn mit Informationen. Da der direkte Blick nach hinten versperrt ist, ersetzt ein kleiner Bildschirm den Innenspiegel. In dem oben und unten abgeflachten Renn-Lenkrad integriert sind Bedien-, Funktions- und Rennwagenkomponenten. Wie bei Rennwagen üblich wird der „Schaltblitz“ oben im Lenkradkranz angezeigt.
Wer jetzt überlegt, seine Portokasse für den Mercedes-AMG One zu plündern: Zu spät. Trotz eines Stückpreises von rund 2,7 Millionen Euro sind alle 275 Stück längst verkauft. Und bei AMG glaubt man, dass die meisten davon nicht in einer Sammlergarage verschwinden, sondern von ihren Besitzern tatsächlich gefahren werden. Zu den Käufern gehören dem Vernehmen nach unter anderem Lewis Hamilton und Niko Rosberg. Der Rest muss sich bis 2025: Dann bringt Mercedes-AMG sein erstes vollelektrisches Hypercar. Nach Stand heute.