Wer wünscht sich im Feierabendverkehr nicht manchmal, einfach über den Stau hinweg zu schweben und dann von oben auf die anderen hinunterzuschauen? Aber bitte nicht wie in Berlin oder Hamburg in der ratternden Hochbahn mit Dutzenden anderen! Sondern bequem, allein und möglichst bis vor die Haustür. Das ist in etwa das Fahrerlebnis, das Ottobahn im Wortsinn vorschwebt.
„Wir entwickeln eine Transportlösung für Menschen und Güter, die sich in der dritten Dimension bewegt, über dem heutigen Verkehr“, sagt Marc Schindler, der Geschäftsführer des Münchener Startups. Er hat früher für Audi in Ingolstadt und Tesla in Fremont gearbeitet und will mit dem System in neue Sphären vorstoßen. „Damit beansprucht und erobert es einen Raum für sich, der heute noch frei ist und Kapazitäten für den Nahverkehr bietet.“ Das Schienensystem soll schließlich die ganze Stadt überziehen und bis in jede Straße hineinreichen. Wo heute noch Autos fahren, sollen Gondeln schweben. Die Straßen selbst sollen weitgehend zurück gebaut und durch Grünflächen ersetzt werden.
Mehr Schwebe- als Seilbahn
Allein oder mit drei weiteren Mitreisenden wird der Fahrgast in einer Kabine Platz nehmen, die er zuvor über eine App gerufen hat. Sie kommt auf einer auf Pfeilern stehenden Trasse angeschwebt, hält direkt vor der Person oder der Gruppe an und sinkt dann zu Boden. Die Tür öffnet sich: Einsteigen, bitte! Dann geht die Fahrt los und endet vor der eigenen Haustür – zumindest in der Endausbaustufe. Und das alles gibt es für wenig Geld, möglicherweise sogar kostenlos.
Auf den ersten Blick sieht das, was das Münchener Startup plant, wie eine Seilbahn aus. Es sei aber keine, betont Schindler. Die Ottobahn ist nicht seilgeführt, sondern wird von einem schienengebundenen System angetrieben. Als Hängebahn ähnele sie der Schwebebahn in Wuppertal. Aber noch mehr hat sie mit einem konventionellen Zug gemeinsam.
Die Antriebseinheit einer Kabine besteht aus einem Fahrwerk mit vier Achsen. Aus Gründen der Redundanz gibt es jeweils zwei angetriebene Achsen, zwei dienen als Führungsachsen. An jeder Antriebsachse sitzt ein 1,2 Kilowatt starker Motor. Jeder Motor wird von einem Akku mit Strom versorgt. Beim aktuellen Prototyp, der bei Ottobahn im Büro unter der Decke hängt, sind es zwei 48-Volt-Fahrradakkus. Die regulären Kabinen werden größere Akkus haben.
In der Stadt sollen damit Fahrgeschwindigkeiten von bis zu 60 km/h möglich sein. Dennoch soll das System sehr energieeffizient und damit auch besonders umweltfreundlich sein. Da es keine Schadstoffe emittiert, ist es per se schon umweltfreundlicher als der Autoverkehr.
Die Ottobahn ist ein konventionelles Rad-Schiene-System: Die Räder haben einen Spurkranz, die Antriebsräder sind mit einem Kunststoff für mehr Grip beim Beschleunigen und Bremsen beschichtet. Die Spurbreite beträgt 60 Zentimeter, die Räder haben einen Durchmesser von gerade mal 30 Zentimetern. Die Rad-Schiene-Technik ist bewährte und zugelassene Technik. Zudem sei sie „unschlagbar energieeffizient“, sagt Schindler: Die Haftreibung beträgt etwa ein Zehntel der eines Autos. Die Kabine brauche rund 1,8 Kilowattstunden auf 100 Kilometer – in der Tat etwa ein Zehntel dessen, was zum Beispiel ein Renault Zoe an Energie braucht.
Per Aufzug zum Fahrgast am Boden
Der große Unterschied zum konventionellen Zug ist, dass die Schienen nicht auf dem Boden liegen. Sie hängen stattdessen in der Luft, etwa zehn Meter über dem Straßenniveau. Die Trasse soll aber deutlich filigraner werden als die Schwebebahn oder die Hochbahnen in Berlin oder Hamburg: Etwa alle 20 Meter steht ein rund 60 Zentimeter dicker Mast, an dem die Schienen aufgehängt sind.
