Ein Game Changer, ein Meilenstein – all das und noch viel mehr sei der neue eActros 600, so hörten wir allenthalben im Rahmen seiner Weltpremiere. Für die Präsentation des futuristisch dahinrollenden Schwerlasters mit – je nach Konfiguration – ca. 11,7 Tonnen Leergewicht und einem Radstand von 4 Metern wählten die Stuttgarter Europas modernsten Autohof in Hamburg Nordheide an der A7. Auf der neuen Anlage mit Hotel und hochmodernem Freeflow-Parksystem ist für das ultraschnelle Megawatt Charging System (MCS) schon durch entsprechend dicke Kabel im Boden vorgesorgt.

Reale 500 Kilometer bei einem Gesamtzuggewicht von 40 Tonnen (Eigengewicht und Nutzlast) bewältigt der eActros 600, unabhängig von Wetter und Topographie. Dafür haben die Ingenieure die Daten aus zigtausend simulierten Kilometern ausgewertet. Dazu kommen bislang viele tausend reale Kilometer auf unterschiedlichen Strecken mit unterschiedlichen Fahrern bei unterschiedlichsten Wetterbedingungen.

Im Windkanal geformt 
Die sichtlich optimierte Aerodynamik hat neben einer guten Batteriestruktur dazu beigetragen, die Reichweite von gut 500 Kilometern zu erreichen. Die cw-Werte des eActros sind gegenüber dem Diesel um satte neun Prozent verbessert.
Im Windkanal geformt
Die sichtlich optimierte Aerodynamik hat neben einer guten Batteriestruktur dazu beigetragen, die Reichweite von gut 500 Kilometern zu erreichen. Die cw-Werte des eActros sind gegenüber dem Diesel um satte neun Prozent verbessert.

Jetzt sind ausgewählte Kunden und Interessenten aufgefordert, den Laster ausgiebig in ihrem Alltag zu testen – und die Anschaffung zu kalkulieren. Immerhin kostet der eActros etwa zweieinhalbmal so viel wie die gleich große starke Diesel-Variante. Aber im Transportgewerbe ist der Anschaffungspreis bei der durchschnittlichen Einsatzzeit eines Lkws von etwa fünf Jahren beziehungsweise 600.000 Kilometern nur eine Größe. Entscheidend sind vielmehr die Betriebskosten. Und aufgrund der Vorteile bei der Lkw-Maut und bei der Wartung kann sich die Antriebswende für ein Unternehmen langfristig durchaus rechnen. „Wir wissen, dass wir mit unserem eActros 600 im Wettbewerb sehr gut dastehen,“ gibt sich Karin Rådström, das für Mercedes-Benz-Laster und -Busse zuständige Vorstandsmitglied der Daimler Truck AG, durchaus selbstbewusst.

Bestellt werden kann ab Jahresende

Wie verhält sich der leise Koloss denn nun im Realtest mit den hauseigenen Ingenieuren am Steuer? „Ich war überrascht, wie leicht er sich fahren lässt, wie schnell das Feedback vom Pedal kommt und wie leise er ist“, berichtete Tilman Morlok, Projektleiter eActros 600. Wenn das Echo auch kundenseitig so positiv ausfällt, sollen die Verkäufe schon im ersten Jahr vierstellig werden. Damit jedenfalls rechnet Rådström. Schon Ende dieses Jahres startet der Verkauf, die Serienproduktion soll Ende kommenden Jahres anlaufen. Wird dieser Antrieb den Wasserstoff letztlich wieder vertreiben? Derlei Mutmaßungen verneinte die Schwedin: „Wir werden definitiv beide Antriebsvarianten brauchen.“

Sweet Spot zwischen Nutzlast und Reichweite

Anhand einer Big Data-Analyse galt es, die optimale Balance zwischen Reichweite und Nutzlast – sie liegt bei etwa 22 Tonnen mit Standardauflieger – herauszufinden, erzählte Michael Wolf, leitender Entwicklungsingenieur beim eActros 600. Für Energieeffizienz sorgen unter anderem drei Kühlkreisläufe, die Energie von einem Kühlkreislauf in den andern überführen können, um Energie zu sparen und so ein Mehr an Reichweite zu gewinnen. Dazu kommt eine neue, besonders effizient ausgelegte elektrische Antriebsachse mit zwei Elektromotoren mit 600 kW (816 PS) Spitzen- und 400 kW (544 PS) Dauerleistung, die inhouse entwickelt wurden.

