Wenn derzeit von Mercedes die Rede ist, geht es meist um den neuen CLA. Doch im Schatten der Elektro-Limousine tüfteln die Ingenieure an einem anderen Projekt, das für die Zukunft Marke mit dem Stern fast ebenso wichtig ist. Hinter dem Kürzel Van.EA (Van Electric Architecture) verbirgt sich eine Plattform, die mittelgroße Vans wie die V-Klasse zu Stromern mutieren lässt. Jetzt kommt noch die Unterscheidung der Kürzel Van.EA Private und Van.CA dazu. Der Buchstabensalat ist schnell entwirrt: Van.CA bedeutet nichts anderes, als dass die Fahrzeuge auch mit einem elektrifizierten Verbrenner zu haben sein werden. Diese Entscheidung haben die Mercedes-Strategen im Nachhinein getroffen, weil die Antriebswende wohl nicht so schnell wie erwartet vonstatten geht.

Mercedes muss auch im Transporter-Geschäft Geld verdienen und dazu gehören mittelfristig auch noch Modelle mit Verbrennungsmotoren. Da beißt auch die schwäbische Maus keinen Faden ab. Also gibt es jetzt zwei Varianten einer Architektur. Ganz ohne Mehraufwand ist die Erweiterung um eine Antriebsform aber nicht machbar. Baureihenleiter Benjamin Kähler beziffert den Mehraufwand zu der reinen Elektro-Architektur und die zusätzliche Komplexität auf 30 Prozent. Da trifft es sich gut, dass die Van-Truppe bei der Entwicklung des Nachfolgers des Mercedes EQV eng mit den Kollegen der Pkw-Division zusammenarbeiten. Auch Ingenieure aus der AMG-Tuningschmiede sind mit von der Partie. Für Fahrspaß wird also gesorgt.

Schwarz-Weiß Malerei
In winterlichen Nordschweden führt die Van-Sparte von Mercedes-Benz aktuell Testfahrten mit dem Nachfolger des EQV durch.

Schließlich will Mercedes auch bei den Luxus-Vans erstmals in China, den USA und Kanada erfolgreich sein. Und da ist es wichtig, dass sich ein solcher Nobel-Großraumtransporter nicht wie ein Nutzfahrzeug anfühlt. „Das würden die Kunden in China nicht akzeptieren“, erklärt Entwicklungschef Andreas Zygan und verweist auf die Tatsache, dass im Reich der Mitte Tuner die V-Klasse aufpeppen und dann teuer verkaufen. Dieses Geschäft wollen die schwäbischen Cleverles natürlich selbst mitnehmen.

Lounge-Feeling im Fond

Aus diesem Grund ist auch eine klare Unterscheidung zwischen den gewerblichen und privaten Fahrzeugen notwendig. Das fängt schon bei der Sitzposition an. Wenn man einen Van entert, der Pkw-Feeling vermitteln soll, will nicht auf dem Kutschbock eines Nutzfahrzeugs thronen. Diesen Punkt können die Entwickler schon mal abhaken. Schnell ist eine gute Sitzposition gefunden, die der eines SUV gleicht. Doch das ist nur ein Teil der Gleichung. Die Skateboard-Plattform mit dem flachen Boden lässt im Fond geräumiges Lounge-Feeling aufkommen. Aber das ist nur Makulatur, wenn das Fahrwerk die Passagiere an jedem Kieselstein teilhaben lässt, über den das Vehikel hinwegrollt. Also baut man einfach adaptive Dämpfer ein. Logisch oder?

Das Heck lenkt mit 
Damit sich der Bus auch in Großstädten mühelos um die Ecke bewegen lässt, haben die Ingenieure dem neuen Elektro-Transporter einer Hinterachslenkung spendiert. Um wie viel Grad sie die Räder einschlägt, bleibt aber vorerst noch Betriebsgeheimnis.
Das Heck lenkt mit
Damit sich der Bus auch in Großstädten mühelos um die Ecke bewegen lässt, haben die Ingenieure dem neuen Elektro-Transporter einer Hinterachslenkung spendiert. Um wie viel Grad sie die Räder einschlägt, bleibt aber vorerst noch Betriebsgeheimnis.

Jetzt soll sich der Van aber auch noch in den großen Metropolen Chinas sowie den USA so einfach und wendig fahren lassen wie ein Kleinwagen. Kein Problem. Eine Hinterachslenkung löst dieses Problem. Zumindest in der Theorie. Nur hat man das in diesem Segment noch nie bei einer Elektro-Plattform versucht, da einige Hindernisse zu überwinden sind.

Achse nach Formel-1-Art

Zunächst sind da die Achslasten: Eine elektrische Van-Architektur samt Karosserie wiegt deutlich mehr als ein herkömmliches Auto. Sollen die Hinterräder einschlagen, wird es mit dem Bauraum eng. Neben dem Elektromotor muss ganz hinten im Van eine breite Dreiersitzbank Platz finden und die Räder sollten keine Teerschneider sein. Schließlich soll das Fahrzeug auch optisch etwas hermachen. Also kommen auch noch die Radkästen dazu, die die Aufgabe alles unterzubringen zusätzlich erschweren. Aber auch die Operation ist letztlich gelungen. „Das ist im Grunde eine Formel-1-Achse, da sie sehr kompakt ist. Da steckt die eigentliche Arbeit drin“, freut sich Zygan.