Die Gleise sollen überdacht werden, was unter anderem dem Lärmschutz dient. Das Dach wiederum soll mit Solarzellen ausgelegt werden, die aus Sonnenlicht den Strom generieren sollen, den das System braucht. Der Rest soll begrünt werden, damit das System weniger auffällt. Teile der Trasse könnten möglicherweise auch begehbar gemacht werden – nach dem Vorbild des High Line Park in New York.
Dedizierte Haltestellen vergleichbar mit den Bahnhöfen der Hochbahnen wird die Ottobahn nicht haben: Sie soll dort halten, wo die Fahrgäste aussteigen wollen. Stellt sich die Frage, wie sie aus mehreren Metern Höhe sicher auf den Boden gelangen.
Abspringen müssen die Passagiere jedenfalls nicht: Die Kabine ist mit einem Aufzugmechanismus ausgestattet, der sie sanft auf den Boden herablässt. Sensoren achten darauf, dass sich unter der Kabine kein Hindernis befindet, dass kein Mensch oder Tier darunter steht. Eine Tür schwingt auf, und der Fahrgast oder die Gruppe kann aussteigen.
Der elektrische Antrieb für den Aufzug ist auf dem Fahrgestell montiert. Beim Herunterfahren der Kabine werde ein Teil der Energie rekuperiert und anschließend wieder zum Hochziehen genutzt, sagt Schindler. Damit die Kabinen auch bei Wind bequem genutzt werden könnten, sei es möglich, an den Masten Schienen anzubringen, die verhinderten, dass die Kabine beim Ablassen schwinge.
Angenehmes Kurvenverhalten
Auf die Fahrt selbst soll das Wetter jedenfalls relativ wenig Einfluss haben: Die Abdeckung ist weit genug nach unten gezogen, um die Kabine vor Wind zu schützen, so dass die Ottobahn erst ihren Betrieb bei starkem Sturm einstellen müsste. Im Betrieb habe die schwebende Kabine sogar einen Vorteil gegenüber einem fahrenden Verkehrsmittel, berichtet Schindler. Sie pendle leicht in der Kurve, so dass der Fahrgast nicht wie im Auto oder Zug in einer Kurve zur Seite gedrückt werde, sondern ganz sanft senkrecht in den Sitz – kaum spürbar.
Eine Kabine hat eine Grundfläche von 1,8 Meter mal 1,4 Meter. Die Höhe beträgt etwa zwei Meter. Es soll sie mit verschiedenen Layouts geben: In der privaten Luxusvariante fährt der Fahrgast allein und kann sich unterwegs mit diversen Infotainmentsystemen die Zeit vertreiben.
Natürlich lassen sich auch Profile hinterlegen, so dass der Fahrgast beim Einsteigen von seiner bevorzugten Musik empfangen wird und auf dem Bildschirm seinen personalisierten Nachrichten-Feed lesen kann. Ottobahn denkt auch an Zusatzdienste, etwa dass die Fahrgäste sich in ihre Kabine etwas zu essen, zu trinken oder ihre Einkäufe bestellen können.
In die Kabine passen zwei Paletten
Etwas weniger aufwendig mit Elektronik ist die Gruppenkabine ausgestattet: Hier werden sich vier Personen auf zwei Bänken gegenübersitzen. Dabei sollen sie etwas mehr Beinfreiheit haben als im Zug. Variante drei schließlich ist für den Gütertransport gedacht. Die Fläche reicht aus, um zwei Paletten nebeneinander in die Kabine zu stellen.
Wie bei der Schienentechnik setzt Ottobahn auch bei anderen Komponenten ihres Systems auf vorhandene Technik: Der Ablassmechanismus wird gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund entwickelt, das Fahrwerk kommt von Transtec Vetschau im Spreewald. Die Türentwicklung erfolgt zusammen mit Ife Doors, einer Tochter des Münchener Unternehmens Knorr Bremse. Die Gleisträger sollen vom Unternehmen Fuchs Europoles aus Neumarkt in der Oberpfalz kommen.
Und wo kommt die Bahn zum Einsatz? Das erfahren Sie im nächsten Teil.