In einem Rutsch über die Alpen
 Bei der Testfahrt über die Alpen von Stuttgart nach Bozen bewältigten die Ingenieure mit dem rund 40 Tonnen schweren Mercedes eActros 600 eine Strecke von 530 Kilometern ohne Zwischenladen des Akkus. Fotos: Daimler Truck
In einem Rutsch über die Alpen
Bei der Testfahrt über die Alpen von Stuttgart nach Bozen bewältigten die Ingenieure mit dem rund 40 Tonnen schweren Mercedes eActros 600 eine Strecke von 530 Kilometern ohne Zwischenladen des Akkus. Fotos: Daimler Truck

Die 500 Kilometer Reichweite sind konservativ berechnet, dürften bei mitteleuropäischen Temperaturen im Schnitt höher liegen. Ausgenommen anhaltend klirrende Minusgrade. „Dieser Truck wird auch unter nicht idealen Bedingungen seine Reichweite liefern“, versicherte Rådström.

„Die tatsächliche Effizienz des eActros 600 hat unsere Erwartungen übertroffen“, berichteten die Daimler Truck-Leute. Dass mindestens 500 Kilometer Realität sind, beweist unter anderem die Fahrt, die ein Prototyp des eActros 600 wenige Tage vor der Weltpremiere auf anspruchsvoller Strecke absolvierte: Bei der Testfahrt über die Alpen von Stuttgart nach Bozen bewältigten die Ingenieure mit dem rund 40 Tonnen schweren Lkw 530 Kilometer ohne Zwischenladen. Das gute Testergebnis resultiere aus der Kombination von effizientem Antrieb, hoher Batteriekapazität und leistungsstarker Rekuperation in fünf Schritten.

Gute Aerodynamik für mehr Reichweite

Die sichtlich optimierte Aerodynamik hat neben einer guten Batteriestruktur dazu beigetragen, die Reichweite von gut 500 Kilometern zu erreichen. Die cw-Werte des eActros sind gegenüber dem Diesel um satte neun Prozent verbessert. Weil der Luftwiderstand bei E-LKW einer der Hauptfaktoren für den Energieverbrauch ist, spart die gute Aerodynamik richtig Geld.

Alles im Blick 
Der Fahrer des Mercedes eActros bekommt die Bilder sämtlicher Außenspiegel und -kameras auf zwei große Monitore gespielt, um Fahrzeuge, Fahrräder und Fußgänger im Toten Winkel frühzeitig erkennen zu können.
Alles im Blick
Der Fahrer des Mercedes eActros bekommt die Bilder sämtlicher Außenspiegel und -kameras auf zwei große Monitore gespielt, um Fahrzeuge, Fahrräder und Fußgänger im Toten Winkel frühzeitig erkennen zu können.

Die bereits windschlüpfrig kleinen Außenspiegel bleiben aber bestehen, statt sie kamerabasiert in den Innenraum zu verlegen. Sie seien in Sachen Reichweitenverbesserung vergleichsweise belanglos.

Warum diese Reichweite? 60 Prozent der Langstreckenfahrten der Mercedes-Benz Kunden in Europa sind laut Hersteller 500 Kilometer oder kürzer. Daher funktioniert das Konzept, sofern die Ladeinfrastruktur auf dem Betriebsgelände und an Be- und Entladestellen vorhanden ist. Daneben setzt sich der Hersteller zusammen mit Wettbewerbern und Energielieferanten dafür ein, dass das Megawattladen (MCS) bald umgesetzt wird.

Langlebige andersartige Batterietechnologie

Die drei großen Batteriepakete à 207 kWh Nennkapazität speichern insgesamt 621kWh Strom. Sie wurden zwischen den Achsen unterhalb des seitlichen Rahmens angebracht. Das Gewicht pro Paket beträgt eineinhalb Tonnen. Statt der geläufigen Nickel-Mangan-Cobalt-Batterien haben sich die Entwickler für die Lithium-Eisenphosphat-Zelltechnologie (LFP) entschieden. Diese Technologie ist robust und zeichnet sich durch eine hohe Lebensdauer aus. Als Maßstab diente den Ingenieuren die Dauerhaltbarkeit eines vergleichbaren schweren Diesel Fernverkehrs-Actros. Technisch ausgelegt ist der eActros 600 für zehn Jahre oder 1,2 Millionen Kilometer Laufleistung. Danach sei dieser Actros noch lange nicht am Ende. Der Batteriezustand (State of Health) betrage nach dieser Laufzeit noch über 80 Prozent.