Schneller laden 
Die neue Elektro-Plattform erlaubt es auch, den Akku des EQV-Nachfolgers schneller zu laden als bisher. Aktuell nimmt das Elektromodell Gleichstrom mit maximal 96 kW auf - das ist inzwischen aus der Zeit gefallen.
Schneller laden
Die neue Elektro-Plattform erlaubt es auch, den Akku des EQV-Nachfolgers schneller zu laden als bisher. Aktuell nimmt das Elektromodell Gleichstrom mit maximal 96 kW auf – das ist inzwischen aus der Zeit gefallen.

Wir machen die Probe aufs Exempel und wenden auf engstem Raum. Klappt problemlos. Immer wieder schärfen uns die Techniker ein, dass wir uns von der Transporter-Optik nicht täuschen lassen sollen. Die diene lediglich der Tarnung. Die Technik ist die der Van-Variante. Ok. Und wie schaut es mit der Dynamik aus?

Auch die Hinterachse lenkt mit

Auf einer Eisfläche loten wie den Grenzbereich aus. Rauf aufs Gas und das Lenkrad einschlagen, sofort rutscht der Fronttriebler über die Vorderachse nach außen. Wir lupfen den rechten Fuß und schon will uns das Heck überholen. Aber alles gutmütig und berechenbar. Einfaches Gegenlenken fängt den Mercedes-Van im Tarn-Blechkleid eines Transporters wieder ein. Problemlos. Der Entwicklungschef neben uns lächelt zufrieden. Auch bei der Frage nach dem Winkel, mit dem die Räder einschlagen. Doch über die Lippen kommt ihm kein Wert: Alles wollen sie bei Mercedes dann doch noch nicht verraten. Wir gehen von maximal acht Grad aus.

Spurtreu 
Einfaches Gegenlenken fängt den Mercedes-Van im Tarn-Blechkleid eines Transporters auf der eisigen Piste wieder ein. Problemlos.
Spurtreu
Einfaches Gegenlenken fängt den Mercedes-Van im Tarn-Blechkleid eines Transporters auf der eisigen Piste wieder ein. Problemlos.

Damit sind die Entwicklungs-Aufgaben der Techniker noch lange nicht erledigt. Vieles wird mit Simulationen abgearbeitet. Bei der Software arbeiten die Mercedes-Van- und die Pkw-Experten Hand in Hand und nutzen so Synergien. Beide Entwicklungsgruppen haben identische Software-Varianten installiert und sobald ein Fehler auftritt, wird der gemeinsam gelöst. So spart man Zeit, Ressourcen und letztendlich Geld. Doch nicht alles lässt sich per Simulation oder mit ausgefeilten Algorithmen bewerkstelligen. Geht es um die Regelsysteme wie das ESP ist nach wie vor gründliche Abstimmungsarbeit nötig, um die perfekte Feinabstimmung zu erreichen.

Allradantrieb folgt später

Genau das tun die Mercedes-Ingenieure derzeit in Nordschweden. Für ein ESP-System ist kaum etwas herausfordernder als der berühmt-berüchtigte μ-Split-Test, bei dem auf der einen Seite die Räder auf Asphalt Traktion finden und auf der anderen Seite blankes Eis genau das verhindert. Wir sind mit 80 km/h unterwegs und bremsen hart ab, als wir die Versuchsfläche erreichen. Das Gefährt bleibt stabil. Passt also.

Das Anfahren auf diesem Untergrund mit extrem unterschiedlichen Reibwerten ist so etwas wie die Königsdisziplin. Denn die Regelsysteme müssen erkennen, dass das Fahrzeug auch dann stabil ist, wenn aufgrund des Schlupfs unterschiedliche Drehzahlen bei den Rädern anlegen und sollten nicht eingreifen. Soweit zur Theorie: Als wenn diese Herausforderung nicht schon genug wäre, platzieren wir den Mercedes-Van an einer Steigung von 15 Grad. Allradantrieb? Fehlanzeige. Die Vorderachse muss den Job alleine erledigen.

Maybach-Version nicht ausgeschlossen

Wir steigen ohne Rücksicht auf Verluste aufs Gas und warten ab, wie sich die Technik schlägt. Kurz ringen die Pneus um Grip, ehe sie die schwere Fuhre nach oben ziehen. Langsam aber sicher und souverän. „Die Regelsysteme sind so weit entwickelt, dass das auch für einen Vorderradantrieb kein Problem ist. Deshalb haben wir uns für dieses Konzept entschieden“, sagt Andreas Zygan und versichert im gleichen Atemzug, dass es auch eine Version mit Allrad geben wird.

Und wie schaut es mit einer Maybach-Variante aus? Darauf gibt es keine Antwort. Wir gehen aber stark davon aus.

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