Mercedes hat viel Wind gemacht um das Einzelstück „Vision EQXX“. Das hat einen guten Grund, denn der EQXX ist technischer Vorläufer der neuen Einstiegsbaureihe mit Stern, die 2024/2025 auf den Markt kommen soll. Sie soll gewissermaßen als elektrisierender Schuhlöffel in die neu ausgerufene Luxusstrategie Modelle wie die aktuelle Mercedes A-Klasse oder den Mercedes CLA ersetzen, der aktuell als Limousine und Shooting Brake zu bekommen ist und noch von Verbrennungsmotoren angetrieben werden.
Wohin diese Reise in der zweiten Hälfte der Dekade gehen soll, zeigt die Studie des Mercedes Vision EQXX, in der wir Platz genommen und ein paar Kilometer gefahren sind. Leider nicht unter realen Bedingungen im öffentlichen Straßenverkehr, wie es das Entwicklerteam bei zwei Langstreckenfahrten von Stuttgart nach Cassis in Südfrankreich und später noch einmal von Stuttgart ins britische Silverstone tat. Hier schaffte es die Elektroflunder zunächst knapp über 1.000 und beim zweiten Versuch knapp über 1.200 Kilometer weit mit einer Akkuladung.
Diesmal sitzt Julien Pillas, als Entwickler für spezielle E-Drive-Projekte verantwortlich, nur auf dem Beifahrersitz. Er schaut, das mit dem millionenteuren Probanden nichts daneben geht, auch wenn wir nur auf dem Mercedes-Testgelände in Immendingen unterwegs sind. Also Tür auf, einsteigen – und sich erst einmal wundern, wie ungemütlich die hellen Kunstledersitze für einen großen Erwachsenen sind.
47 Zoll großes Info-Board auch im Seriefahrzeug
Pillas hat bereits endlose Kilometer im EQXX gesessen und muss deshalb schmunzeln, als er die frühe Beschwere über die nur mäßig gepolsterten Sitze ohne jeden Langstreckenkomfort vernimmt. Auch wenn es sich beim EQXX um eine überaus schicke viertürige Coupélimousine mit allzu viel Roségold handelt, ist mit Luxus im Innern nicht viel her. Die Sitze sind hart, bieten ebenso wenig Seitenhalt wie Auflage und lassen sich nur mechanisch verstellen – okay, es ist eben nur Prototyp.
Mehr Komfort gibt es in der kommenden A-Klasse und den mindestens drei weiteren Derivaten auf der gleichen Plattform auf jeden Fall – darauf können sich die Kunden schon einmal freuen, verspricht Pillas. Auch auf den riesigen Bildschirm mit einer Diagonale von stattlichen 47 Zoll, der sich vor dem Fahrer über die gesamte Breite zieht. Auch die kommenden Kompaktmodelle, hören wir, sollen einen mächtigen Breitbandscreen bekommen – das Postkartendesign der aktuellen Modelle gehört bald der Vergangenheit an.
Wichtiger ist jedoch der Antrieb. Der Mercedes Vision EQXX wird von einem Elektromotor an der Hinterachse angetrieben, der 180 kW (245 PS) leistet und damit, wie wir bei der Testfahrt schnell feststellen, ganz ordentlich motorisiert ist. Gespeist wird der Elektromotor von einem besonders flachen Akkupaket, das nur halb so viel Bauraum einnimmt wie im Topmodell Mercedes EQS ist – trotzdem 100 kWh Strom speichern kann.
Alles ist auf Effizienz getrimmt
Ein Tritt aufs Gas und es geht los. Bereits nach ein paar hundert Metern wird deutlich: hier ist alles auf Effizienz getrimmt. Mit einem cW-Wert von 0,17 zischt der 1.755 Kilogramm schwere Viersitzer förmlich unter dem Fahrtwind hindurch. Die schmalen 185er-Pneus sind Spezialreifen, die mit 3,5 bar aufgepumpt sind. Entsprechend mäßig ist ihr Abrollkomfort. Aber schließlich geht es darum, mit möglichst wenig Energie möglich viele Kilometer zu machen. Und derart schmale Reifen an den Achsen kennt man ja auch schon vom Sparmobil BMW i3.
Abgesehen vom harten Gestühl und dem mäßigen Federungskomfort fährt sich der EQXX allerdings nicht wie ein Prototyp, sondern fast schon wie ein echtes Serienmodell. Na ja, wenn man von den Knarzgeräuschen absieht, das die Seitenscheiben des Vorführwagens noch machen.
