Das Wetter ist ideal. Grauer bis dunkelgrauer Himmel zieht sich hier im Süden Frankreichs von Horizont zu Horizont und seit Tagen regnet es ohne Ende. Das produziert aufgeweichte Feldwege mit reichlich Schlamm und braunem Wasser in Pfützen und Senken. Plus schlüpfrige Felsen an jeder Steigung. Genau die richtigen Bedingungen, um die Frage zu beantworten: Kann ein rein elektrisch angetriebener Offroader einem mit herkömmlichem Verbrennungsmotor das Wasser reichen?
Um die Antwort gleich vorwegzunehmen: Er kann. Und wie er das kann. In der Nähe von Narbonne hat Mercedes jetzt seine neue G-Klasse vorgestellt. Mit dabei: die erste vollelektrische Version des Heavy-Duty-Truck. Sie soll nicht nur dem Ineos Fusilier Paroli bieten, sondern auf Auslandsmärkten auch Elektro-Kampfwagen wie dem M-Hero 1 von Dongfeng aus China oder dem ebenfalls vollelektrischen Hummer von General Motors in USA.
Die G-Klasse von Mercedes-Benz ist eine automobile Ikone – seit 1979 wird sie zumindest optisch nahezu unverändert gebaut. Seither sind über eine halbe Million Stück verkauft worden. An die Bundeswehr und andere Armeen in einer besonders strapazierfähigen Form und unter der Modellbezeichnung „Wolf“.
Verändert haben sich im Lauf der Jahrzehnte vor allem Antriebstechnik und Interieur. Wer heute in eines der frühen Modelle steigt, der erlebt innen lackiertes Blech an dünnen Türen, eine hakelige 4-Gang-Handschaltung und einen Geräuschpegel, der die Frage aufwirft, wozu überhaupt damals in die zivilen Versionen ein Radio eingebaut wurde. Heute gibt es kraftvolle Motoren und Schaltautomatik, dicke Türen und weiche Polster sowie eine Highend-Audioanlage.
Sandwich-Akku mit 116 kWh Kapazität
Ein paar technische Grundelemente sind auch bei der neuen G-Klasse gleich geblieben. Der massive Leiterrahmen aus vier Millimeter dickem Stahl etwa, auf den die gesamte Konstruktion aufsetzt, mit Einzelradaufhängung vorne und neu entwickelter Starrachse hinten. Beim elektrischen G sind zwischen die beiden Seitenholmen des Rahmens die Lithium-Ionen-Hochvoltakkus eingepasst. Sie stammen vom EQS, der elektrischen S-Klasse, und liefern in 216 Zellen und zwölf Modulen 116 kWh Speicherleistung.
Weil sie allerdings in die G-Klasse so nicht gepasst hätten, hat man sie „halbiert“ und wie ein Sandwich übereinandergestapelt: eine Lage Kühlung, eine Lage Akkus, wieder eine Lage Kühlung, dann noch mal Akkus und oben drauf nochmal eine Lage Kühlung. Das ganze massiv und verwindungssteif ummantelt, unten sogar eingepackt in eine 26 mm dicke Schale aus einem Materialmix mit Carbon-Anteilen.
Steigfähigkeit von 100 Prozent
Damit, verspricht Mercedes, kann der Unterboden selbst auf einen massiven Fels krachen, ohne dass den Akkus was passiert. Die Instruktoren lieben es, das im Gelände vorzuführen. Erwünschter Nebeneffekt: Der Schwerpunkt liegt niedrig. Das kommt nicht nur der Fahrsicherheit zugute, sondern sorgt auch für herausragende Werte zum Beispiel bei der möglichen Seitenneigung: Das Auto bleibt stabil bis zu einem Neigungswinkel von 35 Grad. Die Steigfähigkeit liegt – bei entsprechendem Untergrund – bei 100 Prozent. Im Idealfall, so Mercedes, lassen sich die Akkus in gut 30 Minuten von 20 auf 80 Prozent aufladen.
Die Räder der elektrischen G-Klasse werden jeweils von einem eigenen radnahen Motor individuell angetrieben. Die vier Motoren sind im Leiterrahmen integriert und sitzen zu zweit jeweils in einem Gehäuse an der Vorder- und Hinterachse. Zusammen kommen sie auf eine Leistung von 432 kW. Das entspricht in der alten Welt gut 587 PS. Dazu kommt ein riesiges Drehmoment von 1.164 Newtonmeter. Das alles liegt ab der ersten Umdrehung an und sorgt dafür, dass man praktisch überall durchkommt. Auf der Straße beschleunigt der Koloss in 4,7 Sekunden von Null auf 100 km, bei 180 km/h wird elektronisch abgeregelt.
Wendekreis geht gegen Null
Das Konzept der separat angetriebenen und ansteuerbaren Räder bietet vor allem im Gelände immense Vorteile. So lässt sich zum Beispiel je nach Untergrund und Schlupf jedes Rad elektronisch einzeln regeln – ideal zum Beispiel bei steinigen Aufstiegen oder im Schlamm. Außerdem ermöglicht es bisher ungeahnte Fahrmanöver.
Vor einer Spitzkehre etwa genügt der Druck auf den Steering-Knopf im Cockpit. Beim Einlenken in die Kurve wird dann das Hinterrad in der Kurvenseite komplett abgebremst, der Wendekreis geht fast gegen Null und die Kehre lässt sich in einem Stück bewältigen. Eine herkömmliche G-Klasse schafft solche Kurven nur mit mehrmaligem Rangieren.