LFP-Akku bringt Vorteile

Man müsse die Kunden darauf hinweisen, dass diese LFP-Batterie keinerlei Schaden nehme, wenn sie komplett, also auf 100 Prozent aufgeladen werde. Das ist sogar erwünscht, reduziert Ladestopps und spart Zeit. Ein weiterer Vorteil der LFP-Technologie gegenüber anderen Batterietechnologien liegt darin, dass über 95 Prozent der installierten Kapazität tatsächlich genutzt werden kann. Für den Fernlastverkehr wichtiges Ergebnis: höhere Reichweite bei gleich viel verbauter Batteriekapazität. Die vom chinesischen Batteriehersteller CATL gelieferten Akkus hat die Entwicklungsmannschaft intern auf die eigenen Ansprüche verfeinert.

CCS muss erst mal genügen 
Die Akkus des Mercedes eActros 600 können am Schnelllader derzeit mit maximal 400 Kilowatt geladen werden. Das sogenannte Megawatt-Laden (MCS) ist noch Zukunftsmusik. Die Zugmaschine kann dafür aber bereits vorgerüstet werden.
CCS muss erst mal genügen
Die Akkus des Mercedes eActros 600 können am Schnelllader derzeit mit maximal 400 Kilowatt geladen werden. Das sogenannte Megawatt-Laden (MCS) ist noch Zukunftsmusik. Die Zugmaschine kann dafür aber bereits vorgerüstet werden.

Anders als batterieelektrische Pkw haben rein elektrische Lkw übrigens aufgrund ihrer schieren Masse eine Gangschaltung. Während für den eActros 300 und eActros 400 ein Zwei-Gang-Getriebe ausreicht, hat sein schwerer Bruder aus gutem Grund vier Gänge erhalten. Die schwere Last will schließlich stets mit dem nötigen Anzugsverhalten gefahren werden.

Megawatt Charging-System noch Zukunftsmusik

Mit seinem Energiegehalt von ungefähr 600 kWh ist der E-Lkw für eine Strecke von gut eintausend Kilometer am Tag ausgelegt. Orientiert hat man sich bei Mercedes-Benz an den durchschnittlichen Fahrleistungen der Fahrer in Kombination mit den vorgeschriebenen Ruhezeiten und deren Dauer. Mit dieser Reichweite, so die Botschaft, lassen sich Lademanöver gut takten.

Stichwort Laden: Das Power-Laden namens MCS funktioniert, ist aber noch nicht an die Rast- und Ladestätten gebracht. Zumal es noch gilt, den dafür notwendigen Stecker zumindest europaweit absegnen zu lassen und somit zu vereinheitlichen. Gegenüber dem CCS-Laden mit bis zu 400 kW verringert sich beim Megawattladen auf etwa 30 Minuten von 20 auf 80 Prozent. Das ist doppelt so schnell wie konventionelles CCS-Laden.

"Wir werden definitiv beide brauchen"
Der batterieelektrische Mercedes eActros ist keineswegs ein Ersatz für den GenH2-Truck mit Brennstoffzelle, sondern nach Überzeugung von Karin Rådström eine Alternative für den Straßengüterverkehr auf der Langstrecke.
„Wir werden definitiv beide brauchen“
Der batterieelektrische Mercedes eActros ist keineswegs ein Ersatz für den GenH2-Truck mit Brennstoffzelle, sondern nach Überzeugung von Karin Rådström eine Alternative für den Straßengüterverkehr auf der Langstrecke.

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte“, so Rådström, „ich würde mir wünschen, dass der Ausbau der Ladeinfrastruktur und das Installieren von MCS-tauglichen Ladesäulen rasch vorangehen.“ Die implizierte Aussage: Wir von Daimler Truck sind bereit für die neue Mobilität im Schwerlastverkehr.

Auf den eActros 600 übersetzt heißt das: Die Kunden können sich die Vorrüstung für das MCS-Laden an ihrem Actros bestellen. Seit 2018 arbeitet die Task Force CharIN am MCS Standard, der für Langstrecken entwickelt wurde und weltweit gelten soll. Die Ladeleistung soll mehr als ein Megawatt betragen. Später sollen gar bis zu 3,75 Megawatt erzielt werden. Seit 2020 gibt es das Design für den dazugehörigen Stecker. Bis Ende 2024 sollen alle Standards für das Gesamtsystem abgesegnet sein. Die Marktausrollung für MCS kann allerdings nicht vor 2026 einsetzen.

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