Über die Schaltwippen am Lenkrad kann man die Rekuperation einstellen. In der stärksten Stufe ist man mit dem sogenannten One-Pedal-Fahrgefühl mit maximaler Verzögerung und entsprechend hoher Effizienz unterwegs. Gebremst wird praktisch nur im Notfall. So war es auch bei der ersten Rekordfahrt. „Da haben wir auf der ganzen Fahrt das Bremspedal nur ein paarmal betätigt“, erinnert sich Pillas an die 1.000-km-Tour vor ein paar Wochen.
Jedes Mikrowatt zählt
Die Lenkung ist leichtgängig, der Elektromotor im Heck leise. So geht es über die flott zu befahrenden „Landstraßen“ auf dem 520 Hektar großen Testgelände von Mercedes, das einmal ein streng gesicherter Truppenübungsplatz der Bundeswehr war. Nach umfangreichen Umbauarbeiten gibt es hier Straßentypen und Fahrbahnzustände aus aller Welt, um die Prototypen in der mehrjährigen Erprobung mit minimalem Aufwand maximal an die internationalen Bedingungen anpassen zu können – wenn nötig, rund um die Uhr.
Das 495 Kilogramm schwere Akkupaket im Boden des EQXX ist zwar flach, doch ist die Sitzposition etwas höher, als man es von der aktuellen A-Klasse oder einem Mercedes CLA kennt. Auf dem mächtigen Bildschirm flimmern permanent Informationen über das aktuelle Tempo, die Stromverbräuche und andere Parameter. Er kann speziell gedimmt werden, damit auch er nicht über Gebühr Strom verbraucht, denn im Zeitalter der Elektromobilität zählt jedes Milliwatt. Pillas schaut auf die Echtzeit-Verbrauchwerte und scheint zufrieden mit unserer Fahrt.
Beim zweiten Hügel geht es betont flott bergauf. Und auch die kurvige Landstraße, die eigentlich einen rauen US-Fahrbahnbelag nachempfinden soll, bereitet Fahrer und EQXX keinerlei Mühe. Anschließend geht es außen um das Testoval ein längeres Stück geradeaus leicht bergab.
Im Schnitt 8,24 kWh/100 km
„Einfach rollen lassen – da ist der EQXX wirklich beeindruckend“, sagt Copilot Pillas. Und tatsächlich: Ohne Rekuperation scheint das Zukunftsmodell beinahe bis ans Ende der Welt rollen zu können, so wenig Rollwiderstand scheint es zu geben. Eingebremst werden wir leider allzu früh vom nächsten Kreisverkehr und dem Weg zurück zum Startpunkt.
Ohne eine besonders zurückhaltende Fahrweise hat der Mercedes EQXX auf einer Strecke von 16,2 Kilometern gerade einmal 8,24 kWh/100 Kilometer verbraucht – bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 50 km/h – ein Wert, der sich sehen lassen kann.
Geheime Zellchemie mit hoher Energiedichte
Die Akkus der künftigen kleinen Serienmodelle werden schon aus Kostengründen nicht so groß dimensioniert sein wie im EQXX-Prototyp. Statt 100 kWh werden sie wohl nur um die 50 kWh Strom speichern können. Die Bordspannung von 900 Volt dürfte aber ebenso gesetzt sein wie die derzeit noch geheime Zellchemie. Ziel ist immerhin eine Reichweite von mindestens 500 Kilometern. Die Energiedichte der Zellen beträgt immerhin über 400 Wattstunden pro Liter – deutlich mehr als im Mercedes EQS. Ein Grund dafür sind Anoden mit einem besonders hohen Silizium-Anteil: Im EQS bestehen die Anoden noch aus Graphit.
Die Batterie ist so effizient, dass sie auch nur durch den Fahrtwind gekühlt werden muss und keinen eigenen Kühlkreislauf benötigt. „Das Technologieprogramm, das hinter dem Vision EQXX steht, wird zukünftige Modelle und Fahrzeugfunktionen von Mercedes-Benz neu definieren und ermöglichen“, unterstreicht Mercedes-Entwicklungsvorstand Markus Schäfer. Wir sind also gespannt auf den nächsten EQA – oder wie der Serien-Stromer auch heißen mag.