Intelligentes Kriechen im Gelände
Etwas weniger erschließt sich der praktische Sinn einer weiteren Option: Ebenfalls auf Knopfdruck lässt sich der Elektro-G auf der Stelle drehen – wenn der Untergrund locker ist. Erreicht wird das, indem sich die Räder gegenläufig drehen – ähnlich wie bei einem Panzer. Abgesehen davon, dass die Aktion einen Heidenspaß macht und für ein leichtes Schwindelgefühl sorgt, bleibt abzuwarten, wozu das teuere Karussell im Straßenverkehr noch taugt. U-Turn im Gelände vielleicht, wenn es geradeaus nicht weiter geht. Oder es wird demnächst in einem neuen James-Bond-Film auftauchen. Spektakulär genug ist es ja.
Was der Einzelradantrieb auch möglich macht, ist ein intelligentes Kriechen im Gelände. So sind drei verschiedene Geschwindigkeiten zwischen zwei und acht km/h einstellbar, mit denen sich der Stromer seinen Weg eigenständig durchs Gelände bahnt. Der Fahrer muss nur noch lenken. Das funktioniert auf ebener Erde ebenso, wie bei Auf- oder Abfahrten. Zwischen den Achsen gibt Mercedes die Bodenfreiheit mit mindestens 250 mm an. Die Funktion einer herkömmlichen Differenzialsperre wird virtuell durch ein intelligentes Torque Vectoring erzeugt.
Knapp unter 3,5 Tonnen schwer
Ganz neue Optionen eröffnet der Elektroantrieb auch bei Wasserdurchfahrten. Links und rechts schwappt die braune Brühe fast bis zur Fensterkante, vorne ragen gerade noch die Motorhaube und die beiden Blinker-Höcker aus dem Wasser – die G-Klasse rollt unbeeindruckt zum Ufer. Die elektrische Version hat eine maximale Wattiefe von 840 Millimeter – das sind 150 mm mehr als die Version mit Verbrennungsmotor. Der Grund: Die Verbrennungskraftmaschinen ziehen Luft an – da ist es nicht so gut, wenn Wasser in die Ansaugung dringt. Den Elektromotoren ist das hingegen egal: Sie brauchen keine Luft und sind ansonsten gegen Wasser gut geschützt.
Der G 580 EQ ist kein Leichtgewicht. Schon leer wiegt er fast 3,1 Tonnen. Die Ingenieure mussten heftig kämpfen, um das Gesamtgewicht noch unter der Grenze von 3,5 Tonnen zu halten – sonst wäre für viele Käufer ein extra Führerschein notwendig gewesen. Dem Sparstift fiel so zum Beispiel eine Anhängervorrichtung zum Opfer.
Bis zu 473 Kilometer Reichweite
Die Akkus langen für eine offizielle Reichweite im Drittelmix von 473 Kilometer (WLTP), im reinen Stadtverkehr (ohne Häuserkampf) angeblich von 658 Kilometer – bei einem kombinierten Energieverbrauch zwischen 30,4 bis 27,7 kWh auf 100 Kilometer. Im Alltagsverkehr dürfte allerdings deutlich früher eine Ladestation angesteuert werden müssen, um Strom mit bis zu 200 kW Leistung aufzunehmen. 32 Minuten soll die Pause am Schnelllader dauern, um den Ladestand von 10 auf 80 Prozent anzuheben. Die Ladezeit an der Wallbox im Feldlager gibt Mercedes mit 11,77 Stunden an. Nachgeladen werden kann allerdings auch schon unterwegs per Rekuperation – im Gelände mit vielen Auf und Abs funktioniert das besonders gut.
Keine Frage, dass der 4,62 Meter lange G580 EQ auch auf asphaltierten Wegen gediegen und komfortabel unterwegs ist. Innen unterscheidet sich die vollelektrische G-Klasse kaum von einer herkömmlichen Version: bequeme Sitze, viel Platz, gewohnte Bedienung – alles edel und gediegen. Dazu eine Soundanlage mit Konzerthallenqualität und reichlich Assistenzsysteme inklusive spezieller Navigation.
Synthetischer „G-Roar“
Wie gehabt wird der Einstieg zu einer Art Bergbesteigung. Und natürlich lassen sich die Türen wie gewohnt nur mit einem kräftigen Schwung zuknallen. Die Entwickler haben ein Spiel daraus gemacht: Wer die Tür nicht beim ersten Mal geschlossen bekam, musste fünf Euro in die Kaffeekasse zahlen.
Erst beim genauen Hinsehen zeigen sich die Unterschiede: Ein Glasdach gibt es aus Gewichtsgründen für den G580 EQ erst gar nicht. Und der Stille eines Elektroautos hat Mercedes „G-Roar“ entgegengesetzt: Das aufpreispflichtige, 585 Euro teure System erzeugt innen wie außen einen künstlichen V8- Fahrsound sowie eine Vielzahl von „Event-Sounds“ etwa während des Ladevorgangs. Das Display vor dem Fahrer liefert im Gelände relevante Daten und zeigt per Kamera, was vorne unter dem Fahrzeug liegt.
„Edition One für 192.524 Euro
Mit einem Einstandspreis von mindestens 142.622 Euro liegt der G 580 EQ rund 10.000 Euro über dem Preis des G 500 mit 6-Zylinder-Reihenmotor. Deutlich teurer wird es aber noch mit dem AMG-Logo und V8. Dem macht preislich wiederum die „Edition One“ des G 580 EQ Konkurrenz, die zum Marktstart angeboten wird – inklusive Trittbretter, Burmester-Anlage und allerlei anderen Finessen für fette 192.524 Euro. Ob man den Stromer dann allerdings im Gelände einsaut, bleibt die Frage. Stellen dürften sich die bei dem Preis allerdings nur eine Handvoll Menschen.